Entscheidungsstichwort (Thema)
Widerruf der Zustimmung zum Realsplitting bei Veranlagung der geschiedenen Eheleute in demselben FA
Leitsatz (NV)
1. Für das Vorliegen einer neuen Tatsache i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO kommt es auf den Kenntnisstand der organisatorisch zuständigen Dienststelle an.
2. Die Pflicht der Dienststellen zur Zusammenarbeit und zum Erfahrungsaustausch ermöglicht keine Zurechnung von Tatsachen, die der einen Dienststelle bekannt sind, bei der anderen.
3. Aus der gesetzlichen Regelung in § 10 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 22 Nr. 1a EStG ergibt sich bereits die Notwendigkeit, dass die für den Unterhaltsempfänger zuständige Dienststelle die für den Unterhaltsleistenden zuständige Dienststelle über den Widerruf der Zustimmung zum Realsplitting informiert. Einer besonderen behördeninternen schriftlichen Anweisung, dass dies (unverzüglich) zu geschehen habe, bedarf es deshalb grundsätzlich nicht.
Normenkette
AO §§ 88, 169, 173 Abs. 1 Nr. 1, § 367 Abs. 2; EStG § 10 Abs. 1 Nr. 1, § 22 Nr. 1a
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist seit 1997 geschieden.
Gemäß notarieller Unterhaltsvereinbarung vom 2. Februar 1998 muss der Kläger an seine geschiedene Ehefrau bis zu deren Lebensende monatlichen Unterhalt in Höhe von 400 DM zahlen.
Der Kläger und seine geschiedene Ehefrau wurden auch nach der Scheidung bei demselben Finanzamt (FA), dem Beklagten und Revisionsbeklagten, zur Einkommensteuer veranlagt.
In den Jahren 1998 und 1999 wurden die erbrachten Unterhaltsleistungen bei den Einkommensteuerveranlagungen des Klägers antragsgemäß als Sonderausgaben berücksichtigt.
Mit Schreiben vom 10. August 2000 widerrief die geschiedene Ehefrau die Zustimmung zur Versteuerung der empfangenen Unterhaltsleistungen "ab sofort". Der für ihre Veranlagung zuständige Veranlagungsbezirk des FA hielt in einem Vermerk fest, dass der Widerruf ab 2001 gültig sei.
In den Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre machte der Kläger Unterhaltsleistungen in Höhe von 4 800 DM (2001) und 2 454 € (2002) als Sonderausgaben geltend. Diese wurden im Einkommensteuerbescheid 2001 vom 26. März 2002 und im Einkommensteuerbescheid 2002 vom 24. Juli 2003 jeweils antragsgemäß berücksichtigt.
Der für den Kläger zuständige Veranlagungsbezirk erhielt am 5. September 2003 eine am 3. September 2003 gefertigte Kontrollmitteilung über den Widerruf der Zustimmung der geschiedenen Ehefrau.
Am 29. Oktober 2003 erließ das FA gegenüber dem Kläger nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) geänderte Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre. Darin berücksichtigte es die Unterhaltsleistungen nicht mehr als Sonderausgaben.
Einspruch und Klage blieben erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) führte u.a. aus: Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) komme es für die Frage, ob eine Tatsache nachträglich i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO bekannt geworden sei, allein auf das Wissen des zuständigen Veranlagungsbezirks an. Für den Kläger sei jedoch ein anderer Veranlagungsbezirk als für dessen geschiedene Ehefrau zuständig gewesen. Der Umstand, dass der für die geschiedene Ehefrau zuständige Veranlagungsbezirk seiner Pflicht zur Fertigung einer Kontrollmitteilung nicht zeitnah nachgekommen sei, führe nicht zur Zurechnung des Wissens dieses Veranlagungsbezirks beim Veranlagungsbezirk des Klägers. Der für den Kläger zuständige Veranlagungsbezirk habe auch nicht seine Ermittlungspflicht verletzt. Denn für den Veranlagungsbezirk seien bei Erlass der erstmaligen Einkommensteuerbescheide 2001 und 2002 keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich gewesen, dass die Zustimmung der geschiedenen Ehefrau möglicherweise widerrufen worden sei. Das Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2007, 326 veröffentlicht.
Mit der Revision rügt der Kläger die fehlerhafte Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Das FG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass jeder Veranlagungsbezirk eine Dienststelle sei und deshalb bei Beteiligung mehrerer Veranlagungsbezirke desselben FA auf den Kenntnisstand des jeweiligen Veranlagungsbezirks abzustellen sei. Vielmehr bildeten die Veranlagungsbezirke zusammen die Dienststelle. Eine Tatsache, die dem einen Veranlagungsbezirk bekannt geworden sei, könne daher dem anderen Veranlagungsbezirk nicht nachträglich i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO bekannt werden. Die Berufung des FA auf ein nachträgliches Bekanntwerden verstoße auch gegen Treu und Glauben. Denn die verzögerte Information des für ihn, den Kläger, zuständigen Veranlagungsbezirks über den Widerruf der Zustimmung beruhe auf einem grob fahrlässigen Organisationsverschulden des FA. Schließlich seien die für ihn zuständigen Beamten nicht ihrer Nachprüfungspflicht nachgekommen. Von seiner geschiedenen Ehefrau könne er Ersatz für die höhere Steuer nicht mehr erhalten.
Der Kläger beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung und die geänderten Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2001 und 2002 vom 29. Oktober 2003 aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FA hat die angefochtenen Bescheide zu Recht auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gestützt.
1. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen.
a) Für die Frage, ob eine Tatsache nachträglich bekannt geworden ist, kommt es nach ständiger Rechtsprechung des BFH auf den Kenntnisstand der Personen an, die innerhalb der Finanzbehörde nach dem behördeninternen Organisationsplan dazu berufen sind, den betreffenden Steuerfall zu bearbeiten (BFH-Urteile vom 20. Juni 1985 IV R 114/82, BFHE 143, 520, BStBl II 1985, 492; vom 13. Mai 2004 IV R 11/02, BFH/NV 2004, 1400; Klein/ Rüsken, AO, 9. Aufl., § 173 Rz 62a). Zu diesen Personen zählen in der Regel der (zeichnungsberechtigte) Sachbearbeiter, der Sachgebietsleiter und der Vorsteher des FA (BFH-Urteil vom 28. April 1998 IX R 49/96, BFHE 185, 370, BStBl II 1998, 458; vgl. auch BFH-Urteil vom 16. Juni 2004 X R 56/01, BFH/NV 2004, 1502). Diese Personen sind die Dienststelle im Sinne der Rechtsprechung des BFH (vgl. Urteile in BFHE 143, 520, BStBl II 1985, 492; vom 20. Juli 1988 I R 136/84, BFH/NV 1990, 64; vom 19. Juni 1990 VIII R 69/87, BFH/NV 1991, 353; vom 3. Mai 1991 V R 36/90, BFH/NV 1992, 221).
Ergibt sich die Tatsache aus dem Akteninhalt der für die Bearbeitung des Steuerfalls organisatorisch zuständigen Dienststelle in diesem Sinne, gilt sie als bekannt (BFH-Urteil vom 13. Juli 1990 VI R 109/86, BFHE 161, 11, BStBl II 1990, 1047, m.w.N.). Ist dies nicht der Fall, kommt es darauf an, ob sie einem Bediensteten der zuständigen Dienststelle bekannt gegeben worden ist (BFH-Urteil in BFHE 185, 370, BStBl II 1998, 458, m.w.N.).
b) Auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des FG ist im Streitfall der für den Kläger zuständigen Dienststelle der Widerruf der Zustimmung der geschiedenen Ehefrau des Klägers zum Realsplitting erst nachträglich i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO bekannt geworden.
Für die geschiedene Ehefrau einerseits und den Kläger andererseits waren unterschiedliche Veranlagungsbezirke des FA und damit unterschiedliche Sachbearbeiter zuständig. Der für den Kläger zuständige Veranlagungsbezirk hat die Mitteilung des für die geschiedene Ehefrau zuständigen Veranlagungsbezirks über den Widerruf der Zustimmung erst am 5. September 2003 und damit nach den erstmaligen Steuerfestsetzungen in den Bescheiden vom 26. März 2002 und vom 24. Juli 2003 erhalten. Unter diesen Umständen läge ein nachträgliches Bekanntwerden nur dann nicht vor, wenn vor Erlass der erstmaligen Steuerbescheide der Vorsteher des FA positive Kenntnis des Widerrufs der Zustimmung erlangt hätte oder wenn derselbe Sachgebietsleiter für beide Veranlagungsbezirke zuständig gewesen wäre und positive Kenntnis erlangt hätte (vgl. BFH-Beschluss vom 16. Januar 2002 VIII B 96/01, BFH/NV 2002, 621, m.w.N.; Loose in Tipke/ Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 173 AO Rz 38). Hierfür bestehen jedoch nach Aktenlage keine Anhaltspunkte. Nach den Angaben des FA, die der Kläger nicht bestritten hat, war zu keiner Zeit derselbe Sachgebietsleiter für beide Veranlagungsbezirke zuständig.
2. Die Pflicht der Dienststellen zur Zusammenarbeit und zum Erfahrungsaustausch ermöglicht nach der zutreffenden Rechtsprechung des BFH keine Zurechnung von Tatsachen, die der einen Dienststelle bekannt sind, bei der anderen (z.B. Urteile in BFHE 143, 520, BStBl II 1985, 492; in BFH/NV 1990, 64; in BFH/NV 1991, 353; in BFH/NV 1992, 221; vom 17. November 1998 VIII R 24/98, BFHE 187, 292, BStBl II 1999, 223; in BFH/NV 2004, 1502, m.w.N.). Soweit Hutter (BFH-PR 2003, 442) dies unter Hinweis auf das BFH-Urteil vom 23. März 1983 I R 182/82 (BFHE 138, 313, BStBl II 1983, 548) anders beurteilt, vermag der Senat ihm nicht zu folgen. In dem genannten Urteil hat der BFH zwar entschieden, dass die Rechtsbehelfsstelle eines FA bei der Entscheidung über den Einspruch eines Steuerpflichtigen grundsätzlich alle Tatsachen verwerten muss, die der Veranlagungsdienststelle bekannt sind. Diese Rechtsprechung kann aber nicht auf das Verhältnis zwischen den verschiedenen Veranlagungsdienststellen, die für Unterhaltsempfänger und Unterhaltsleistenden zuständig sind, übertragen werden. Denn da die Rechtsbehelfsstelle die Sache in vollem Umfang erneut zu prüfen hat und ggf. den Steuerbescheid ändern kann (§ 367 Abs. 2 AO), ist das Einspruchsverfahren als ein verlängertes Veranlagungsverfahren zu betrachten. Dagegen sind die bei unterschiedlichen Veranlagungsdienststellen geführten Veranlagungsverfahren selbstständig.
3. Auch wenn eine Tatsache der zuständigen Dienststelle nach den vorgenannten Grundsätzen zunächst unbekannt war, ist es ihr allerdings unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben verwehrt, unter Berufung auf das nachträgliche Bekanntwerden einen Änderungsbescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu erlassen, wenn die Tatsache infolge Verletzung der den Finanzbehörden obliegenden Ermittlungspflicht (§ 88 AO) verborgen geblieben ist (ständige BFH-Rechtsprechung, z.B. Urteile in BFH/NV 1992, 221; in BFH/NV 2004, 1502, m.w.N.). Im Streitfall hatte die für den Kläger zuständige Dienststelle des FA keinen Anlass, bei der für die geschiedene Ehefrau zuständigen Dienststelle wegen des Fortbestehens der Zustimmung zum Realsplitting nachzufragen. Entgegen der Ansicht des Klägers machte ein Wechsel in der Person des Bearbeiters eine solche Nachfrage nicht notwendig.
Aus der gesetzlichen Regelung in § 10 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 22 Nr. 1a des Einkommensteuergesetzes (EStG) ergibt sich zwar eine Pflicht der beteiligten Finanzämter bzw. Dienststellen zum Zusammenwirken (vgl. BFH-Urteil in BFHE 143, 520, BStBl II 1985, 492). Der Gesetzgeber hat aber in Kauf genommen, dass der Unterhaltsleistende im Falle eines fehlenden Kontaktes zwischen ihm und dem Unterhaltsempfänger erst mit einer --u.U. nicht unerheblichen-- zeitlichen Verzögerung im Rahmen seiner Einkommensteuerveranlagung erfährt, der Unterhaltsempfänger habe bereits in einem vorangegangenen Veranlagungszeitraum seine Zustimmung i.S. des § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG widerrufen. Nach der gesetzlichen Konzeption hätte der Kläger im Streitfall frühestens im Laufe des Jahres 2002 durch den Einkommensteuerbescheid 2001 davon Kenntnis erlangen können, dass seine geschiedene Ehefrau im Jahr 2000 die Zustimmung widerrufen hat. Vor diesem gesetzlichen Hintergrund sieht der Senat keine Hinweise für ein Organisationsverschulden. Die Notwendigkeit, den für den Unterhaltsleistenden zuständigen Veranlagungsbezirk über den Widerruf der Zustimmung zu informieren, ergibt sich aus der gesetzlichen Regelung in § 10 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 22 Nr. 1a EStG unmittelbar. Einer besonderen schriftlichen Anweisung, dass dies (unverzüglich) zu geschehen habe, bedarf es deshalb jedenfalls so lange nicht, als sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der offensichtlich notwendige Informationsaustausch nicht im gebotenen Umfange rechtzeitig vorgenommen wird. Derartige Anhaltspunkte sind seitens des Klägers nicht vorgetragen worden und dem Senat auch nicht bekannt.
4. Außerhalb des Anwendungsbereichs des Grundsatzes von Treu und Glauben ist die verzögerte Übersendung einer Mitteilung über den Widerruf erst dann geeignet, eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu verhindern, wenn die Festsetzungsverjährungsfrist bereits abgelaufen ist (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 169 Abs. 1 AO). Denn die Änderungsbefugnis nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO wird in zeitlicher Hinsicht lediglich durch die Festsetzungsverjährungsfrist begrenzt (§ 169 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 169 Abs. 2 AO). Dies gilt gleichermaßen bei Veranlagung von Unterhaltsleistendem und Unterhaltsempfänger in verschiedenen FA wie bei Veranlagung in demselben FA. Eine Ungleichbehandlung der beiden Fallgruppen ist nicht gerechtfertigt.
Fundstellen
Haufe-Index 1855211 |
BFH/NV 2008, 367 |
HFR 2008, 108 |
NWB 2008, 4 |
NWB 2008, 501 |