Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtmäßigkeit eines Nacherhebungsbescheids wegen Steuerabzug für beschränkt steuerpflichtigen Vergütungsempfänger
Leitsatz (redaktionell)
1. Mangels Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht zur Entscheidung, ob und unter welchen Voraussetzungen im Einzelnen eine Finanzbehörde von Verfassungs wegen daran gehindert sein kann, ursprünglich vom Vergütungsschuldner trotz gesetzlicher Verpflichtung nicht entrichtete Abzugsteuern (§ 50a EStG 2002) zu einem Zeitpunkt nachzuerheben, in dem bereits feststeht, dass der zum Steuerabzug verpflichtete und vom FA nachträglich in Anspruch genommene Vergütungsschuldner vom Vergütungsgläubiger nicht mehr die Erstattung oder die Abtretung des Erstattungsanspruchs gegen die Bundesrepublik Deutschland erlangen kann (§ 50d EStG 2002). Zweifel an der Nacherhebung der Steuern nach § 167 Abs. 1 Satz 1 AO beim Vergütungsschuldner oder seiner Inhaftungnahme nach § 50a Abs. 5 Satz 5 EStG 2002, § 191 AO können sich vor allem daraus ergeben, dass es nicht nur nach dem ertragsteuerlichen Doppelbesteuerungsabkommen an einem Besteuerungsrecht der Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem Vergütungsgläubiger fehlt. Kann die Steuererhebung trotz fehlender Steuerpflicht des Vergütungsgläubigers unstreitig und definitiv nicht mehr korrigiert werden (hier wegen Liquidation und Löschung der ehemals in den USA gegründeten und ansässigen Vergütungsgläubigerin), fehlt es auch an der für die Steuernacherhebung oder für die Haftung erforderlichen materiellen Belastungsrechtfertigung gegenüber dem Vergütungsschuldner.
2. Es ist eine durch die Fachgerichte zu klärende Frage, ob dem durch eine einschränkende Auslegung der §§ 50a, 50d EStG oder der §§ 167, 191 AO Rechnung getragen werden, oder ob ein Gleichheitsverstoß erst im Billigkeitsverfahren durch eine Billigkeitsmaßnahme gemäß § 163 AO oder § 227 AO vermieden werden kann.
Normenkette
EStG §§ 50a, 50d; AO §§ 167, 191, 163, 227
Verfahrensgang
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Tatbestand
I.
Die Beschwerdeführerin leistete Miet- und Lizenzzahlungen an eine mit ihr in einem Konzernverbund stehende, in Deutschland nur beschränkt steuerpflichtige Gesellschaft mit Sitz in den Vereinigten Staaten von Amerika. In den Vereinigten Staaten fand eine Ertragsbesteuerung dieser Gesellschaft statt. Nach § 50a Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit Abs. 5 Satz 2 EStG 2002 war die Beschwerdeführerin verpflichtet, die für diese Einnahmen anfallenden Körperschaftsteuern für Rechnung der amerikanischen Gesellschaft an das zuständige Finanzamt durch Abzug dieser Beträge von ihren Miet- und Lizenzzahlungen abzuführen. Das hat die Beschwerdeführerin aus Unwissenheit versäumt und wurde deshalb im Nachhinein mit den im Ausgangsverfahren in Streit stehenden Steuerforderungen in Anspruch genommen.
Da die Gesellschaft aufgrund des zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland bestehenden ertragsteuerlichen Doppelbesteuerungsabkommens nicht verpflichtet war, Körperschaftsteuer an den deutschen Fiskus zu zahlen, hätte sie nach § 50d Abs. 1 EStG 2002 den vom Vergütungsschuldner, der Beschwerdeführerin, von ihren Vergütungsansprüchen abgezogenen Steuerbetrag vom deutschen Fiskus erstattet verlangen, oder nach § 50d Abs. 2 EStG 2002 eine Freistellung von der Steuerpflicht beantragen können, so dass der Vergütungsschuldner schon gar nicht zum Abzug verpflichtet gewesen wäre. Dies war hier versäumt worden und konnte auch nicht mehr nachgeholt werden, da die amerikanische Gesellschaft zwischenzeitlich liquidiert worden war. Gleichwohl forderte das Finanzamt von der Beschwerdeführerin mit den angegriffenen Bescheiden die nicht von ihren Vergütungsverpflichtungen in Abzug gebrachte Körperschaftsteuer.
Die dagegen vor dem Finanzgericht erhobene Klage war erfolgreich (Urteil des Sächsischen Finanzgerichts vom 3. November 2011 – 6 K 1503/07 – EFG 2013, S. 582); die Revision führte zur Änderung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Abweisung der Klage (Urteil vom 19. Dezember 2012 – I R 81/11 – BFH/NV 2013, S. 698).
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie nicht den sich aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG ergebenden Begründungsanforderungen genügt.
1. a) Die Begründung der Verfassungsbeschwerde soll dem Bundesverfassungsgericht eine zuverlässige Grundlage für die weitere Behandlung des Verfahrens verschaffen (vgl. BVerfGE 15, 288 ≪292≫). Hierfür müssen innerhalb der Beschwerdefrist das angeblich verletzte Recht bezeichnet und der seine Verletzung enthaltende Vorgang substantiiert dargelegt werden (vgl. BVerfGE 81, 208 ≪214≫; 99, 84 ≪87≫; stRspr). Soweit zur Beurteilung der behaupteten Grundrechtsverletzung erforderlich, ist auch eine eingehende Auseinandersetzung mit den Gründen der angegriffenen Entscheidung geboten (vgl. BVerfGE 101, 331 ≪345≫). Hat das Bundesverfassungsgericht für bestimmte Fragen bereits verfassungsrechtliche Maßstäbe entwickelt, muss anhand dieser Maßstäbe aufgezeigt werden, inwieweit durch die angegriffene Maßnahme Grundrechte verletzt werden (vgl. BVerfGE 99, 84 ≪87≫; 101, 331 ≪346≫; 102, 147 ≪164≫).
b) Diesen Anforderungen genügt die Verfassungsbeschwerde nicht.
aa) Die geltend gemachten Verletzungen von Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 14 GG werden nicht in hinreichend substantiierter Weise gerügt. Das gilt besonders für die Rüge der Verletzung des Eigentums, aber auch für die Rüge der Verletzung des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes. In der Verfassungsbeschwerde wird insbesondere nicht auf das für das angegriffene Urteil und dessen verfassungsrechtliche Würdigung wesentliche Argument der verfahrensrechtlichen Eigenständigkeit der Festsetzungs-, Nacherhebungs- und Haftungsverfahren (§ 155 AO, § 167 AO, § 191 AO) gegenüber den Billigkeitsverfahren (§ 163 AO, § 227 AO) eingegangen. Mangels Verknüpfung der Besteuerungssituation des Vergütungsgläubigers sei – so der Bundesfinanzhof im angegriffenen Urteil – das Finanzamt an dem Erlass eines Nacherhebungsbescheids gegenüber dem Vergütungsschuldner nicht wegen einer „untypischen Fallgestaltung” (Ausfall des vom Gesetzgeber vorgesehenen Systems des Abzugs-, Erstattungs- und Freistellungsverfahrens infolge Liquidation der Vergütungsgläubigerin) gehindert gewesen, jedenfalls aber sei die Frage nach einer solchen Verknüpfung im Wege einer Billigkeitsentscheidung zugunsten der Beschwerdeführerin nicht Gegenstand des vorliegenden Ausgangsverfahrens gewesen.
bb) Mit diesem Argument setzt sich die Verfassungsbeschwerde nicht auseinander, hätte dies aber tun müssen. Denn über die Frage, ob im Einzelfall wegen einer besonderen Härte eine Billigkeitsmaßnahme in Betracht kommt, ist nach ständiger fachgerichtlicher Rechtsprechung nicht im Festsetzungsverfahren und einem darauf bezogenen Klageverfahren, sondern in einem gesonderten Billigkeitsverfahren zu entscheiden (vgl. zu der sogenannten Zweigleisigkeit der Verfahren § 163 Satz 3 AO, die Urteile des Bundesfinanzhofs vom 19. Juni 2013 – II R 10/12 –, BFH/NV 2013, S. 1491, vom 23. April 2009 – IV R 9/06 –, BFHE 225, 15, vom 4. Juli 2007 – VIII R 46/06 –, BFHE 218, 308, und vom 6. März 2003 – XI R 47/01 –, BFH/NV 2003, S. 1160, sowie die Beschlüsse des Bundesfinanzhofs vom 27. Juli 2011 – I R 44/10 –, BFH/NV 2011, S. 2005, vom 9. Juni 2010 – X B 41/10 –, BFH/NV 2010, S. 1783, vom 20. Februar 2008 – VIII B 103/07 –, BFH/NV 2008, S. 980, vom 20. Juli 2007 – VIII B 8/06 –, BFH/NV 2007, S. 2069, und vom 1. Oktober 2003 – X B 75/02 – BFH/NV 2004, S. 44; vgl. auch BVerfGE 48, 102 ≪110 f., 115 f.≫; 93, 165 ≪171≫; 99, 216 ≪245 f.≫; 99, 246 ≪272 f.≫; 99, 273 ≪278 f.≫). Der Zweck der §§ 163, 227 AO liegt darin, sachlichen und persönlichen Besonderheiten des Einzelfalles, die der Gesetzgeber in der Besteuerungsnorm nicht berücksichtigt hat, durch eine nicht den Steuerbescheid selbst ändernde Korrektur des Steuerbetrages insoweit Rechnung zu tragen, als sie die steuerliche Belastung als unbillig erscheinen lassen (vgl. BFH, Urteil vom 17. April 2013 – X R 6/11 –, juris, m.w.N.).
2. Da sich die Verfassungsbeschwerde aus den genannten Gründen als nicht annahmefähig erweist, steht nicht zur Entscheidung, ob und unter welchen Voraussetzungen im Einzelnen eine Finanzbehörde von Verfassungs wegen daran gehindert sein kann, ursprünglich vom Vergütungsschuldner trotz gesetzlicher Verpflichtung nicht entrichtete Abzugsteuern (vgl. § 50a EStG 2002) zu einem Zeitpunkt nachzuerheben, in dem bereits feststeht, dass der zum Steuerabzug verpflichtete und vom Finanzamt nachträglich in Anspruch genommene Vergütungsschuldner vom Vergütungsgläubiger nicht mehr die Erstattung oder die Abtretung des Erstattungsanspruchs gegen die Bundesrepublik Deutschland erlangen kann (vgl. § 50d EStG 2002). Zweifel an der Nacherhebung der Steuern nach § 167 Abs. 1 Satz 1 AO beim Vergütungsschuldner oder seiner Inhaftungnahme nach § 50a Abs. 5 Satz 5 EStG 2002, § 191 AO können sich in diesen Fällen vor allem daraus ergeben, dass es nicht nur – wie hier nach dem ertragsteuerlichen Doppelbesteuerungsabkommen – an einem Besteuerungsrecht der Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem Vergütungsgläubiger fehlt; es fehlt bei Vorliegen der beschriebenen Voraussetzungen, dass nämlich die Steuererhebung trotz fehlender Steuerpflicht der Vergütungsgläubigerin unstreitig und definitiv nicht mehr korrigiert werden kann (hier wegen Liquidation und Löschung der ehemals in den Vereinigten Staaten von Amerika gegründeten und ansässigen Vergütungsgläubigerin), auch an der für die Steuernacherhebung gemäß § 167 AO oder für die Haftung gemäß § 191 AO erforderlichen materiellen Belastungsrechtfertigung gegenüber der Vergütungsschuldnerin.
Es ist allerdings eine in erster Linie durch die Fachgerichte zu klärende Frage, ob dem durch eine einschränkende Auslegung der §§ 50a, 50d EStG oder der §§ 167, 191 AO Rechnung getragen werden kann, oder ob ein Gleichheitsverstoß erst im Billigkeitsverfahren durch eine Billigkeitsmaßnahme gemäß § 163 AO oder § 227 AO vermieden werden kann.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Kirchhof, Eichberger, Britz
Fundstellen