Entscheidungsstichwort (Thema)
Verzicht auf Beweiserhebung im finanzgerichtlichen Verfahren
Leitsatz (NV)
1. Erscheint der Kläger nicht zur mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht, so liegt darin regelmäßig kein Verzicht auf eine beantragte Beweisaufnahme.
2. Der Kläger kann den rechtzeitigen Zugang eines Einspruchschreibens noch im Verfahren vor dem Finanzgericht grundsätzlich ohne zeitliche Begrenzung nachweisen.
Normenkette
AO 1977 § 110; FGO § 76 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erzielte im Streitjahr 1988 Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) gab den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr am 7. März 1989 zur Post.
Während der Einspruchsfrist äußerte der Kläger beim FA telefonisch Zweifel an der Richtigkeit der Steuerfestsetzung.
Im Juli 1989 legte er als Anlage zur Beschwerde über Pfändungsmaßnahmen eine Ablichtung eines Einspruchsschreibens vom 5. April 1989 gegen den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vor.
Das FA teilte dem Kläger daraufhin mit, das Original des Einspruchsschreibens liege ihm nicht vor. Es forderte den Kläger vergeblich auf darzulegen, wann er das Einspruchsschreiben abgesandt habe.
Nachdem das FA den Einspruch wegen Fristversäumung als unzulässig verworfen hatte, erhob der Kläger Klage mit der Begründung, er habe das Einspruchsschreiben vom 5. April 1989 rechtzeitig in den Hausbriefkasten des FA eingeworfen; er trat hierfür Zeugenbeweis durch Benennung einer Angestellten seines damaligen steuerlichen Beraters an.
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Einkommensteuerfestsetzung sei unanfechtbar geworden. Wiedereinsetzungsgründe lägen nicht vor. Der Vortrag des Klägers, die Angestellte habe das Einspruchsschreiben rechtzeitig in den Hausbriefkasten des FA eingeworfen, sei verspätet.
Mit der Revision rügt der Kläger, das FG habe es verfahrensfehlerhaft unterlassen, Beweis über den rechtzeitigen Eingang des Einspruchsschreibens beim FA zu erheben. Außerdem sei er, der Kläger, davon ausgegangen, daß er auch telefonisch Einspruch einlegen könne.
Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Einkommensteuer für das Streitjahr auf ... DM festzusetzen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt wegen eines Verfahrensfehlers zur Auf hebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).
Das FG hat § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO dadurch verletzt, daß es zu Unrecht den Beweisantrag des Klägers übergangen hat. Auf eine beantragte Beweiserhebung kann das FG im Regelfall nur verzichten, wenn es die Richtigkeit der durch das Beweismittel zu beweisenden Tatsache zugunsten der betreffenden Partei unterstellt, das Beweismittel nicht erreichbar oder die Tatsache rechtsunerheblich ist (Urteile des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 13. August 1969 II 213/65, BFHE 98, 210, BStBl II 1970, 338; vom 10. Januar 1978 VII R 106/74, BFHE 124, 305, BStBl II 1978, 311; vom 22. April 1988 III R 59/83, BFH/NV 1989, 38). Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor.
Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, der Kläger hätte den Zeugenbeweis für die Rechtzeitigkeit des Einspruchs bereits im Einspruchsverfahren antreten müssen. Es geht im Streitfall nicht um die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Fristversäumung (§ 110 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung -- AO 1977 --), sondern darum, ob das Original des vom Kläger in Ablichtung eingereichten Einspruchsschreibens vom 5. April 1989 tatsächlich innerhalb der Einspruchsfrist beim FA eingegangen ist. Dies kann der Kläger im Verfahren vor dem FG grundsätzlich ohne zeitliche Begrenzung nachweisen. Hierfür hatte er Beweis angetreten.
Der Kläger hat nicht auf die Beweiserhebung verzichtet, insbesondere nicht dadurch, daß er zur mündlichen Verhandlung vor dem FG nicht erschienen ist. Die Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung bedeutet regelmäßig keinen Verzicht auf eine beantragte Beweisaufnahme (BFH-Urteil vom 21. Juni 1988 VII R 135/85, BFHE 153, 393, BStBl II 1988, 841).
Wegen dieses Verfahrensfehlers ist die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache mangels Spruchreife zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen. Das FG wird die unterlassene Beweisaufnahme nachholen müssen. Im weiteren Verfahren wird ggf. auch zu berücksichtigen sein, daß der Kläger innerhalb der Einspruchsfrist telefonisch einen Antrag auf schlichte Änderung der Einkommensteuerfestsetzung für das Streitjahr (§ 172 Abs. 1 Nr. 2 a AO 1977) gestellt haben könnte.
Fundstellen
Haufe-Index 420554 |
BFH/NV 1995, 987 |