Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankheitskündigung. Negativprognose. Beweiswürdigung. Anhörung des Betriebsrats. Kündigungsschutz
Orientierungssatz
- Häufige Kurzerkrankungen in der Vergangenheit können indiziell für eine entsprechende künftige Entwicklung des Krankheitsbildes sprechen. Dies gilt allerdings nicht, wenn die Krankheiten ausgeheilt sind.
- Bei einer negativen Indizwirkung hat der Arbeitnehmer gem. § 138 Abs. 2 ZPO darzutun, weshalb mit einer baldigen Genesung zu rechnen ist, wobei er dieser prozessualen Mitwirkungspflicht schon dann genügt, wenn er die Behauptungen des Arbeitgebers nicht nur bestreitet, sondern seinerseits vorträgt, die ihn behandelnden Ärzte hätten die gesundheitliche Entwicklung positiv beurteilt, und wenn er die ihn behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbindet.
- Da der Arbeitnehmer im Falle der Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen nicht den Beweis führen muß, daß die Negativprognose nicht gerechtfertigt ist, muß die Indizwirkung der Krankheitszeiten in der Vergangenheit dann als ausreichend erschüttert angesehen werden, wenn sich aus den Auskünften der behandelnden Ärzte jedenfalls Zweifel an der Negativprognose ergeben.
- Eine Beweiswürdigung, mit der eine Behauptung als – durch ein Sachverständigengutachten – bewiesen angesehen wird, nach deren Richtigkeit der Sachverständige nicht gefragt worden ist und zu der er sich auch nicht geäußert hat, ist in der Regel rechtsfehlerhaft.
- Der Umstand, daß der Beweis des Gegenteils nicht geführt ist, ist zwar notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung dafür, daß der Hauptbeweis als geführt angesehen werden kann. Möglich ist nämlich, daß weder der Hauptbeweis noch der Beweis des Gegenteils geführt wird und es bei einem non liquet bleibt.
Normenkette
KSchG § 1; ZPO § 286; BetrVG § 102
Verfahrensgang
Tenor
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Der Kläger macht die Unwirksamkeit einer ordentlichen Kündigung geltend und verlangt hilfsweise Wiedereinstellung.
Der im Jahre 1960 geborene, verheiratete Kläger, der drei Kindern zum Unterhalt verpflichtet ist, trat 1990 in die Dienste der Beklagten, die eine Fleischwarenfabrik betreibt. Der Kläger war als Hilfsarbeiter tätig und erhielt zuletzt eine Stundenvergütung von 18,15 DM brutto bei einer regelmäßig zu erbringenden Arbeitszeit von 37,5 Stunden in der Woche.
In den Jahren von 1991 bis 1998 war der Kläger wie folgt arbeitsunfähig erkrankt (Kalendertage):
06.02. bis 08.02.1991 |
3 Tage |
09.04. bis 12.04.1991 |
4 Tage |
24.06. bis 17.07.1991 |
19 Tage |
04.11. bis 19.11.1991 |
16 Tage |
21.11.1991 |
1 Tag |
31.12.1991 |
1 Tag |
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01.01. bis 10.01.1992 |
10 Tage |
23.03. bis 29.03.1992 |
7 Tage |
24.04. bis 27.04.1992 |
4 Tage |
07.05. bis 08.05.1992 |
2 Tage |
06.07. bis 24.07.1992 |
19 Tage |
12.10. bis 22.10.1992 |
11 Tage |
10.12. bis 14.12.1992 |
5 Tage |
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19.01. bis 29.01.1993 |
11 Tage |
31.03.1993 |
1 Tag |
12.05. bis 14.05.1993 |
3 Tage |
21.06. bis 23.06.1993 |
3 Tage |
22.11. bis 03.12.1993 |
12 Tage |
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18.01. bis 11.02.1994 |
25 Tage |
11.03.1994 |
1 Tag |
21.04. bis 13.05.1994 |
23 Tage |
01.08. bis 05.08.1994 |
5 Tage |
22.11. bis 09.12.1994 |
18 Tage |
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07.03. bis 10.03.1995 |
4 Tage |
28.04. bis 03.05.1995 |
6 Tage |
22.11. bis 01.12.1995 |
10 Tage |
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11.04. bis 10.05.1996 |
30 Tage |
20.08. bis 07.09.1996 |
19 Tage |
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03.02. bis 21.02.1997 |
19 Tage |
09.04. bis 18.04.1997 |
10 Tage |
30.06. bis 04.07.1997 |
5 Tage |
23.07.1997 |
1 Tag |
01.10. bis 02.10.1997 |
2 Tage |
06.10. bis 22.10.1997 |
17 Tage |
10.12. bis 23.12.1997 |
14 Tage |
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14.04. bis 20.04.1998 |
7 Tage |
01.09. bis 19.10.1998 |
49 Tage |
Von den Krankheitszeiten im Jahre 1993 waren die beiden 11 bzw. 12 Tage umfassenden Perioden auf Arbeitsunfälle zurückzuführen. In der Krankheitsperiode vom 18. Januar 1994 bis zum 11. Februar 1994 wurde der Kläger am Auge operiert, in der Periode vom 20. August 1996 bis zum 7. September 1996 unterzog er sich einer Nasenoperation und in die Krankheitsperiode vom 9. April bis zum 18. April 1997 fiel eine Warzenoperation. Die übrigen Fehlzeiten ergaben sich vor allem aus Geschwüren des Zwölffingerdarms, Wirbelsäulenbeschwerden und Erkältungskrankheiten (einschließlich grippaler Infekte), daneben aus Kopfschmerzen und Nierenschmerzen.
Mit Schreiben vom 8. Oktober 1998 teilte die Beklagte dem bei ihr eingerichteten Betriebsrat mit, sie beabsichtige, das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger zum 31. Januar 1999 ordentlich zu kündigen. Zur Begründung bezog sie sich auf die erwähnten Krankheitszeiten ohne Erläuterung der Krankheitsursachen und führte an, sie sei in der Vergangenheit mit Lohnfortzahlungskosten iHv. 50.740,72 DM belastet worden. Mit Schreiben vom gleichen Tage erwiderte der Betriebsrat, er könne der Kündigung nicht zustimmen. Mit Schreiben vom 9. Oktober 1998, das dem Kläger am selben Tage zuging, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger zum 31. Januar 1999.
Der Kläger hat die Unwirksamkeit der Kündigung geltend gemacht. Der Betriebsrat sei nicht ordnungsgemäß angehört worden, weil die Beklagte ihm die Arbeitsunfälle verschwiegen habe. Die Kündigung sei auch sozialwidrig. Zwar könne die Anzahl der Fehltage an sich für eine negative Gesundheitsprognose sprechen. Er habe aber dargelegt, daß mit einer baldigen Genesung zu rechnen gewesen sei. Die Beklagte habe den ihr obliegenden Beweis einer negativen Zukunftsprognose nicht erbracht. Erhebliche betriebliche Beeinträchtigungen bestreitet der Kläger und macht geltend, im Rahmen der Interessenabwägung müsse berücksichtigt werden, daß die Erkrankungen auf betriebliche Ursachen zurückzuführen seien.
Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt
festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung vom 9. Oktober 1998, zugegangen am 9. Oktober 1998, zum 31. Januar 1999 beendet wird
und
falls der Kläger mit dem Feststellungsantrag obsiegt, die Beklagte zu verurteilen, den Kläger zu unveränderten Bedingungen als Hilfskraft weiterzubeschäftigen.
Das Arbeitsgericht hat nach Einholung schriftlicher Aussagen der behandelnden Ärzte des Klägers vom 21. Juni 1999 und vom 29. Juni 1999 die Klage abgewiesen.
In der Berufungsinstanz hat der Kläger sich mit Schriftsatz vom 14. April 2000 auf die vom Arbeitsgericht eingeholten schriftlichen Aussagen bezogen und vorgetragen, die Aussage vom 21. Juni 1999 zeige, daß spätestens seit einer Gastroskopie am 17. Mai 1999 das Magenleiden ausgeheilt sei. Aus einem weiteren ärztlichen Schreiben vom 16. Februar 2000 ergebe sich, daß weder eine Bandscheibenvorwölbung noch ein Bandscheibenvorfall nachweisbar und auch insoweit nunmehr eine positive Prognose gerechtfertigt sei. Deshalb stehe ihm jedenfalls ein Anspruch auf Wiedereinstellung zu. Der Kläger hat dementsprechend im Berufungsverfahren klageerweiternd hilfsweise beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ein Angebot auf Abschluß eines Arbeitsvertrages auf Fortsetzung des bis zum 31. Januar 1999 bestandenen Arbeitsverhältnisses zu unveränderten Arbeitsbedingungen und unter Wahrung des Besitzstandes zu unterbreiten.
Die Beklagte hat ihren Antrag auf Abweisung aller Klagebegehren damit begründet, die Kündigung sei wirksam. Der Betriebsrat sei ordnungsgemäß angehört worden. Ihm sei von jeder Unfallmeldung eine Kopie übersandt worden. Es sei damit zu rechnen, daß die Erkrankungen des Klägers auch in Zukunft mit derselben Häufigkeit aufträten und zu Arbeitsunfähigkeiten führen würden. Aus den im ersten Rechtszug eingeholten Aussagen der Ärzte ergebe sich nicht, daß die Krankheiten ausgeheilt seien. Im Zeitpunkt der Kündigung habe sie auch mit Betriebsablaufstörungen und erheblichen wirtschaftlichen Belastungen rechnen müssen. Den Ausfall des Klägers habe sie durch Überstunden anderer Mitarbeiter und durch Aushilfskräfte auffangen müssen, da sie keine weitere Personalreserve vorhalte. Die zusätzlichen Kosten hätten eine unzumutbare Höhe erreicht (ca. 33.000,00 DM seit Mitte 1995). Die Krankheiten seien nicht auf betriebliche Ursachen zurückzuführen. Ein Anspruch auf Wiedereinstellung stehe dem Kläger nicht zu und sei außerdem zu spät geltend gemacht worden. Daran ändere der – unstreitige – Umstand nichts, daß sie den Kläger zur Begrenzung von Annahmeverzugsrisiken bis zum Abschluß des Berufungsverfahrens beschäftigt habe (Prozeßbeschäftigung).
Das Landesarbeitsgericht hat nach Einholung eines Sachverständigengutachtens über die Behauptung des Klägers, seine Wirbelsäulen- und Magenleiden seien vollständig ausgeheilt, die Berufung einschließlich der Klageerweiterung zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Klageanträge weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht.
Unterschriften
Rost, Bröhl, Schmitz-Scholemann, Bensinger, Röder
Fundstellen
Haufe-Index 893415 |
DB 2003, 724 |
NWB 2003, 893 |
ARST 2003, 172 |
NZA 2003, 816 |
ZAP 2003, 385 |
AP, 0 |
EzA-SD 2003, 14 |
EzA |
ArbRB 2003, 111 |
NJOZ 2003, 1746 |
SPA 2003, 3 |