Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung des rechtlichen Gehörs durch Überraschungsurteil
Leitsatz (amtlich)
Es verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozeßbeteiligter – selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen – nach dem bisherigen Prozeßverlauf nicht zu rechnen brauchte.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Osnabrück (Urteil vom 07.11.1990; Aktenzeichen 1 S 236/90) |
Tenor
Das Urteil des Landgerichts Osnabrück vom 7. November 1990 – 1 S 236/90 – verletzt Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.
Das Land Niedersachsen hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich dagegen, daß in einem Zivilprozeß eine Forderung als nicht ausreichend substantiiert erachtet worden ist.
I.
1. Die Beschwerdeführer hatten ein Grundstück mit Haus und Garten gemietet und dieses im Jahre 1987 auf ihre Kosten im Einverständnis der Vermieterin mit einem Maschendrahtzaun einschließlich zweier Toranlagen für 8.853,22 DM einfrieden lassen. Nach Beendigung des Mietverhältnisses wollten sie 1990 den Zaun entfernen, da Verhandlungen mit der Vermieterin wegen seiner Übernahme gegen Zahlung eines Betrages ergebnislos geblieben waren. Diese untersagte den Abbau des Zaunes und drohte andernfalls mit Strafanzeige und Schadensersatzansprüchen. Daraufhin räumten die Beschwerdeführer ohne Mitnahme des Zaunes und rechneten in einem sich anschließenden Prozeß gegenüber unstreitig rückständigen Mietzinsen mit einer Forderung in Höhe des Zeitwertes des Zaunes auf, den sie mit mindestens 5.500 DM bezifferten. Die Vermieterin gestand allenfalls 1.000 DM bis 1.200 DM zu. Beide Parteien traten für den von ihnen behaupteten Wert des Zaunes Beweis durch Sachverständigengutachten an.
Das Landgericht versagte den Beschwerdeführern einen Schadensersatzanspruch, weil sie den Schaden der Höhe nach nicht substantiiert vorgetragen hätten. Es sei nicht dargelegt, um welche Art Zaun es sich handeln solle; die Parteien erwähnten lediglich einen Maschendrahtzaun. Offen bleibe jedoch, wie hoch dieser sei, ob er kunststoffbeschichtet sei und um welche Toranlagen es sich handele. Dies sei auch der (von den Beschwerdeführern vorgelegten) Rechnung über die Erstellung des Zaunes nicht zu entnehmen.
2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Landgericht hätte den von ihnen angebotenen Beweis über den Zeitwert des Zaunes erheben müssen. Näherer Substantiierung des Schadens hätte es nicht bedurft. Auf jeden Fall hätten sie darauf hingewiesen werden müssen, daß die Forderung nach Meinung des Landgerichts unzureichend substantiiert war.
3. Das Niedersächsische Justizministerium hält Art. 103 Abs. 1 GG nicht für verletzt. Ein Verstoß folge jedenfalls nicht daraus, daß das Landgericht den Vortrag der Beschwerdeführer zum Zeitwert des Zaunes nicht ausdrücklich beschieden habe. Allenfalls könnte gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen worden sein, weil lediglich über den Wert des Zaunes, nicht aber über dessen Beschaffenheit gestritten worden sei.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Urteil des Landgerichts verletzt die Beschwerdeführer in ihren Rechten aus Art. 103 Abs. 1 GG.
1. Der im Grundgesetz verankerte Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das Gebiet des gerichtlichen Verfahrens (vgl. BVerfGE 74, 1 ≪5≫; 74, 220 ≪224≫). Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des gerichtlichen Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Worte kommen, um Einfluß auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (vgl. BVerfGE 7, 275 ≪279≫; 55, 1 ≪6≫; 57, 250 ≪275≫). Art. 103 Abs. 1 GG garantiert den Beteiligten an einem gerichtlichen Verfahren daher, daß sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlaß der Entscheidung zu äußern (vgl. BVerfGE 1, 418 ≪429≫; st. Rspr.). An einer solchen Gelegenheit fehlt es nicht erst dann, wenn ein Beteiligter gar nicht zu Wort gekommen ist oder wenn das Gericht seiner Entscheidung Tatsachen zugrunde legt, zu denen die Beteiligten nicht Stellung nehmen konnten (vgl. BVerfGE 10, 177 ≪182 f.≫; 19, 32 ≪36≫; st. Rspr.). Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt auch voraus, daß der Verfahrensbeteiligte bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann. Art. 103 Abs. 1 GG verlangt zwar grundsätzlich nicht, daß das Gericht vor der Entscheidung auf seine Rechtsauffassung hinweist (vgl. BVerfGE 74, 1 ≪6≫); ihm ist auch keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Richters zu entnehmen (vgl. BVerfGE 66, 116 ≪147≫). Es kommt jedoch im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags gleich, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozeßbeteiligter – selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen – nach dem bisherigen Prozeßverlauf nicht zu rechnen brauchte.
2. So liegt es im Ausgangsfall. Die Auffassung des Landgerichts, es habe an der erforderlichen Substantiierung gefehlt, war für die Beschwerdeführer in keiner Weise voraussehbar. Das Gericht hätte den Beschwerdeführern deswegen zu erkennen geben müssen, daß es ihre zur Aufrechnung gestellte Forderung nicht für hinreichend substantiiert hielt. Dann hätten diese Gelegenheit gehabt, sich auch insoweit das rechtliche Gehör zu verschaffen.
Die Einzäunung des vermieteten Grundstücks für 8.853,22 DM war zwischen den Parteien unstreitig. Über Art und Umfang der Zaunanlage herrschte zwischen ihnen Einigkeit. Unterschiedliche Auffassungen bestanden lediglich über den Zeitwert des Zaunes im Zeitpunkt der Räumung des Grundstücks durch die Beschwerdeführer. Dazu hatten sich beide Parteien auf Sachverständigengutachten bezogen. Die Beschwerdeführer konnten erwarten, daß das Gericht diesen Beweis erheben würde. Sie brauchten nicht damit zu rechnen, daß es nähere Angaben über die Beschaffenheit des Zaunes – ob er beschichtet war, welche Höhe er hatte und welche Toranlagen vorhanden waren – für erforderlich halten würde. Ein solcher Sachvortrag hätte eine Besichtigung des Zaunes durch den Sachverständigen nicht entbehrlich gemacht. In solchen Fällen entspricht es der von der höchstrichterlichen Rechtsprechung gebilligten Praxis, daß der Sachverständige selbst den tatsächlichen Zustand der Sache feststellt, um auf dieser Grundlage sein Gutachten erstatten zu können (vgl. BGHZ 23, 207 ≪214≫; 37, 389 ≪394 ff.≫; BGH, FamRZ 1989, 954 ≪956≫). Wollte das Landgericht von dieser bei den Zivilgerichten üblichen Verfahrensgestaltung abweichen, mußte es den Beschwerdeführern durch einen entsprechenden Hinweis Gelegenheit geben, ihr prozessuales Verhalten hierauf einzurichten. Das ist nicht geschehen.
Fundstellen
BVerfGE, 188 |
NJW 1991, 2823 |
NVwZ 1991, 1173 |