Leitsatz (amtlich)
Ein Einschreibebrief ist nicht schon dann zugegangen, wenn der Postbote bei der Zustellung niemanden antrifft, aber einen Benachrichtigungszettel hinterläßt, sondern erst dann, wenn der Brief dem Empfänger oder seinem Bevollmächtigten ausgehändigt wird.
Der Adressat, der rechtsmißbräuchlich das Abholen eines Einschreibebriefes unterläßt oder rechtsmißbräuchlich seine Aushändigung verhindert, muß sich allerdings so behandeln lassen, als wenn ihm die Sendung zugegangen wäre. (In vorliegender Entscheidung bleibt der Zeitpunkt offen, in dem in einem solchen Falle der Zugang anzunehmen ist).
Normenkette
ZPO § 554 Abs. 3; BGB §§ 130, 242
Verfahrensgang
LAG Baden-Württemberg (Urteil vom 23.05.1962; Aktenzeichen 3 Sa 16/62) |
Tenor
Die Revision, der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg, Außenkammern Stuttgart, 3. Kammer, vom 23. Mai 1962 – Az.: 3 Sa 16/62 – wird hinsichtlich des Klageantrages zu 2) als unzulässig verworfen. Im übrigen wird sie zurückgewiesen. Die Kosten der Revision trägt die Beklagte.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Klägerin war vom 1. April 1960 ab bei der Beklagten als technische Angestellte zu einem Gehalt von zuletzt 600,– DM tätig. Sie hatte etwa 25 Näherinnen und Büglerinnen zu beaufsichtigen, die an einem Förderband mit der Anfertigung von Kleidung beschäftigt waren.
Ab 14. August 1961 blieb die Klägerin der Arbeit fern. Sie war wegen Magenbeschwerden, Drehschwindel und Kreislaufstörung krank geschrieben. Am gleichen Tage gab die Beklagte einen Einschreibebrief an die Klägerin zur Post, in welchem sie ihre Unzufriedenheit mit den Leistungen der Klägerin zum Ausdruck brachte und eine Kündigung zum 30. September 1961 aussprach. Dieser Brief trug die der Beklagten von der Klägerin angegebene Anschrift „H., Frankfurter Straße 7, bei S., Die Klägerin bewohnte in diesem Hause eine selbständige Mansarde und war nicht Untermieterin der einen Stock tiefer wohnenden Familie S., sie hatte aber, da zu ihrer Mansardenwohnung keine eigene Klingel und kein eigener Briefkasten, gehörte, mit der Familie S., vereinbart, daß sie deren Briefkasten mitbenutzen dürfe. Auf diesem war demgemäß außer dem Namen S., auch der Name der. Klägerin verzeichnet. Der Briefträger, der den Einschreibebrief am 15. August 1961 zustellen wollte, klingelte bei S.; dort meldete sich niemand. Das wiederholte sich am 16. August 1961. Daraufhin warf der Briefträger den im Postverkehr üblichen Benachrichtigungszettel ein, auf dem der Klägerin mitgeteilt wurde, daß für sie eine Einschreibesendung eingegangen sei und abgeholt worden könne und daß vom 23. August 1961 ab die Zustellung noch einmal versucht werden solle. Die Klägerin schickte mit diesem Zettel eine Nachbarin zur Post, dieser wurde aber der Einschreibebrief nicht ausgehändigt. Die Post gab den Brief, ohne nochmal eine Zustellung zu versuchen, am 28. August 1961 als unbestellbar zurück. Darauf schickte die Beklagte am 29. August 1961 zwei ihrer Angestellten in die Wohnung der Klägerin., Diese übergaben ihr dort das Kündigungsschreiben. Die Klägerin wies unter Vorzeigen eines ärztlichen Attestes auf eine Schwangerschaft und das dadurch bedingte Kündigungsverbot hin.
Am 19. September 1961 hatte die Klägerin eine Fehlgeburt.
Anfang Oktober 1961 schickte die Beklagte ihr die Arbeitspapiere.
Die am 11. Oktober 1961 wieder gesund und arbeitsfähig geschriebene Klägerin erhob am 20. Oktober 1961 vor dem Arbeitsgericht Klage mit dem Antrage, festzustellen, daß die mit Schreiben vom 14. August 1961 zum 30. September 1961 ausgesprochene Kündigung rechtsunwirksam sei. Mit Schriftsatz vom 10. November 1961 beantragte sie noch, weiterhin festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis auch durch das Übersenden der Arbeitspapiere nicht aufgelöst worden sei.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesene. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
I. Hinsichtlich des mit dem Schriftsatz vom 10. November 1961 erhobenen Klageantrags ist die Revision der Beklagten unzulässig.
Die Klägerin hat zwei Klageanträge zur Hauptentscheidung des Gerichts gestellt, einen Klageantrag zu 1), der die im Schreiben vom 14. August 1961 ausgesprochene Kündigung betrifft, und einen Klageantrag zu 2), mit dem sie die Feststellung begehrt, daß das Arbeitsverhältnis durch die Übersendung der Arbeitspapiere nicht aufgelöst worden ist. Dem Gericht wurden zwei Vorgänge unterbreitet, in denen die Beklagte jeweils, im Hinblick auf die zeitliche Trennung beider Vorgänge, einen besonderen Kündigungsausspruch gesehen hat. Die Vorinstanzen haben beiden Klageanträgen stattgegeben., also festgestellt, daß weder durch das Schreiben vom 14. August 1961 noch durch das Übersenden der Arbeitspapiere das Arbeitsverhältnis der Parteien aufgelöst sei. Die Beklagte hat den Revisionsantrag auf Abweisung der Klage gestellt und damit sowohl die Abweisung des Klageantrags zu 1) als auch – hilfsweise – des Klageantrags zu 2) beantragte Gemäß § 554 ZPO mußte dann auch zu jedem der, bei den Vorstellungen der Beklagten zu beiden Vorgängen, für sich selbständigen Begehren der Klägerin, deren Abweisung die Beklagte beantragte, eine selbständige Begründung gegeben werden (BAG 2, 58 [59]). Die Revisionsbegründung der Beklagten beschäftigt sich aber lediglich mit der im Schreiben vom 14. August 1961 ausgesprochenen Kündigung, des näheren mit der Frage, ob diese Kündigung der Klägerin zugegangen ist. Zum Klageantrag zu 2) fehlt jede Stellungnahme; die für die Entscheidung zu diesem Klageantrag maßgebende Erwägung des Landesarbeitsgerichts, in der Übersendung der Arbeitspapiere liege hier keine Kündigung, wird nicht bekämpft. Mangels einer Begründung hinsichtlich des Klageantrags zu 2) mußte daher die Revision der Beklagten als unzulässig verworfen werden.
II. Hinsichtlich des Klageantrags zu 1) ist die Revision unbegründet.
Nach § 9 Abs. 1 MuSchG ist die Kündigung gegenüber einer Schwangeren unzulässig, wenn dem Arbeitgeber zur Zeit der Kündigung die Schwangerschaft bekannt war oder innerhalb einer Woche nach Zugang der Kündigung mitgeteilt wird.
Die der Beklagten nicht bekannte Schwangerschaft wurde ihr von der Klägerin am 29. August 1961 mitgeteilt. Diese Mitteilung wäre verspätet und der Kündigungsschutz des Mutterschutzgesetzes würde demgemäß entfallen, wenn das Kündigungsschreiben vom 14. August 1961 der Klägerin schon länger als eine Woche vor dem 29. August 1961 zugegangen wäre.
Das war aber, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat, nicht der Fall. Am 16. August 1961 ging der Klägerin nur die Benachrichtigung der Post, daß für sie ein Einschreibebrief eingegangen sei und auf der Post abgeholt werden könne, zu, aber nicht der Einschreibebrief selbst (so auch RAG in ARS 15, 354).
Den Ausführungen der Revision, daß diese Benachrichtigung der Post über den Eingang eines Einschreibebriefes dem Zugang des Einschreibebriefes gleichzusetzen sei, weil die Klägerin nunmehr sich in. den Besitz des Einschreibebriefes habe setzen können, vermochte der Senat nicht beizupflichten. Die von der Beklagten zum Vergleich angeführten Fälle, in. denen der Empfänger ein Postfach unterhält und dorthin die Postsachen gehen laßt oder postlagernde Sendungen erbittet, liegen im Kernpunkt anders. Zwar holt sich der Adressat auch dann seine Postsachen von der Post ab; sie sind aber genau an derjenigen Stelle abgegeben oder in derjenigen Vorrichtung niedergelegt, die der Empfänger selbst für den Empfang seiner Postsachen bestimmt und gewählt hat. Das Postfach oder der Schalter für postlagernde Sendungen sind deshalb nicht anders zu behandeln als der Briefkasten am Hauseingang. Die im Postfach und am Schalter für postlagernde Sendungen für den Empfänger abgelegten Sendungen sind bereits in seinen Machtbereich gelangt, wie die in seinen Briefkasten eingeworfene Post, mithin im Sinne des § 130 BGB zugegangen. Anders liegt es dagegen beim Einschreibebrief. Dieser ist nach den bekannten postalischen Bestimmungen nur dem Empfänger selbst oder seinem Empfangsbevollmächtigten auszuhändigen; eine Niederlegung im Briefkasten oder im Postfach, ein Durchschieben unter der W ohnungstür, kommt bei ihm nicht in Betrachte. Der Einschreibebrief kann also bei Abwesenheit des Empfängers nicht in seinen Machtbereich gelangen, er bleibt vielmehr im Besitz der Postanstalt. In den Machtbereich des Empfängers gelangt lediglich jener Benachrichtigungszettel der Post, durch den der Empfänger darauf aufmerksam gemacht wird, daß für ihn eine Einschreibesendung bei der Postanstalt liegt.
Dieser Benachrichtigungszettel enthält auch keinen Hinweis darauf, wer der Absender des Einschreibebriefes ist, so daß der Empfänger völlig im Ungewissen darüber bleibt, welche Angelegenheit die Einschreibesendung überhaupt zum Gegenstand hat. Daraus folgt, daß der Benachrichtigungszettel nicht den Einschreibebrief und der Zugang des Benachrichtigungszettels nicht den Zugang des Einschreibebriefes ersetzen oder vermitteln kann. Dieser gelangt immer erst dann, wenn er bei der Postanstalt abgeholt oder bei einer zweiten Zustellung ausgehändigt wird, in den Machtbereich des Empfängers.
Die Benutzung von Einschreibebriefen für die Wahrung von Fristen ist somit manchmal nicht ganz ungefährlich, obwohl man weitgehend in der Verwendung derartiger Postsendungen ein besonders sicheres Mittel zur Übermittlung wichtiger Sendungen erblickt. Das kann aber, entgegen Hueck-Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 6. Aufl., I, S. 490/491, Fußn. 1., nicht dazu führen, im Zugang des Benachrichtigungszettels schon den Zugang der Mitteilung im Einschreibebrief zu sehen. Weil aus dem Benachrichtigungszettel nun einmal nichts über Absender und Inhalt der Einschreibesendung zu entnehmen ist, würde zu Gunsten des Absenders und zu Lasten des Empfängers ein Zugang unterstellt werden, der gar nicht erfolgt ist. Der Empfänger wäre benachteiligt.
Allerdings muß der Adressat, wenn er rechtsmißbräuchlich das Abholen des Einschreibebriefes unterläßt oder rechtsmißbräuchlich die Aushändigung verhindert, sich so behandeln lassen, als wenn ihm die Sendung zugegangen wäre.
Zu welchem Zeitpunkt dann der Zugang anzunehmen ist, brauchte der Senat nicht zu entscheidend Denn nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hatte die Klägerin eine Bekannte mit der Abholung des Einschreibebriefes beauftragt; ein Fall des mißbräuchlichen Verhaltens liegt somit nicht vor. Eine nähere Kenntnis der postalischen Vorschriften über die Abholung eines Einschreibebriefes durch Dritte kann nicht von jedem verlangt werden. Es kann der Klägerin auch nicht vorgeworfen werden, daß sie bei der Angabe ihrer Anschrift und bei der Mitanführung ihres Namens auf dem Briefkasten der Familie S. m. keinen Hinweis auf die Selbständigkeit ihres Mansardenzimmers gegeben hat. Ihre Angaben mußten im normalen Verlauf der Dinge zur Zustellung auch eines Einschreibebriefes, und zwar auch eines Einschreibebriefes ihrer Arbeitgeberin an sie führen. Weitere Maßnahmen wieder von einem gewöhnlichen Bürger zu erwarten, würde eine Überspannung bedeuten.
Unterschriften
gez. Dr. Müller, Schilgen, Dr. Meier-Scherling, Dr. F. Müller, H. Krebs
Fundstellen
Haufe-Index 437741 |
BAGE, 313 |
DB 1963, 176 (LT1-2) |
NJW 1963, 554 |
NJW 1963, 554 (LT1-2) |
MDR 1963, 251 (LT1-2) |
WA 1963, 10 (LT1-2) |
DVBl. 1963, 413 |