Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für FA; Behandlung des Geschäftswerts bei GmbH-Bargründung
Leitsatz (NV)
1. Dem FA ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn die ihm zugestellte Entscheidung auf dem Weg von der Posteingangsstelle bis zum Vorsteherzimmer verlorengeht und ein Überwachungs- oder Organisationsverschulden auszuschließen ist.
2. Bei Veräußerung eines Einzelunternehmens an eine zuvor bar gegründete GmbH (Einzelunternehmer Gesellschafter) sind die stillen Reserven im Geschäftswert aufzudecken (Anschluß an BFH-Urteil vom 24. 3. 1987 I R 203/83, BFHE 149, 542, BStBl II 1987, 705).
Normenkette
FGO § 56 Abs. 1; EStG § 16 Abs. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betrieb ein Einzelunternehmen. Er errichtete im März 1977 durch Bargründung die . . .-GmbH (GmbH). Er veräußerte mit Vertrag vom 1. April 1977 den wesentlichen Teil seines Betriebsvermögens an die GmbH; lediglich das Bankguthaben und die Darlehensforderungen überführte er in sein Privatvermögen und überließ sie der GmbH darlehensweise. Der Kaufpreis betrug 600 000 DM. Hierin war ein Betrag von 11 700 DM für die Überlassung des Geschäftswerts enthalten. Zwischen den Beteiligten besteht Übereinstimmung darin, daß der tatsächliche Wert des Geschäftswerts 350 000 DM betrug und im übrigen die Kaufpreise für die überlassenen Wirtschaftsgüter angemessen waren.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Betriebsfinanzamt - FA -) erhöhte den Veräußerungsgewinn nach einer Betriebsprüfung um 338 300 DM (350 000 DM ./. 11 700 DM). Er stellte für 1977 einen Gewinn von . . . DM fest - darunter einen tarifbegünstigten Veräußerungsgewinn von . . . DM -. Der Einspruch blieb erfolglos. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage unter Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 29. Januar 1975 I R 135/70 (BFHE 115, 107, BStBl II 1975, 553) statt. Es ermäßigte die Einkünfte aus Gewerbebetrieb, allerdings mit der Maßgabe, daß der Gewinn auch nicht teilweise tarifbegünstigter Veräußerungsgewinn ist. Der erkennende Senat hat mit Beschluß vom 25. April 1988 X B 151/87 die Revision gegen das FG-Urteil zugelassen; der Beschluß wurde dem FA am 4. Mai 1988 zugestellt.
Das FA hat mit zwei gleichlautenden Schriftsätzen vom 16. und 15. August 1988 - eingegangen bei dem FG am 16. und 17. August 1988 - Revision eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Es macht geltend: Die Fristversäumnis sei ohne sein Verschulden eingetreten. Erst aus dem Kostenbeschluß des erkennenden Senats vom 12. Juli 1988 X B 151/87, der ihm am 2. August 1988 zugegangen sei, habe es von der Zulassung erfahren. Der Zulassungsbeschluß selbst sei nach der Zustellung im amtsinternen Betrieb nicht bis zu dem Vorsteher gelangt. Das Schriftstück müsse auf dem Wege von der Posteingangsstelle bis zum Vorsteherzimmer verlorengegangen sein, möglicherweise durch Hineinrutschen in ein anderes Aktenstück. Dieser Verlust sei ihm nicht anzulasten. Sachlich werde unter Bezugnahme auf das BFH-Urteil vom 24. März 1987 I R 202/83 (BFHE 149, 542, BStBl II 1987, 705) geltend gemacht, daß der Geschäftswert-Differenzbetrag als verdeckte Einlage den Veräußerungsgewinn erhöhe.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig.
Der Senat wertet die unmittelbar an den BFH gerichtete Revisionsschrift vom 15. August 1988, die das FG am 17. August 1988 erreichte, nicht als eine zweite Revision, sondern als Wiederholung und Bestätigung des einen Tag früher bei dem FG eingegangenen Revisionsschriftsatzes. Die Revision ist allerdings verspätet eingegangen. Die Revisionsfrist (§ 120 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) war am 6. Juni 1988 abgelaufen. Dem FA ist jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil es ohne Verschulden gehindert war, die Revisionsfrist einzuhalten (§ 56 Abs. 1 FGO).
Dem FA ist regelmäßig nach denselben Grundsätzen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren wie einem durch einen Rechtsanwalt oder Steuerberater vertretenen Steuerpflichtigen (BFH-Beschluß vom 9. April 1987 V B 111/86, BFHE 149, 146, BStBl II 1987, 441; Gräber / Koch, Finanzgerichtsordnung, § 56 Anm. 37). Zu den Pflichten eines Rechtsanwalts oder Steuerberaters gehört es, eingehende Fristenpost sorgfältig zu behandeln (Beschluß des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 23. Oktober 1980 VII ZB 19/80, Versicherungsrecht - VersR - 1981, 79). Gleichermaßen muß ein FA mit eingehender Fristenpost verfahren.
Der Senat hält das Vorbringen des Vorstehers des FA für glaubhaft, es sei auszuschließen, daß ihm der Zulassungsbeschluß am Zustellungstag, dem 4. Mai 1988, vorgelegt wurde. Hieraus ist zu folgern, daß der Beschluß, der auch anderen entscheidungsbefugten Amtsträgern nicht zuging, auf dem Wege von der Posteingangsstelle zu dem Vorsteher verlorenging. Das FA hat glaubhaft dargelegt, daß es die Bediensteten, die am 4. Mai 1988 mit Postempfang und -verteilung befaßt waren, sorgfältig für diese Aufgabe ausgewählt und sie durch den Geschäftsstellenleiter hat überwachen lassen. Ein organisatorischer Mangel ist nicht zu erkennen.
Es bestanden folgende Anordnungen, die den Anforderungen des § 56 Abs. 1 FGO an eine sorgfältige Behandlung eingehender Fristenpost entsprechen: Förmlich zugestellte Sendungen waren vom zuständigen Bediensteten der Posteingangsstelle zu öffnen und getrennt von der anderen Post in einer Ablegeschale zu sammeln (s. auch § 12 Abs. 8 der Geschäftsordnung für die Finanzämter vom 2. Dezember 1985, BStBl I 1985, 685). Diese Sendungen waren gesondert an die Postverteilungsstelle weiterzuleiten. Hier waren Gerichtsschreiben in die Sachgebietsmappe der Rechtsbehelfsstelle zu legen. Die Sachgebietsmappen waren dem Vorsteher vorzulegen. Es braucht nicht auf das Vorbringen des Klägers eingegangen zu werden, das FA habe keinen ordnungsmäßigen Fristenkalender geführt. Der Fristenkalender wurde in der Rechtsbehelfsstelle geführt, die der zugestellte Beschluß nicht erreicht hat. Nicht sachgerecht wäre es, den oder einen weiteren Fristenkalender schon in der Posteingangsstelle führen zu lassen; denn den Bediensteten der Posteingangsstelle sind die Fristabläufe nicht bekannt.
Die Revision ist auch begründet.
Der I. Senat des BFH hat nach Ergehen der Vorentscheidung - unter Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung - entschieden, daß bei einem Verkauf eines Einzelunternehmens an eine zuvor bar gegründete GmbH der Übergang des Geschäftswerts Gegenstand einer verdeckten Einlage sein kann und in diesem Fall die in dem eingelegten Geschäftswert enthaltenen stillen Reserven von dem Einzelunternehmer-Gesellschafter gemäß § 16 Abs. 3 Sätze 1 und 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu versteuern sind (BFHE 149, 542, BStBl II 1987, 705). Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an. Danach hat das FA zu Recht die stillen Reserven im Geschäftswert, soweit sie den vereinbarten Veräußerungspreis von 11 700 DM überstiegen, gemäß § 16 EStG zur Besteuerung herangezogen.
Die Vorentscheidung ist aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Unter den Beteiligten besteht Einvernehmen darüber, daß der Geschäftswert im Zeitpunkt der Veräußerung 350 000 DM betrug. Das FG hat den Wert nicht beanstandet. Der Senat sieht keinen Anlaß, die einvernehmliche Wertberechnung in Zweifel zu ziehen.
Fundstellen
Haufe-Index 416585 |
BFH/NV 1990, 289 |