Leitsatz (amtlich)
1. Die Fristbestimmung in § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV i. d. F. vom 16. März 1971 ist rechtsunwirksam. Es bleibt daher auch in diesen Fällen die in § 4 Abs. 5 Satz 1 JAV gesetzte Frist maßgebend.
2. Wurde ein Antrag auf gemeinsamen Lohnsteuer-Jahresausgleich für 1971 nach dem 30. April 1972, aber spätestens am 30. September 1972 beim FA eingereicht, ist wegen Versäumung der in § 4 Abs. 5 Satz 1 JAV gesetzten Ausschlußfrist Nachsicht zu gewähren, ohne daß es dazu der Geltendmachung besonderer Nachsichtsgründe bedarf.
Normenkette
AO § 86; JAV 1956 § 4 Abs. 4 S. 2; JAV 1958 § 4 Abs. 4 S. 3; JAV 1971 § 4 Abs. 5 Sätze 1-2
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) wurde für das Jahr 1970 mit seiner Ehefrau zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Für das Jahr 1971 wurde den Eheleuten ein Einkommensteuererklärungsvordruck zugesandt. Die Einkommensteuererklärung ging am 6. Juni 1972 beim Beklagten und Revisionskläger (FA) ein. Da die Voraussetzungen für eine Einkommensteuerveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a EStG 1971 nicht gegeben waren, sah das FA die Einkommensteuererklärung als Antrag auf gemeinsamen Lohnsteuer-Jahresausgleich an. Es lehnte die Durchführung des Lohnsteuer-Jahresausgleichs aber wegen Versäumung der Antragsfrist des § 4 Abs. 5 Satz 2 der Verordnung über den Lohnsteuer-Jahresausgleich (JAV) ab. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.
Das FG gab der Klage statt. Es führte in dem in den Entscheidungen der Finanzgerichte 1974 S. 443 (EFG 1974, 443) veröffentlichten Urteil aus: Die Antragsfrist in § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV sei vom Verordnungsgeber als Ausschlußfrist gestaltet worden (vgl. Urteile des BFH vom 24. Januar 1969 VI R 43/67, BFHE 94, 529, BStBl II 1969, 250, und vom 13. August 1971 VI R 175/68, BFHE 103, 161, BStBl II 1972, 41). Der BFH sei in diesen Urteilen stillschweigend von der Rechtswirksamkeit der Fristbestimmung in § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV ausgegangen. Nach dem Urteil des VIII. Senats des BFH vom 3. April 1973 VIII R 19/73 (BFHE 109, 130, BStBl II 1973, 484) zur Fristbestimmung in § 71 Abs. 2 EStDV könne diese Auffassung nicht aufrechterhalten werden. Der Verordnungsgeber habe § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV nicht so eindeutig gefaßt, daß nach seinem Wortlaut das Ende der Ausschlußfrist eindeutig und klar erkennbar sei. Durch die Verweisung auf den Ablauf der Frist für die Abgabe der Einkommensteuererklärung habe er ebensowenig einen eindeutigen, kalendermäßig bestimmten oder bestimmbaren Zeitpunkt für den Fristablauf gesetzt wie in § 71 Abs. 2 EStDV. § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV verweise nicht auf § 167 Abs. 3 AO, nach dem die Frist zur Abgabe von Steuererklärungen mit dem Monat Februar des Folgejahres ablaufe. Das ergebe sich aus § 4 Abs. 5 Satz 1 JAV, nach dem die normale "nicht verlängerte" Frist für den Lohnsteuer-Jahresausgleich erst am 30. April des Folgejahres ende. Die Verweisung in § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV könne sich daher nur auf die von den obersten Finanzbehörden der Länder gem. § 56 Abs. 3 EStDV alljährlich festzusetzenden Fristen zur Abgabe von Einkommensteuererklärungen beziehen. Nach dem BFH-Urteil VI R 175/68 knüpfe § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV an die allgemeine Frist für die Abgabe der Einkommensteuererklärung an und nicht an die den Angehörigen der steuerberatenden Berufe allgemein gewährte Fristverlängerung zur Abgabe von Einkommensteuererklärungen. Der Umstand, daß damals viele Finanzgerichte anderer Auffassung gewesen seien, zeige, wie unklar die Regelung in § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV sei. Es sei insbesondere zu berücksichtigen, daß bei Entstehung des Lohnsteuererstattungsanspruchs mit Ablauf des Ausgleichsjahres das Ende der Frist zur Beantragung des gemeinsamen Lohnsteuer-Jahresausgleichs noch nicht feststehe. Für das Streitjahr sei die Frist am 20. April 1972 (vgl. BStBl I 1972, 192) und für das Jahr 1973 am 10. April 1974 (vgl. BStBl I 1974, 211), also erst wenige Wochen vor Ablauf der Frist, festgesetzt worden. Das sei mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar.
Mit der wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision beantragt das FA, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen; hilfsweise, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache an das FG zurückzuverweisen. Es rügt die Verletzung des § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV und führt aus: Die Entscheidung des Streitfalls könne nicht auf das Urteil des BFH VIII R 19/73 gestützt werden. Bei § 71 Abs. 2 EStDV sei unklar gewesen, wie der Wortlaut "kann der Antrag auf Veranlagung nur bis zum Ablauf der Steuererklärungsfrist gestellt werden" auszulegen gewesen sei. § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV enthalte zwar ebenfalls keinen kalendermäßig bestimmten Zeitpunkt für den Ablauf der Frist für die Beantragung des gemeinsamen Lohnsteuer-Jahresausgleichs. Das Ende der Frist sei aber zuverlässig und ohne unzumutbaren Aufwand zu ermitteln. § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV beziehe sich auf § 56 Abs. 3 Satz 1 EStDV. Der BFH habe im Urteil VI R 43/67 geklärt, daß § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV die allgemeine Frist für die Abgabe der Einkommensteuererklärung meine. Dieser Zeitpunkt werde jährlich in der Tagespresse veröffentlicht. Es bestehe eine langjährige Übung der Finanzbehörden, den Ablauf der allgemeinen Steuererklärungstrist auf den 31. Mai des Folgejahres festzusetzen. Davon werde sie ohne triftigen Grund und ohne rechtzeitige und deutliche Hinweise nicht abgehen. Nach dem BFH-Urteil vom 24. April 1961 VI 299/60 (HFR 1962, 111) sei weder aus dem Wesen noch aus der Bedeutung einer Ausschlußfrist zu entnehmen, daß eine solche Frist nur durch ein Gesetz bestimmt werden müsse.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Der Gesetzgeber hat in § 42 Abs. 2 Nr. 3 EStG 1969 die Bundesregierung ermächtigt, mit Zustimmung des Bundesrats bei der Regelung des Verfahrens zur Durchführung des Lohnsteuer-Jahresausgleichs im Rahmen einer Rechtsverordnung zu bestimmen, daß der Lohnsteuer-Jahresausgleich nur innerhalb einer bestimmten Frist beantragt werden kann. Von dieser Ermächtigung hat der Verordnungsgeber in § 4 Abs. 5 JAV Gebrauch gemacht, indem er in Satz 1 anordnete, der Antrag eines Arbeitnehmers auf Lohnsteuer-Jahresausgleich sei spätestens bis zum 30. April des dem Ausgleichsjahr folgenden Jahres einzureichen, während sich nach Satz 2 dieser Vorschrift die Frist für den gemeinsamen und gesonderten Lohnsteuer-Jahresausgleich von Ehegatten in den Fällen des § 7a und des § 5 Abs. 2 Nr. 3 JAV "bis zum Ablauf der Frist für die Abgabe der Einkommensteuer-Erklärung für das Ausgleichsjahr" verlängern sollte. Der Senat hat beide Fristen stets als Ausschlußfristen angesehen, bei deren Versäumung ggf. nach § 4 Abs. 5 Satz 3 JAV i. V. mit § 86 AO Nachsicht gewährt werden kann (vgl. z. B. Urteil des Senats vom 13. August 1971 VI R 175/68, BFHE 103, 161, BStBl II 1972, 41). Der Senat hat in dem Urteil vom 26. November 1974 VI R 104/72 (BFHE 114, 221, BStBl II 1975, 307) die Fristbestimmung in § 4 Abs. 5 Satz 1 JAV als rechtswirksam angesehen. Im vorliegenden Streitfall geht es nunmehr um die Fristbestimmung in § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV. Sie hat das FG zu Recht für unwirksam erachtet.
Wie der VIII. Senat zur Unwirksamkeit der Fristbestimmung in § 71 Abs. 2 EStDV im Urteil VIII R 19/73 ausgeführt hat, sind Fristvorschriften als formale Ordnungsvorschriften jus strictum; sie dienen allein der Rechtssicherheit. Fristen müssen daher aus dem Gesetzestext eindeutig und klar erkennbar sein. Es darf keine auf den Sinn und den Zusammenhang der Vorschrift aufbauende Auslegung erforderlich sein. Das gilt im besonderen Maße für die Festsetzung von Ausschlußfristen, bei deren Nichtbeachtung erhebliche materielle Rechtsverluste eintreten können. Der erkennende Senat hat deshalb bereits in dem Urteil vom 23. Juli 1974 VI R 1/72 (BFHE 113, 355, BStBl II 1975, 11) die Fristbestimmung in § 71 Abs. 1 EStDV für unwirksam erklärt.
Die Fristsetzung für den gemeinsamen und gesonderten Lohnsteuer-Jahresausgleich in § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV entspricht ebenfalls nicht diesen Anforderungen. Der Verordnungsgeber hat von der Ermächtigung des § 42 Abs. 2 Nr. 3 EStG nur unzulänglich Gebrauch gemacht; denn die Frist ist in § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV weder bestimmt noch läßt sie sich auf einen bestimmten Tag festlegen. Es ist aus dem Wortlaut der Vorschrift, die Frist verlängere sich "bis zum Ablauf der Frist für die Abgabe der Einkommensteuererklärung für das Ausgleichsjahr" nicht ohne weiteres erkennbar, ob damit die allgemeine Frist zur Abgabe von Steuererklärungen in § 167 Abs. 3 AO (bis Ende Februar des Folgejahres), die gemäß § 56 Abs. 3 EStDV jährlich von den obersten Finanzbehörden der Länder mit Zustimmung des BdF bestimmte allgemeine Frist zur Abgabe von Erklärungen (bisher jährlich jeweils festgesetzt auf den 31. Mai des Folgejahres), die in denselben Erlassen generell (bisher jeweils bis zum 30. September des Folgejahres) gewährte Fristverlängerung für die Angehörigen der steuerberatenden Berufe oder gemäß der früheren Rechtsprechung zu § 71 EStDV (vgl. die im Urteil VIII R 19/73 erwähnten Entscheidungen) der Zeitpunkt gemeint ist, in dem der Großteil der Steuererklärungen bei den Finanzämtern eingegangen ist.
Der Verordnungsgeber hat damit, daß er auf Verwaltungsanweisungen zur Abgabe von Einkommensteuererklärungen Bezug nahm, seine ihm in § 42 Abs. 2 Nr. 3 EStG 1969 auferlegte Pflicht, eine "bestimmte" Frist für den Lohnsteuer-Jahresausgleich festzulegen, in § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV nicht erfüllt. Das hat offensichtlich auch der Gesetzgeber erkannt; denn es ist in § 42a Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 42 Abs. 2 Satz 3 EStG 1975 (BGBl I 1974, 2165, BStBl I 1974, 733) die Frist für den Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich künftig einheitlich für alle Arbeitnehmer ausdrücklich auf den 31. Mai des dem Ausgleichsjahr folgenden Kalenderjahres festgelegt worden.
Für das Streitjahr 1972 hat die Unwirksamkeit der Fristbestimmung in § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV nicht zur Folge, daß für den gemeinsamen und getrennten Antrag von Ehegatten auf Lohnsteuer-Jahresausgleich i. S. des § 7a und § 5 Abs. 2 Nr. 3 JAV keine Antragsfrist gilt. Ist, wie dargelegt, die Fristbestimmung in § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV als lex spezialis unwirksam, so gilt für den Antrag von Ehegatten auf gemeinsamen oder getrennten Lohnsteuer-Jahresausgleich die Fristbestimmung in § 4 Abs. 5 Satz 1 JAV zum 30. April des Folgejahres als lex generalis. Die Eigenschaft der Fristbestimmung in Satz 2 als Sondervorschrift des Satzes 1 ergibt sich schon aus dem Text des Satzes 2, der mit den Worten beginnt: "Die Frist verlängert sich ....". Sie wird im übrigen durch die historische Entwicklung dieser Bestimmung bestätigt. Die in § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV i. d. F. vom 16. März 1971 enthaltene Fristbestimmung wurde erstmals durch die Verordnung zur Änderung und Ergänzung der Verordnung über den Lohnsteuer-Jahresausgleich und den Notopfer-Jahresausgleich vom 26. März 1958 (BGBl I 1958, 192, BStBl I 1958, 169) in die Verordnung über den Lohnsteuer-Jahresausgleich vom 26. März 1958 als § 4 Abs. 4 Satz 3 mit den Worten eingefügt: "Die Frist verlängert sich im Fall des § 1 Abs. 2 Nr. 9 (§ 4 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d) bis zum Ablauf der Frist für die Abgabe der Einkommensteuererklärung für das Ausgleichsjahr." Bis zu diesem Zeitpunkt mußte der Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich von allen Arbeitnehmern bis zum 30. April des dem Ausgleichsjahr folgenden Kalenderjahres eingereicht werden (vgl. § 4 Abs. 4 Satz 2 JAV i. d. F. vom 6. Januar 1956).
Für Ehegatten, die im Vertrauen auf die Rechtsgültigkeit des § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV mit ihrem Antrag auf gemeinsamen oder getrennten Lohnsteuer-Jahresausgleich 1971 bis zum 31. Mai des auf das Ausgleichsjahr folgenden Kalenderjahres gewartet haben, ergibt sich durch diese Gesetzesauslegung eine Schlechterstellung, da Anträge auf Lohnsteuer-Jahresausgleich, die nach dem 30. April, aber vor dem 31. Mai des Folgejahres beim FA eingegangen sind, nunmehr als verspätet anzusehen sind. Das widerspricht der Absicht des Verordnungsgebers, der durch die besondere Frist für den Antrag auf gemeinsamen Lohnsteuer-Jahresausgleich nach der amtlichen Begründung zur Änderung der Verordnung über den Lohnsteuer-Jahresausgleich vom 26. März 1968 sicherstellen wollte, daß Ehegatten sich bis zum Ablauf der Steuererklärungsfrist entscheiden konnten, ob sie eine getrennte Veranlagung zur Einkommensteuer wählen oder den gemeinsamen Lohnsteuer-Jahresausgleich beantragen wollen (vgl. Bundesrats-Drucksache 300/58). Im Hinblick auf diese Absicht des Verordnungsgebers und wegen des Anspruchs der Arbeitnehmer auf Schutz des Vertrauens auf die Rechtswirksamkeit von Fristbestimmungen in ordnungsgemäß verkündete Rechtsverordnungen hält es der Senat für geboten, Ehegatten bei verspäteter Beantragung des gemeinsamen und getrennten Lohnsteuer-Jahresausgleichs 1971 i. S. des § 7a und § 5 Abs. 2 Nr. 3 JAV großzügig Nachsicht nach § 4 Abs. 5 Satz 3 JAV i. V. m. § 86 AO zu gewähren. Angesichts der nach dem Wortlaut des § 4 Abs. 5 Satz 2 JAV unsicheren Fristbestimmung geht der Senat ganz allgemein davon aus, daß die Antragsfrist für den gemeinsamen oder den getrennten Lohnsteuer-Jahresausgleich von Ehegatten nicht schuldhaft versäumt wurde, wenn der Antrag innerhalb der von der Finanzverwaltung für die Abgabe von Einkommensteuererklärungen für Angehörige der steuerberatenden Berufe jährlich gesetzten Frist, d. h. also bis zum 30. September des auf das Ausgleichsjahr folgenden Jahres, beim FA eingegangen ist.
Da die Kläger im Streitfall ihren Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich am 6. Juni 1972 beim FA gestellt hatten, ist ihnen Nachsicht zu gewähren. Das FG hat das FA daher im Ergebnis zu Recht verpflichtet, den gemeinsamen Lohnsteuer-Jahresausgleich 1971 für die Kläger durchzuführen.
Fundstellen
Haufe-Index 71282 |
BStBl II 1975, 309 |
BFHE 1975, 217 |