Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifliche Grundkündigungsfrist für Chemiearbeiter
Leitsatz (redaktionell)
Wird die Verfassungswidrigkeit tariflicher Kündigungsfristen von einer Partei angesprochen oder vom Gericht bezweifelt, so haben die Arbeitsgerichte nach den Grundsätzen des § 293 ZPO von Amts wegen die näheren für die unterschiedlichen Kündigungsfristen maßgeblichen Umstände, die für und gegen eine Verfassungswidrigkeit sprechen, zu ermitteln.
Orientierungssatz
1. Hinweise des Senats: "Fortsetzung der Rechtsprechung im Urteil vom 21. März 1991 - 2 AZR 616/90 = AP Nr 31 zu § 622 BGB, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen".
2. Auslegung des § 11a des Manteltarifvertrages für gewerbliche Arbeitnehmer und Angestellte der chemischen Industrie vom 1.7.1990.
Verfahrensgang
LAG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 07.11.1991; Aktenzeichen 8 Sa 367/91) |
ArbG Ludwigshafen (Entscheidung vom 22.01.1991; Aktenzeichen 1 Ca 1514/90) |
Tatbestand
Der Kläger war seit dem 14. September 1988 zunächst im Probearbeitsverhältnis, danach auf unbestimmte Zeit für die Beklagte als Chemiebetriebsarbeiter in Wechselschicht tätig und erhielt Bezüge nach der Entgeltgruppe E 2 des Bundesentgelttarifvertrages für die chemische Industrie vom 18. Juli 1987. Nach Ziffer 6 des Arbeitsvertrages der Parteien vom 19. Dezember 1988 finden auf das Arbeitsverhältnis neben den gesetzlichen Vorschriften die jeweils gültigen tarifvertraglichen Bestimmungen ergänzend Anwendung; dies ist für das Unternehmen der Beklagten der Manteltarifvertrag für gewerbliche Arbeitnehmer und Angestellte der chemischen Industrie (MTV Chemische Industrie) vom 1. Juli 1990.
Mit Schreiben vom 24. Juli 1990 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis unter Einhaltung einer 14tägigen Kündigungsfrist zum 9. August 1990 mit der Begründung auf, die krankheitsbedingten Fehlzeiten des Klägers ließen eine Weiterbeschäftigung nicht länger zu. Die Parteien haben in den Vorinstanzen auch um die soziale Rechtfertigung dieser Kündigung gestritten; insofern ist jedoch rechtskräftig zu Lasten des Klägers durch Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 7. November 1991 - 8 Sa 367/91 - entschieden. Die Parteien streiten jetzt noch um die Einhaltung der Kündigungsfrist, wobei der Kläger, der zur Zeit der Kündigung 22 Jahre alt war, geltend macht, die tarifliche Kündigungsfrist von 14 Tagen sei angesichts der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 1990 verfassungswidrig. Auch die vom Arbeitsgericht angewandte Kündigungsfrist von einem Monat sei nicht angemessen.
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Par-
teien durch die Kündigung der Beklagten vom
24. Juli 1990 nicht aufgelöst worden sei, sondern
auch über den 31. August 1990 hinaus fortbestehe.
Die Beklagte hat sich mit ihrem Klageabweisungsantrag darauf berufen, die tarifliche Kündigungsfrist des § 11 a III 1 des MTV Chemische Industrie verstoße nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Bei dieser tariflichen Bestimmung handle es sich um eine eigenständige Festlegung der Kündigungsfrist für gewerbliche Arbeitnehmer, wie sich aus der Tarifgeschichte und daraus ergebe, daß § 11 a MTV Chemische Industrie für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses eines gewerblichen Arbeitnehmers nur insoweit auf die gesetzlichen Bestimmungen verweise, als im Tarifvertrag nichts anderes bestimmt sei. Entscheidend sei, daß die Tarifvertragsparteien in § 11 a III 1 Satz 2 im Rahmen ihrer Tarifautonomie eigenständig die verlängerten Kündigungsfristen für gewerbliche Arbeitnehmer abweichend von der gesetzlichen Bestimmung des § 622 Abs. 2 BGB durch eine sogenannte Meßzahlenregelung vereinbart hätten. Zwar gelte die Meßzahlenregelung nur für ältere und länger gediente Arbeitnehmer, jedoch zeige die gesamte tarifliche Regelung, daß ein von den Tarifvertragsparteien geschaffenes Tarifrecht mit eigener normativer Aussage vorliege.
Die tarifliche Regelung differenziere auch in zulässiger Weise zwischen gewerblichen Arbeitnehmern und Angestellten. Die Tarifvertragsparteien der chemischen Industrie hätten nämlich in den letzten zwei Jahrzehnten wiederholt Anstrengungen unternommen, die Arbeitsbedingungen von gewerblichen Arbeitnehmern und Angestellten anzugleichen, wobei auch die Frage der Kündigungsfristen eine Rolle gespielt habe. In Kenntnis der sich für die Betriebe ergebenden praktischen Probleme hätten die Tarifvertragsparteien sich auf eine vorsichtige Ausdehnung der Kündigungsfristen für Arbeiter beschränkt und auch die langen Fristen des Angestelltenkündigungsschutzgesetzes aus dem Jahre 1926 für diese Gruppe nur teilweise übernommen. Entscheidender Grund hierfür sei, daß Arbeiter in der chemischen Industrie hauptsächlich in der Produktion beschäftigt seien und daß in diesem Bereich wegen der marktwirtschaftlichen Abhängigkeit von der Auftragslage betriebsorganisatorische, aber auch technische Veränderungen häufiger kurzfristig notwendig würden. Dies gelte im besonderen Maße für kleine und mittlere Betriebe, die betriebsintern kaum über personelle Ausgleichsmöglichkeiten verfügten, aber auch für Großbetriebe für den Fall konjunktureller Schwankungen. Dieses für die Produktion unabweisbare Bedürfnis nach erhöhter personalwirtschaftlicher Flexibilität bestehe in den Laboratorien und im Verwaltungsbereich, in denen überwiegend die Angestellten tätig seien, nicht.
Das Arbeitsgericht hat die Kündigung für sozial gerechtfertigt, die Kündigungsfrist jedoch für verfassungswidrig gehalten und ersatzweise eine Kündigungsfrist von einem Monat zum Monatsende als angemessen angesehen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht dieses Urteil abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers, die mit Beschluß des Senats vom 17. Juni 1992 insoweit zugelassen worden ist, als der Beendigungszeitpunkt wegen möglicher Verfassungswidrigkeit der von der Beklagten gewählten Kündigungsfrist streitig ist. Der Kläger erstrebt jetzt noch den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses bis 30. September 1990. Der Senat hat Auskünfte der Tarifpartner eingeholt, deren Ergebnis unter II 2 c der Entscheidungsgründe wiedergegeben ist.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Der Senat tritt der Entscheidung der Vorinstanz bei, die § 11 a Abs. III Ziffer 1 MTV Chemische Industrie nicht wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG als verfassungswidrig angesehen hat.
I. Das Landesarbeitsgericht hat seine Entscheidung - soweit sie die Kündigungsfrist nach dem MTV Chemische Industrie betrifft - wie folgt begründet: Dem § 11 a Abs. III Ziffer 1 MTV Chemische Industrie sei der Wille der Tarifvertragsparteien zu entnehmen, eine eigenständige Tarifnorm zu schaffen. Denn einmal verweise Satz 1 dieser Bestimmung nur ergänzend auf die gesetzlichen Bestimmungen (... soweit im Tarifvertrag nichts anderes bestimmt ist ...), zum anderen ergebe sich aber auch aus der unstreitig gebliebenen Tarifgeschichte, daß die Tarifvertragsparteien der chemischen Industrie die Kündigungsfristen eigenständig hätten regeln wollen. So habe bei den Verhandlungen der Tarifpartner auch die Frage der Kündigungsfristen wiederholt eine Rolle gespielt; in Kenntnis der sich für die Betriebe ergebenden praktischen Probleme und insbesondere mit Rücksicht auf die in der chemischen Produktion gegebenen marktwirtschaftlichen Abhängigkeiten einerseits, häufig kurzfristig auftretende technische Veränderungen andererseits und der hierdurch erforderlichen Personalflexibilität seien nur eine vorsichtige Ausdehnung der Kündigungsfristen für Arbeiter erfolgt und die langen Fristen des Angestelltenkündigungsschutzgesetzes aus dem Jahre 1926 für die Arbeiter nur teilweise übernommen worden.
Für diese eigenständige, konstitutive Regelung sei aber auch von einem sachlichen Bedürfnis nach einer unterschiedlichen Grund-Kündigungsfrist für Arbeiter und Angestellte auszugehen, denn die Gruppe der Arbeiter sei hauptsächlich in der Produktion beschäftigt, während die Angestellten hauptsächlich in den Laboratorien und im Verwaltungsbereich tätig seien. Wegen der marktwirtschaftlichen Abhängigkeit von der Auftragslage müßten aber betriebsorganisatorische und häufig auch kurzfristig auftretende technische Veränderungen - gerade im Hinblick auf kleinere und mittlere Betriebe - personelle Ausgleichsmöglichkeiten notwendig machen, die nur bei einer erhöhten personalwirtschaftlichen Flexibilität erreichbar seien. Ein solches Bedürfnis bestehe für die in den Laboratorien und im Verwaltungsbereich tätigen Angestellten nicht.
II. Dem kann mit Rücksicht auf die vom Senat eingeholten Auskünfte der Tarifpartner (vgl. dazu unter II 2 c der Gründe) im Ergebnis gefolgt werden.
Die Rüge der Revision, § 11 a Abs. III MTV Chemische Industrie verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG, eine eigenständige tarifvertragliche Vereinbarung sei wegen des Verweises auf die gesetzlichen Bestimmungen nicht getroffen und es liege auch kein sachlich rechtfertigender Grund für die Beibehaltung der 14tägigen Kündigungsfrist vor, greift nicht durch.
1. Das Berufungsgericht hat zunächst im Ausgangspunkt zutreffend angenommen, der kraft einzelvertraglicher Vereinbarung für das Arbeitsverhältnis geltende Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer und Angestellten in der chemischen Industrie enthalte in § 11 a Abs. III eine sog. eigenständige Regelung der (Grund-)Kündigungsfristen für Arbeiter.
a) Bei tariflichen Normen, die inhaltlich mit gesetzlichen Normen übereinstimmen oder auf sie verweisen, ist jeweils durch Auslegung zu ermitteln, ob die Tarifvertragsparteien hierdurch eine selbständige, d. h. in ihrer normativen Wirkung von der außertariflichen Norm unabhängige eigenständige Regelung treffen wollten. Dieser Wille muß im Tarifvertrag einen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden haben. Das ist regelmäßig anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien eine im Gesetz nicht oder anders enthaltene Regelung treffen oder eine gesetzliche Regelung übernehmen, die sonst nicht für die betroffenen Arbeitsverhältnisse gelten würde. Für einen rein deklaratorischen Charakter der Übernahme spricht hingegen, wenn einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder inhaltlich übernommen werden oder nur auf sie verwiesen wird (vgl. Senatsurteile vom 21. März 1991 - 2 AZR 616/90 - AP Nr. 31 zu § 622 BGB, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen; vom 29. August 1991 - 2 AZR 220/91 A - AP Nr. 32, aaO und vom 23. September 1992 - 2 AZR 231/92 - unveröffentlicht).
b) Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, eine solche rein deklaratorische Übernahme sei vorliegend in dem Verweis auf die gesetzlichen Bestimmungen mit dem Vorbehalt "soweit im Tarifvertrag nichts anderes bestimmt sei", nicht zu sehen. Es hat zunächst darauf hingewiesen, § 11 a Abs. III Ziffer 1 MTV enthalte für die länger beschäftigten und älteren Arbeiter mit der Meßzahlenregelung unzweifelhaft eine eigenständige Regelung. Das ist zutreffend und wird auch von der Revision nicht anders gesehen. Allerdings wäre dies nicht ausschlaggebend, weil die Tarifpartner Grund- und verlängerte Kündigungsfristen insoweit unterschiedlich, also teils konstitutiv und teils deklaratorisch (vgl. z.B. § 12 BRTV-Bau, einerseits BAG Urteil vom 2. April 1992 - 2 AZR 516/91 - EzA § 622 n.F. BGB bestimmt - und andererseits BAG Beschluß vom 21. März 1991 - 2 AZR 296/87 B - AP Nr. 30 zu § 622 BGB, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen) hätten regeln können. Wesentlich und abweichend von anderen Tarifverträgen ist hier zunächst, daß die Tarifvertragsparteien in derselben Bestimmung nicht nach Grund- und verlängerten Kündigungsfristen unterscheiden, sondern eine einheitliche Regelung getroffen haben. Insofern läßt sich auch nicht sagen, § 11 a Abs. III Ziffer 1 Satz 1 gelte für die Grund-Kündigungsfrist und Satz 2 für die verlängerte Kündigungsfrist. Denn der im Gesetz enthaltene Unterschied nach der Betriebszugehörigkeit von fünf Jahren - unterhalb: Grund-Kündigungsfrist (§ 622 Abs. 2 Satz 1 BGB), oberhalb: verlängerte Kündigungsfristen (§ 622 Abs. 2 Satz 2 BGB) - wird von den Tarifpartnern zulässigerweise (§ 622 Abs. 3 BGB) nicht übernommen. Bereits dies indiziert einen eigenen Regelungswillen. Darüber hinaus reicht der Regelungsinhalt des § 11 a Abs. III Ziffer 1 Satz 2 MTV aber auch insofern in den gesetzlichen Bereich der Grund-Kündigungsfrist hinein, als nicht nur nicht unterscheidend auf die Ableistung einer bestimmten Betriebszugehörigkeitsdauer, sondern auch nicht auf die Erreichung eines bestimmten Alters, nämlich Vollendung des 25. Lebensjahres wie in § 622 Abs. 2 Satz 3 BGB abgestellt wird. So wäre es beispielsweise theoretisch möglich, daß ein mit 63 Jahren eingetretener Mitarbeiter nach zwei Jahren Betriebszugehörigkeit aufgrund § 11 a Abs. III Ziffer 1 Satz 2 MTV in den Genuß einer verlängerten Kündigungsfrist käme, was bei einer Meßzahl von 65 (63 Jahre Alter plus zwei Jahre Betriebszugehörigkeit) zu einer Kündigungsfrist von drei Monaten zum Quartalsende führen würde. Dem steht der im Anschluß an die Regelung des § 11 MTV angefügte, einseitige Hinweis des Bundesarbeitgeberverbandes Chemie (im Tarifvertrag in einem eingerahmten Kasten abgedruckt) nicht zwingend entgegen, wenn dort die gesetzliche Regelung - übrigens noch abstellend auf die veraltete gesetzliche Bestimmung des § 622 Abs. 2 Satz 3 BGB (35. Lebensjahr) neben der Meßzahlenregelung aufgeführt wird. Der Regelfall wird danach zwar der sein, daß bei Einstellung im "normalen" Alter doch die gesetzliche Regel zum Zuge kommt, aber das ändert nichts daran, daß schon aufgrund dieser - wenn auch nur theoretisch möglichen - abweichenden Regelung der MTV einen eigenständigen Charakter hat.
Das Landesarbeitsgericht hat insoweit ergänzend auch auf die Tarifgeschichte verwiesen, die ebenfalls für eine eigenständige Regelung spreche. Richtig ist, daß nach den vom Bundesarbeitsgericht anerkannten Grundsätzen zur Tarifauslegung (vgl. dazu Senatsurteil vom 28. Februar 1990 - 2 AZR 426/89 - BAGE 61, 209, 215 = AP Nr. 8 zu § 1 KSchG 1969 Wartezeit, zu II 1 a der Gründe und BAG Urteil vom 12. September 1984 - 4 AZR 336/82 - BAGE 46, 308 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung) außer dem Wortlaut, der Erforschung des wirklichen Willens der Tarifpartner und dem Sinn und Zweck der Tarifnorm unter Berücksichtigung ihres Gesamtzusammenhanges bei verbleibenden Zweifeln auch die Tarifgeschichte, eine praktische Tarifübung und die Entstehungsgeschichte als Auslegungskriterien herangezogen werden können. Insofern lassen in der Tat die Tarifabschlüsse in der chemischen Industrie, was nach dem Parteivortrag unbestritten, aber auch gerichtsbekannt ist, eine deutliche Tendenz erkennen, die Arbeitsbedingungen von Arbeitern und Angestellten einander anzugleichen, wie dies der vorliegende, für beide Arbeitnehmer-Gruppen einheitliche Manteltarifvertrag nicht nur in dem § 11 MTV ebenso zeigt wie der Bundesentgelt-Tarifvertrag vom 18. Juli 1987 (vgl. ferner die Neuregelung des § 11 im MTV Chemische Industrie vom 24. Juni 1992).
2. Bei dieser Rechtslage hat das Berufungsgericht zutreffend in eigener Kompetenz geprüft, ob die Regelung des § 11 a Abs. III MTV im Vergleich zu der für Angestellte geltenden Fristenregelung des § 11 b Abs. III MTV mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 GG vereinbar ist, an den auch die Tarifvertragsparteien uneingeschränkt gebunden sind (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Senatsurteil vom 23. Januar 1992 - 2 AZR 470/91 - EzA § 622 n. F. BGB Nr. 40, zu II 2 a der Gründe).
a) Das Landesarbeitsgericht hat - ausgehend von dieser Senatsrechtsprechung - ausgeführt, ein die Ungleichbehandlung sachlich rechtfertigender Grund liege darin, daß die Tarifparteien der chemischen Industrie im Hinblick auf die hauptsächliche Beschäftigung von Arbeitern in der Produktion von einer völligen Angleichung der Kündigungsfristen der Arbeiter und der Angestellten abgesehen hätten; in der Produktion seien wegen der marktwirtschaftlichen Abhängigkeit von der Auftragslage betriebsorganisatorische, aber auch häufig und kurzfristig auftretende technische Veränderungen notwendig, die personelle Ausgleichsmöglichkeiten forderten, die nur durch eine erhöhte personalwirtschaftliche Flexibilität erreichbar seien. Diese sei bei den hauptsächlich in Laboratorien und im Verwaltungsbereich tätigen Angestellten nicht erforderlich.
b) Diese Feststellungen werden in ihrem tatsächlichen Kern - hauptsächliche Beschäftigung von Arbeitern in der Produktion und von Angestellten in den Laboratorien/Verwaltungsbereichen - von der Revision nicht angegriffen. Sie beruhen auf dem schon in der Berufungsinstanz unbestrittenen Sachvortrag der Beklagten (§ 138 Abs. 3 ZPO), was das Landesarbeitsgericht an anderer Stelle (Urteil S. 19 unten) ausdrücklich festgestellt hat. Eine formelle Rüge liegt insofern nicht vor, so daß der Senat von diesem Tatbestand auszugehen hat (§ 561 ZPO). Er bietet allerdings noch keine ausreichende Grundlage für die vom Landesarbeitsgericht gezogene Schlußfolgerung, weil der Begriff "hauptsächliche" Beschäftigung von Arbeitern in der Produktion und Angestellten in den Laboratorien zu unbestimmt ist. Konkrete Zahlen hat das Landesarbeitsgericht hierzu nicht ermittelt - auch nicht mit Hilfe von Auskünften der Tarifpartner. Dies hat der Senat nachgeholt, denn bei den Tarifvertragsnormen, die ein Arbeitsverhältnis regeln können, handelt es sich nicht um staatliches Gesetzesrecht, sondern um kraft des Tarifvertragsgesetzes von den Tarifvertragsparteien gesetztes autonomes Recht, das als statutarisches Recht nach den Grundsätzen des § 293 ZPO zu behandeln ist (BAGE 4, 37, 39 = AP Nr. 4 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz mit Anm. Gumpert; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 51. Aufl., § 293 Rz 4; Zöller/Geimer, ZPO, 17. Aufl., § 293 Rz 4). Das bedeutet, daß die Beurteilung der tariflichen Kündigungsfristen letztlich nicht allein von der Frage der Darlegungs- und Beweislast abhängt (so aber Koch, NZA 1991, 50, 52); vielmehr haben die Arbeitsgerichte von Amts wegen die näheren für die unterschiedlichen Kündigungsfristen maßgeblichen Umstände, die für und gegen eine Verfassungswidrigkeit sprechen, zu ermitteln, sofern eine Partei oder das Gericht selbst an deren Verfassungsmäßigkeit Zweifel hegt (ähnlich Marschollek, DB 1991, 1069, 1072). Andernfalls käme es - je nach Parteivortrag und ausreichendem oder nicht ausreichendem Bestreiten, evtl. von Tarifaußenseitern - zu völlig unterschiedlichen Vertragsbewertungen der Gerichte. Insofern ist die Rechtslage nicht anders zu beurteilen, als wenn überhaupt die Rechtmäßigkeit eines Tarifvertrages in Rede steht, was ebenfalls von Amts wegen zu ermitteln ist (vgl. BAGE 7, 153 = AP Nr. 3 zu § 2 TVG; BAG Urteil vom 18. November 1965 - 2 AZR 92/65 - AP Nr. 17 zu § 1 TVG; siehe auch Germelmann/Matthes/Prütting, ArbGG, § 73 Rz 11; Grunsky, ArbGG, 6. Aufl., § 73 Rz 9, m.w.N.).
aa) So hat der Senat im Urteil vom 29. August 1991 (- 2 AZR 72/91 - unveröffentlicht) die pauschale Annahme des Berufungsgerichts, die "Besonderheiten des Baugewerbes" rechtfertigten die Zulässigkeit unterschiedlicher Kündigungsfristen, nicht ausreichen lassen und dazu ausgeführt, werde die Verfassungsmäßigkeit einer Tarifvertragsnorm, auf die der Arbeitgeber seine Kündigung stütze, unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu einer vergleichbaren Gesetzesnorm und unter Hinweis auf deutlich unterschiedliche Kündigungsfristen bezweifelt, dann müsse das Gericht in eine detaillierte Sachprüfung eintreten (so schon Senatsurteil vom 21. März 1991 - 2 AZR 616/90 - AP Nr. 31 zu § 622 BGB, zu II 2 b der Gründe).
bb) In dem mehrfach erwähnten Urteil vom 23. Januar 1992 (- 2 AZR 470/91 - EzA, aaO) hat der Senat für den Bereich der Textilindustrie Nordrhein bei einem Arbeiteranteil von 65 % und einem Angestelltenanteil von ca. 35 % der Beschäftigten sowie ganz überwiegender Beschäftigung der Arbeiter in der Produktion die erhöhte personalwirtschaftliche Flexibilität als Sachgrund für die unterschiedlichen Grund-Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte in jenem Bereich anerkannt. Der Senat hat dort ausgeführt, auch wenn Umsatzentwicklungen frühzeitig erkennbar und bei der Personalbedarfsplanung zu berücksichtigen seien, ändere dies nichts daran, daß Anpassungen sich zunächst und unmittelbar im Produktionsbereich auswirkten, wenn auch der administrative Bereich auf Dauer ebenfalls nicht unberührt bleiben werde. Selbst wenn Auftragsbestände einen Zeitraum von mehreren Monaten abdeckten, könne dem eine ältere Belegschaft mit längeren Kündigungsfristen gegenüberstehen, was es gerade deshalb erforderlich mache, betriebsbedingte Kündigungen bei Arbeitern mit kürzerer Betriebszugehörigkeit verhältnismäßig rasch umsetzen zu können. Gerade weil bei längerer Betriebszugehörigkeit sachliche Differenzierungsgründe für unterschiedliche Wartezeiten immer weniger anzuerkennen seien, werde der Handlungsspielraum des Arbeitgebers so eingeengt, daß er jedenfalls bei den Grund-Kündigungsfristen um so eher erhalten bleiben müsse. Wenn hierbei keine völlige Gleichstellung mit den Angestellten erreicht werde, so sei dies unerheblich, da Art. 3 Abs. 1 GG keine "Gleichmacherei" verlange. Das Bundesverfassungsgericht habe in der Entscheidung vom 30. Mai 1990 (- 1 BvL 2/83 u. a. - AP Nr. 28 zu § 622 BGB) geprüft, ob eine "beträchtliche" Ungleichbehandlung vorliege. Da hier die Ungleichbehandlung "abgemildert" worden sei, erscheine sie im Hinblick auf die branchenspezifische Schichtung von Arbeitern und Angestellten noch hinnehmbar.
cc) Im Urteil vom 23. September 1992 (- 2 AZR 231/92 - unveröffentlicht) hat der Senat darauf hingewiesen, ein Bedürfnis nach erhöhter personalwirtschaftlicher Flexibilität als Sachgrund für die Ungleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten hinsichtlich der Grund-Kündigungsfristen bestehe jedoch nicht generell schon wegen des größeren Umfangs des Einsatzes von Arbeitern in jeder Produktion ohne Rücksicht auf die Verhältnisse in der jeweiligen Branche. Die Senatsurteile vom 23. Januar 1992 (- 2 AZR 470/91 - und - 2 AZR 460/91 - Textilindustrie sowie - 2 AZR 389/91 - Gartenbau -) sowie vom 2. April 1992 (- 2 AZR 516/91 - Bau-Hauptgewerbe) beträfen Tarifverträge für Bereiche, deren Betriebe aus branchenspezifischen Gründen besonderen produkt-, mode-, witterungs- oder saisonbedingten Auftragsschwankungen ausgesetzt seien, wobei einige der einschlägigen Tarifverträge als gewissen Ausgleich für den geringeren Bestandsschutz der von den kurzen Grund-Kündigungsfristen betroffenen Arbeiter nach betriebsbedingter Entlassung im Fall der Wiedereinstellung innerhalb eines bestimmten Zeitraums die Anrechnung der früheren Betriebszugehörigkeit (Textilindustrie Nordrhein) oder sogar die Wiedereinstellung (Gartenbau, Bau-Hauptgewerbe) vorsähen. Auch wenn der Senat das nicht als zwingende Voraussetzung für die Verfassungsmäßigkeit der Differenzierung angesehen und deshalb auch die kurzen Grund-Kündigungsfristen in dem Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Textilindustrie in Baden-Württemberg gebilligt hat, dürften jedoch die Besonderheiten, die sich aus der Produktion in Bereichen wie den vorstehend erwähnten ergeben, nicht pauschal auf alle Produktionsbereiche erweitert werden, wovon offensichtlich das Berufungsgericht - in jenem Fall - ausgegangen ist.
c) Die Auskünfte der Tarifpartner haben hier ergeben, daß die vom Landesarbeitsgericht gezogene Schlußfolgerung (oben zu II 2 b) im Ergebnis zutreffend ist. Der Bundesarbeitgeberverband Chemie e.V. hat zur Beschäftigtenstruktur in der chemischen Industrie mitgeteilt, ca. 90 % der in der Produktion beschäftigten Arbeitnehmer seien gewerbliche Arbeitnehmer, ca. 10 % Tarifangestellte. Bei den Angestellten, die in der Produktion tätig seien, handele es sich überwiegend entweder um sogenannte Schichtmeister oder um technische Angestellte, die im produktionsbegleitenden oder -vorbereitenden Laborbereich tätig seien. Die Industriegewerkschaft Chemie hat darauf hingewiesen, die Höhe des prozentualen Anteils der gewerblichen Arbeitnehmer in der Produktion im Verhältnis zu anderen Bereichen könne nicht genau mitgeteilt werden; der Anteil gewerblicher Arbeitnehmer in der Produktion betrage aber schätzungsweise etwa 75 %; in der Produktion seien Angestellte vor allem in den Labors sowie in Vorgesetztenfunktionen (z. B. als Meister) tätig. Der Bundesarbeitgeberverband hat überdies mitgeteilt, im gewerblichen Bereich bestehe ein erhöhtes Bedürfnis an personalwirtschaftlicher Flexibilität, und zwar wegen der marktwirtschaftlichen Abhängigkeit von der Auftragslage, auch betriebsorganisatorische und technische Veränderungen seien in diesem Bereich häufiger kurzfristig nötig; dies gelte ebenso in kleinen, mittleren und großen Betrieben. Die Gewerkschaft hat sich hierzu nicht geäußert.
Aufgrund dieser Stellungnahme der Tarifparteien ist es gerechtfertigt, bei einem ganz überwiegenden Anteil von Arbeitern in der Produktion - seien es nun 90 % oder 75 %- einen sachlichen Grund für die hier in Rede stehende kürzere Kündigungsfrist innerhalb der ersten 2 Jahre des Arbeitsverhältnisses wegen des Flexibilitätserfordernisses anzuerkennen. Die Abhängigkeit von der Auftragslage macht sich zunächst in der Produktion bemerkbar, während die Angestellten - besonders im Forschungsbereich - hiervon nicht sofort betroffen werden. Ein Bedürfnis an Forschung sowie für Vorgesetztenfunktionen (Meister) wird trotz Auftragsmangel zumindest zunächst weiterbestehen. Auch betriebsorganisatorische und technische Veränderungen werden zuerst die in der Produktion tätigen Arbeiter berühren, so daß hier insgesamt bei notwendig werdenden Kündigungen kurzfristiger Handlungsbedarf besteht.
Der MTV Chemie gilt auch für eine einheitliche Branche, so daß nicht etwa gesagt werden kann, die hier aufgezeigten Besonderheiten beträfen nur einen - möglicherweise nicht einmal repräsentativen - Teil der etwa nur von einer Branchenuntergliederung erfaßten Arbeiter (vgl. dazu Senatsurteil vom 23. September 1992 - 2 AZR 231/92 - unveröffentlicht). Wie der Senat ferner entschieden hat (Urteil vom 23. Januar 1992 - 2 AZR 470/91 - EzA, aaO, zu II 2 b bb der Gründe), kann das Flexibilitätsargument auch wenn es nur für betriebsbedingte Kündigungen gilt, von den Tarifpartnern im Hinblick auf ein Bedürfnis nach flexibler Personalwirtschaft wegen des Anteils der betriebsbedingten im Vergleich zu den verhaltens- und personenbedingten Kündigungen besonders hoch veranschlagt oder jedenfalls für so ausschlaggebend angesehen worden sein, daß sie eine einheitliche Regelung für sachgemäß erachtet haben. Den Tarifpartnern sei insoweit im Rahmen der ihnen gewährten Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) eine sachverständige Beurteilungskompetenz einzuräumen. Daran hält der Senat auch für den vorliegenden Tarifvertrag fest.
d) Eine Verfassungswidrigkeit der mit Rücksicht auf § 11 a Abs. III Ziffer 1 MTV chemische Industrie für den Kläger gewählten Kündigungsfrist von 14 Tagen kann daher nicht festgestellt werden.
Hillebrecht Bitter Kremhelmer
Dr. Roeckl Dr. Wolter
Fundstellen
Haufe-Index 437815 |
DB 1993, 1578-1579 (LT1) |
NZA 1993, 995 |
NZA 1993, 995-998 (LT1) |
RzK I 3e, Nr. 33 (LT1, ST1) |
ZAP, EN-Nr 584/93 (S) |
AP § 622 BGB (LT1), Nr 40 |
AR-Blattei, ES 1010.5 Nr 36 (LT1) |
EzA § 622 nF BGB, Nr 44 (LT1) |