Leitsatz (amtlich)
Ist für das Einspruchsverfahren eine Vollmacht erteilt worden, so berechtigt sie mangels eines erkennbar entgegenstehenden Willens des Vollmachtgebers nicht zur Erhebung einer Klage, wenn der Einspruch Erfolg hatte.
Normenkette
AO § 240
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (HZA) erließ am 4. Juli 1972 gegen den Kläger und Revisionskläger (Kläger) einen Bescheid über 627 044 DM Einfuhrumsatzsteuer. Daraufhin erteilte der Kläger dem Rechtsanwalt G eine nichtdatierte schriftliche "Prozeßvollmacht bezüglich sämtlicher, sich auf den Steuerbescheid vom 4. Juli 1972 des Hauptzollamts ... beziehender Verfahren". Rechtsanwalt G legte im Namen des Klägers gegen den Steuerbescheid im Juli 1972 Einspruch ein und übergab die Vollmacht dem HZA. Dieses erteilte dem Kläger zu Händen des Rechtsanwalts G am 15. Dezember 1972 den schriftlichen Bescheid, es hebe hiermit den Steuerbescheid vom 4. Juli 1972 gemäß § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO auf; damit sei dem Einspruch in vollem Umfang abgeholfen.
Am 27. Dezember 1972 ging beim FG ein Schriftsatz des Rechtsanwalts G mit dem Datum des 12. Dezember 1972 ein, durch den dieser im Namen des Klägers gegen den Steuerbescheid vom 4. Juli 1972 Klage erhob mit dem Antrag, das HZA zu verurteilen, über den Einspruch des Klägers gegen den Steuerbescheid vom 4. Juli 1972 sachlich innerhalb einer vom Gericht zu bestimmenden Frist zu entscheiden. Der Schriftsatz schloß mit der Erklärung, die Vollmacht befinde sich in den beizuziehenden Akten des HZA. Rechtsanwalt G wurde durch Schreiben der Geschäftsstelle des FG vom 28. Dezember 1972 gebeten, eine Vollmacht vorzulegen, und hieran durch ein Schreiben des Vorsitzenden des FG vom 20. März 1974 erfolglos erinnert; weitere vom Vorsitzenden veranlaßte Erinnerungen vom 3. April, 27. November und 4. Dezember 1974 waren ebenfalls vergeblich. Rechtsanwalt G wurde gleichwohl als Vertreter des Klägers zur mündlichen Verhandlung vom 16. Januar 1975 geladen, erschien jedoch nicht. Nach Schluß der Verhandlung verkündete das FG das Urteil, daß die Klage als unzulässig verworfen werde und die Kosten des Verfahrens dem Kläger auferlegt werden. Auch hierbei behandelte es den Rechtsanwalt G als Bevollmächtigten des Klägers. Es stützte seine Entscheidung auf die Auffassung, das Rechtsschutzbedürfnis des Klägers gegenüber dem Steuerbescheid vom 4. Juli 1972 sei mit dessen Zurücknahme durch den Bescheid vom 15. Dezember 1972 entfallen. Es ließ die Entscheidung am 27. Februar 1975 dem Rechtsanwalt G zustellen. Die undatierte "Prozeßvollmacht". die der Kläger dem Rechtsanwalt G erteilt und dieser dem HZA übergeben hatte, befindet sich in der Klageakte des FG und trägt dessen Eingangsstempel vom 4. März 1975.
Mit Schriftsatz vom 1. August 1975, der am 2. August 1975 beim FG einging, erklärte der Kläger durch seinen nunmehrigen Vertreter Rechtsanwalt K:
Ihm sei am 29. Juli 1975 ein Leistungsgebot des HZA zugestellt worden, das sich auf einen ihm unbekannten Kostenansatz des FG vom 8. April 1975 beziehe. Ihm sei auch die dem Kostenansatz zugrunde liegende Entscheidung nicht bekannt. Erst durch das Leistungsgebot habe er erfahren, daß vor dem FG offenbar ein Rechtsstreit anhängig gewesen sei. Diesen Vorgang könne er sich nur damit erklären, daß sein früherer Bevollmächtigter, Rechtsanwalt G, der im Jahre 1972 in seinem Namen gegen einen Steuerbescheid Einspruch eingelegt habe, unbefugterweise später auch Zustellungen vom FG entgegengenommen habe. Von einem Verfahren vor dem FG habe ihm Rechtsanwalt G keinerlei Mitteilung gemacht. Er lege vorsorglich gegen die dem Kostenansatz zugrunde liegende gerichtliche Entscheidung Rechtsmittel ein.
Mit einem weiteren Schriftsatz vom 28. August 1975 (eingegangen beim FG am 1. September 1975) erklärte der Kläger:
Er bestreite, dem Rechtsanwalt G eine Vollmacht zur Führung eines Rechtsstreits vor dem FG erteilt zu haben. Er sei also für das finanzgerichtliche Verfahren nicht wirksam vertreten gewesen. Alle an Rechtsanwalt G vorgenommenen Zustellungen hätten ihm gegenüber keine Wirkung und deshalb auch keine Frist in Gang gesetzt.
Vorsorglich jedoch beantrage er die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionsfrist. Zur Begründung dieses Antrags hat der Kläger durch weitere Schriftsätze vorgetragen: Aus dem Wortlaut der dem Rechtsanwalt G erteilten Vollmacht und deren Einreichung beim HZA gehe hervor, daß die Vollmacht zu seiner Vertretung vor der Zollbehörde gedacht gewesen sei, nicht aber dafür, in seinem Namen ein Prozeßverfahren vor dem FG anzustrengen. Nach ihrem Inhalt und dem äußeren Erscheinungsbild fehlten daher schon die Voraussetzungen für das Vorliegen einer Prozeß vollmacht. Rechtsanwalt G habe die Klage ohne sein Wissen und Wollen erhoben, und zwar offensichtlich in der Absicht, sich gegenüber dem HZA nachträglich einen Gebührenanspruch zu verschaffen. Das FG habe die Vorlage der Vollmacht wiederholt angemahnt. Das HZA habe sie erst nach der Verkündung des Urteils vom 16. Januar 1975 am 4. März 1975 vorgelegt und damit übernommen, die Prozeßführung des Rechtsanwalts zu legitimieren. Obwohl ihnen schon während des Verfahrens offenbar geworden sei, daß hier im Hinblick auf die Zulässigkeit der Klage möglicherweise manipuliert worden war, hätten sich das FG und das HZA grobfahrlässig über seine Interessen hinweggesetzt. Da eine Vollmacht trotz ständiger Mahnung nicht beigebracht worden sei, hätte das FG auf ihrem Nachweis bestehen, zumindest aber zu seinem - des Klägers - Schutze ein Verfahren gemäß §§ 88 ff. ZPO durchführen müssen. Eine Rückfrage bei ihm hätte genügt, um zu klären, ob Rechtsanwalt G Vollmacht für das FG-Verfahren besessen habe. Das HZA habe mit der Vorlage der Vollmacht an das FG entgegen jeglicher Prozeßgepflogenheit eine Obliegenheit des Klägervertreters erfüllt, anstatt gemäß seiner Stellung als Beklagter das Fehlen der Prozeßvollmacht zu rügen. Wenn es demnach um den Rechtsschein einer Vollmacht im Verfahren vor dem FG gehe, so habe nicht er - der Kläger -, sondern das HZA ihn erzeugt. Da das FG ohnehin Anlaß gehabt habe, an der Bevollmächtigung des Rechtsanwalts G zu zweifeln, hätte es sich keinesfalls damit zufriedengeben dürfen, daß ausgerechnet die beklagte Behörde die Vollmacht nachweise.
Das HZA beantragt, den Wiedereinsetzungsantrag abzulehnen, und macht geltend: Der Kläger habe den Rechtsanwalt G durch die ihm erteilte Prozeßvollmacht ermächtigt, gegen den Steuerbescheid vom 4. Juli 1972 nicht nur Einspruch einzulegen, sondern auch Klage zu erheben. In dem am 3. September 1974 dem FG übersandten den Streitfall betreffenden Aktenheft habe sich eine Ablichtung der Vollmacht befunden. Nach Abschluß des Klageverfahrens sei lediglich das bis dahin in seinen Akten befindliche Original dem FG übersandt worden. Somit sei die Prozeßvoraussetzung der Vorlage einer schriftlichen Vollmacht erfüllt worden. Bei der Entscheidung des FG über die Untätigkeitsklage sei die Prozeßvollmacht weder durch Zweckerledigung noch durch Widerruf beendet gewesen. Eine Zweckerledigung trete erst ein, wenn keine durch die Vollmacht gedeckte Handlung mehr möglich sei. Es habe also kein Anlaß bestanden, an der Bevollmächtigung des Rechtsanwalts G zu zweifeln.
Entscheidungsgründe
Der Kläger hat durch die Schriftsätze vom 1. und 29. August 1975 den Willen bekundet, gegen das FG-Urteil vom 16. Januar 1975 Revision einzulegen. Dieses Rechtsmittel steht ihm nach § 115 Abs. 1 FGO zu, da das FG ihn in diesem Urteil als Kläger und somit als Beteiligten behandelt hat. Der Schriftsatz vom 1. August 1975 enthält bereits die nach § 120 Abs. 2 Satz 1 FGO erforderliche Angabe des angefochtenen Urteils durch den Hinweis auf den Kostenansatz vom 8. April 1975 und die Erwähnung der diesem zugrunde liegenden Entscheidung.
An die Vorschrift des § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO, daß die Revision innerhalb eines Monats nach der Zustellung des Urteils einzulegen sei, ist der Kläger nicht gebunden, weil die nur an den Rechtsanwalt G gerichtete, am 27. Februar 1975 bewirkte Zustellung des Urteils ihm gegenüber rechtsunwirksam ist. Das in der mündlichen Verhandlung vom 16. Januar 1975 verkündete Urteil war nach § 104 Abs. 1 Satz 2 FGO den Beteiligten zuzustellen. Da das FG den Kläger als einen solchen behandelt hatte, hätte es das Urteil ihm persönlich zustellen lassen müssen. Die Zustellung des Urteils an Rechtsanwalt G hätte der Kläger nur dann gegen sich gelten lassen müssen, wenn jener im Sinne des § 62 Abs. 3 Satz 3 FGO für das Klageverfahren als sein Bevollmächtigter bestellt gewesen wäre. Das war aber nicht der Fall.
Ein Bevollmächtigter ist im Sinne des § 62 Abs. 3 Satz 3 FGO bestellt, wenn die ihm schriftlich erteilte Vollmacht dem FG vorliegt. Das ergibt sich aus § 62 Abs. 3 Sätze 1 und 2 FGO, wonach die Vollmacht schriftlich zu erteilen ist und nachgereicht werden kann (vgl. Beschluß des BFH vom 25. Juli 1968 V B 8/68, BFHE 92, 551, BStBl II 1968, 660, und BFH-Urteil vom 1. April 1971 IV R 208/69, BFHE 102, 442, BStBl II 1971, 689). Dem FG hat weder bei der Verkündung des Urteils am 16. Januar 1975 noch bei dessen Zustellung am 27. Februar 1975 eine vom Kläger dem Rechtsanwalt G erteilte schriftliche Vollmacht zur Erhebung der Klage vorgelegen. Die "Prozeßvollmacht". die der Kläger nach dem Erlaß des Steuerbescheides vom 4. Juli 1972 dem Rechtsanwalt G erteilt hatte, von diesem zu seiner Legitimation für das Einspruchsverfahren dem HZA übergeben worden war und von diesem nach der Zustellung des Urteils dem FG zugeleitet wurde, war bei der Erhebung der Klage am 27. Dezember 1972 bereits erloschen.
Die rechtliche Beurteilung einer im Einspruchsverfahren von einem Rechtsanwalt der Behörde übergebenen "Prozeßvollmacht" richtet sich nicht nach den Vorschriften der Finanzgerichtsordnung oder der Zivilprozeßordnung. Denn der Einspruch ist ein außergerichtlicher Rechtsbehelf, über den in einem Verwaltungsverfahren entschieden wird. Die Vorschriften über das Einspruchsverfahren sehen nur vor, daß sich der Einspruchsberechtigte durch Bevollmächtigte vertreten lassen kann (§ 240 AO), verweisen jedoch nicht auf Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Prozeßvollmacht. Deshalb ist für den Umfang einer im Einspruchsverfahren vorgelegten "Prozeßvollmacht" trotz dieser Bezeichnung gemäß § 133 BGB in erster Linie der zum Ausdruck gekommene Wille des Vollmachtgebers maßgebend, bei dessen Ermittlung allerdings § 81 ZPO analog herangezogen werden kann (vgl. Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 1.-6. Aufl., § 240 AO, Rdnr. 5; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 240 AO, Rdnr. 3). Das schließt nicht aus, daß nach einem erfolglos gebliebenen Vorverfahren eine solche Vollmacht für das gerichtliche Verfahren die volle Bedeutung einer Prozeßvollmacht im Sinne des § 81 ZPO erlangen kann.
Ist also für das Einspruchsverfahren eine Vollmacht erteilt worden, so berechtigt sie mangels eines erkennbar entgegenstehenden Willens des Vollmachtgebers nicht zur Erhebung einer Klage, wenn der Einspruch Erfolg hatte. So liegt der Fall hier. Die "Prozeßvollmacht". die Rechtsanwalt G dem HZA übergeben hatte, sollte zwar ihrem Wortlaut nach für alle sich auf den Steuerbescheid vom 4. Juli 1972 beziehende Verfahren gelten. Sie brachte aber durch die ausdrückliche Erwähnung des Steuerbescheides zum Ausdruck, daß nur solche Verfahren gemeint waren, die auf dessen Beseitigung gerichtet sind, und daß sie deshalb mit der Beseitigung des Steuerbescheides erlöschen sollte. Ihr konnte nicht entnommen werden, daß sie auch für die Erhebung einer Klage nach Zurücknahme des Steuerbescheides gelten sollte. Dieser durch die Vollmacht trotz ihrer Bezeichnung als "Prozeßvollmacht" und ihres alle Verfahrensarten umfassenden Wortlautes zum Ausdruck gekommene einschränkende Wille des Klägers war für das HZA und das FG erkennbar und daher rechtswirksam.
Der vorsorgliche Antrag des Klägers, ihm gegen die Versäumung der Revisionsfrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, ist gegenstandslos, da die Revisionsfrist infolge der Unwirksamkeit der an Rechtsanwalt G gerichteten Zustellung des Urteils noch nicht angelaufen ist.
Infolge der Unwirksamkeit der Zustellung des FG-Urteils gegenüber dem Kläger ist auch die nach § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO ebenfalls an eine rechtswirksame Zustellung gebundene Frist zur Begründung der Revision nicht angelaufen. Der Kläger hat zwar bisher noch keinen als Revisionsbegründung bezeichneten Schriftsatz vorgelegt, jedoch bereits im Schriftsatz vom 29. August 1975 erklärt, die Revision werde nach Gewährung der Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Revisionsfrist auf § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO gestützt werden. Er hat im übrigen bereits ausführlich dargelegt, daß und warum nach seiner Auffassung das FG den Rechtsanwalt G zu Unrecht als seinen Prozeßbevollmächtigten behandelt habe. Da er sich demnach mit dem angefochtenen Urteil schon auseinandergesetzt hat, wie das für eine Revisionsbegründung erforderlich ist (vgl. BFH-Beschluß vom 23. April 1971 VI R 254/70, BFHE 102, 217, BStBl II 1971, 588), kann sein bisheriges Vorbringen bereits als Revisionsbegründung angesehen werden. Es enthält gemäß § 120 Abs. 2 FGO die Bezeichnung der nach Auffassung des Klägers verletzten Rechtsnorm, daneben auch die Rüge eines Verfahrensmangels und die Bezeichnung der Tatsachen, die ihn ergeben sollen. Schließlich ist auch der Forderung genügt, daß die Revision oder die Revisionsbegründung einen bestimmten Antrag enthalten muß. Insofern reicht es aus, daß das Begehren erkennbar ist, das FG-Urteil insoweit aufzuheben, als es ihn belastet (vgl. Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. November 1954 GrSen 1.54/V C 61.54, BVerwGE 1 222).
Die Revision ist somit zulässig; sie ist auch begründet.
Das FG-Urteil war aufzuheben, weil es gemäß § 119 Nr. 4 FGO als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen ist. Der Kläger war nämlich im Verfahren vor dem FG nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten, da er dem Rechtsanwalt G keine Vollmacht zur Erhebung der Klage vom 27. Dezember 1972 erteilt hatte; er hat der Prozeßführung durch den Rechtsanwalt G weder ausdrücklich noch stillschweigend zugestimmt. Da die Sache nicht entscheidungsreif ist, muß sie zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen werden.
Fundstellen
Haufe-Index 71964 |
BStBl II 1976, 689 |
BFHE 1977, 391 |