Entscheidungsstichwort (Thema)
Richterwechsel, Verzicht auf mündliche Verhandlung
Leitsatz (NV)
- Nach Vertagung einer mündlichen Verhandlung ist ein Wechsel auf der Richterbank zulässig.
- Ein Wechsel in der Besetzung des Gerichts lässt die Wirksamkeit einer zuvor erklärten Verzichtserklärung grundsätzlich unberührt. Die Beteiligten können ihre Verzichtserklärung allerdings widerrufen, wenn sich die Prozesslage wesentlich ändert.
- Von einem Verbrauch des Verzichts auf mündliche Verhandlung kann nur ausgegangen werden, wenn das Gericht zwischenzeitlich eine die Endentscheidung wesentlich sachlich vorbereitende Entscheidung erlässt.
Normenkette
FGO § 90 Abs. 1-2, §§ 103, 115 Abs. 2 Nr. 3, § 119 Nr. 3; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
I. In der Sache ist streitig, ob ein Forderungserlass gegenüber der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) bei dieser zu einem steuerfreien Sanierungsgewinn führt. Im Klageverfahren hat das Finanzgericht (FG) am 28. August 2002 in der Besetzung des Vorsitzenden Richters A, der Richter B und C und zweier ehrenamtlicher Richter mündlich verhandelt und darauf die Sache vertagt, nachdem es auf die Möglichkeit einer bestimmten rechtlichen Beurteilung des Streitfalles hingewiesen hat. In einem nachfolgenden Schriftsatz vom 26. September 2002 hat die Klägerin auf eine (weitere) mündliche Verhandlung verzichtet. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) hatte bereits zuvor in seiner Stellungnahme zur Klage vom 7. Februar 2001 auf mündliche Verhandlung verzichtet. Mit Urteil vom 22. Januar 2003 wies das FG die Klage ohne mündliche Verhandlung in der Besetzung der Richter A, B und C und zwei anderer ehrenamtlicher Richter ab.
Mit ihrer Beschwerde begehrt die Klägerin die Zulassung der Revision. Sie rügt Verfahrensmängel der Vorinstanz (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―). Da das Urteil mehrheitlich von Richtern gefällt worden sei, die an der mündlichen Verhandlung nicht teilgenommen hatten, liege ein Verstoß gegen § 103 FGO vor. Die Entscheidung werde im Wesentlichen auf Umstände gestützt, die in der mündlichen Verhandlung erörtert worden seien. Im Übrigen habe das FG nicht ohne weitere mündliche Verhandlung entscheiden dürfen. Der vom FA ursprünglich erklärte Verzicht sei durch die später durchgeführte Verhandlung gegenstandslos geworden. Die Tatsache, dass die Klägerin inzwischen selbst auf mündliche Verhandlung verzichtet habe, berühre ihr dahin gehendes Rügerecht nicht.
Das FA tritt der Beschwerde entgegen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist nicht begründet und war daher zurückzuweisen. Das Verfahren des FG ist nicht zu beanstanden.
Das FG hat nicht gegen § 103 FGO verstoßen. Nachdem es die mündliche Verhandlung vertagt hatte, war ein Wechsel auf der Richterbank zulässig. Abweichendes kann lediglich bei einer bloßen Unterbrechung der mündlichen Verhandlung gelten, wenn sich eine und dieselbe mündliche Verhandlung über mehrere Verhandlungstage hinzieht (ständige Rechtsprechung, vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 11. Dezember 1968 I R 138/67, BFHE 95, 24, BStBl II 1969, 297; vom 11. September 1997 XI R 76/96, BFH/NV 1998, 468; BFH-Beschluss vom 9. März 1994 II R 41/92, BFH/NV 1994, 880, m.w.N.). Das FG hat somit zutreffend in der Besetzung entschieden, die nach dem Geschäftsverteilungsplan für den Beratungstag 22. Januar 2003 maßgebend war (BFH-Beschluss vom 1. August 1997 IX R 15/97, BFH/NV 1998, 67; vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 90 Anm. 18, m.w.N.).
Das FG hat auch nicht den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (§ 119 Nr. 3 FGO, Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes ―GG―) verletzt, indem sein Urteil ohne weitere mündliche Verhandlung ergangen ist. Denn die Beteiligten hatten zuvor wirksam auf mündliche Verhandlung verzichtet (§ 90 Abs. 2 FGO), dies gilt auch für die bereits am 7. Februar 2001 erfolgte Verzichtserklärung des FA. Ein Wechsel in der Besetzung des Gerichts lässt die Wirksamkeit einer zuvor erklärten Verzichtserklärung grundsätzlich unberührt (BFH-Beschluss vom 3. Dezember 1996 VIII S 3/96, BFH/NV 1997, 292, m.w.N.). Allerdings haben die Beteiligten das Recht, ihre Verzichtserklärung zu widerrufen, wenn sich die Prozesslage wesentlich ändert. In diesem Falle kann auch eine dahin gehende Anfrage durch das Gericht geboten sein (BFH-Urteile vom 6. April 1990 III R 62/89, BFHE 160, 405, BStBl II 1990, 744; vom 29. April 1999 V R 102/98, BFH/NV 1999, 1480, jeweils m.w.N.). Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall indessen nicht vor, ein Widerruf ist auch nicht erfolgt. Die Verzichtserklärung (des FA) war vorliegend auch nicht "verbraucht". Zwar kann von einem Verbrauch des Verzichts auf mündliche Verhandlung auszugehen sein, wenn das Gericht zwischenzeitlich eine die Endentscheidung sachlich wesentlich vorbereitende Entscheidung erlässt (BFH-Urteile vom 5. März 1986 I R 28/81, BFH/NV 1987, 651, m.w.N.; vom 5. Juli 1995 X R 39/93, BFHE 178, 301, BStBl II 1995, 842; in BFH/NV 1999, 1480; vgl. auch Gräber/Koch, a.a.O., § 90 Anm. 15, m.w.N.). Vorliegend hat das FG die mündliche Verhandlung vom 28. August 2002 jedoch lediglich vertagt, nachdem es auf die Möglichkeit einer bestimmten rechtlichen Würdigung des Streitfalles hingewiesen hat; eine Entscheidung im genannten Sinne ist darin nicht zu erblicken.
Fundstellen
Haufe-Index 1093685 |
BFH/NV 2004, 350 |
IStR 2004, 610 |