Leitsatz (amtlich)
1. Der Abfindungsbegriff in § 3 Nr. 9 EStG i. d. F. vor dem Einkommensteuerreformgesetz 1975 ist an den Abfindungsbegriff der §§ 9 und 10 KSchG gebunden.
2. Der Zeitpunkt, der der Berechnung der steuerfreien Abfindung wegen Entlassung aus einem Dienstverhältnis zugrunde zu legen ist (§ 3 Nr. 9 EStG 1971), braucht nicht übereinzustimmen mit dem Zeitpunkt, der für die Beendigung des Dienstverhältnisses und die Ermittlung der tarifbegünstigt zu versteuernden Entlassungsentschädigung maßgebend ist (§ 34 Abs. 1, § 24 Nr. 1 a EStG).
Normenkette
EStG 1971 § 3 Nr. 9, § 24 Nr. 1a, § 34 Abs. 1-2
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war seit dem 1. September 1971 Reisender im Anstellungsverhältnis bei der A-GmbH. Sein Monatsgehalt betrug 3 000 DM. Nachdem es im Streitjahr 1972 zwischen der GmbH und dem Kläger zu Meinungsverschiedenheiten und Spannungen gekommen war, kündigte die GmbH das Anstellungsverhältnis mit Schreiben vom 23. Juni 1972 unter Einhaltung der vertraglich vereinbarten Kündigungsfrist zum 31. Dezember 1972. Da der Kläger die Kündigung für sozial ungerechtfertigt hielt, erhob er Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht. Dieser Rechtsstreit endete mit folgendem gerichtlichen Vergleich:
"1. Das Arbeitsverhältnis der Parteien endet einvernehmlich am 30.9.72. Der Kläger bleibt bis dahin von der Arbeitsleistung freigestellt.
2. Die Beklagte zahlt an den Kläger gem. §§ 9, 10 KSchG eine Abfindung in Höhe von 13 500 DM.
3. Mit dieser Regelung sollen alle etwaigen gegenseitigen Geldansprüche aus dem beendeten Arbeitsverhältnis erledigt sein, mit Ausnahme der noch am 30.9.72 fällig werdenden Vergütung für Sept. 72.
4. ...".
Bei der Einkommensteuerveranlagung 1972 lehnte es der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) ab, die Abfindung in voller Höhe gemäß § 3 Nr. 9 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1971 steuerfrei zu belassen. Das FA behandelte lediglich 4 500 DM als steuerfreie Abfindung und sah die restlichen 9 000 DM als steuerpflichtigen Arbeitslohn für die Monate Oktober bis Dezember 1972 an.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage - nach erfolglosem Einspruchsverfahren - statt. Es führte zur Begründung des in den Entscheidungen der Finanzgerichte 1978 S. 113 (EFG 1978, 113) veröffentlichten Urteils im wesentlichen aus: Die Vertragspartner hätten das Dienstverhältnis rechtswirksam zum 30. September 1972 aufgelöst. Es spreche nichts dafür, daß die vorzeitige Beendigung nicht ernsthaft gewollt gewesen sei. In dem gerichtlichen Vergleich könne auch kein Mißbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten (§ 42 der Abgabenordnung - AO 1977 -) gesehen werden.
Das FA rügt mit der Revision einen Verstoß der Vorentscheidung gegen § 3 Nr. 9 EStG.
Es beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Einkommensteuerschuld 1972 auf 3 880 DM festzusetzen.
Der Kläger beantragt, die Revision des FA als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG.
1. Nach § 3 Nr. 9 EStG 1971 sind steuerfrei Abfindungen wegen Entlassung aus einem Dienstverhältnis aufgrund der §§ 9 und 10 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG). Das gleiche gilt für Abfindungen wegen Entlassung aus einem Dienstverhältnis, die in einem Vergleich festgelegt worden sind, wenn die Abfindung unter Berücksichtigung der §§ 9 und 10 KSchG dem Grunde nach berechtigt ist und - grundsätzlich - 12 Monatsverdienste nicht übersteigt (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 1. April 1977 VI R 132/75, BFHE 121, 482, BStBl II 1977, 418).
a) Sind Abfindungen in einem Vergleich zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer über die Beendigung des Dienstverhältnisses vereinbart, so haben Finanzbehörden und Steuergerichte von sich aus zu prüfen, ob die Voraussetzungen der §§ 9 und 10 KSchG vorgelegen haben (vgl. BFH-Urteil vom 14. April 1967 VI R 304/66, BFHE 88, 459, BStBl III 1967, 431). Anders als bei den aufgrund arbeitsgerichtlicher Urteile festgesetzten Abfindungen liegt bei einer durch gerichtlichen Vergleich vereinbarten Entschädigung eine rechtsgestaltende Entscheidung, die für die steuerrechtliche Entscheidung übernommen werden könnte, nicht vor. Ob die von den Beteiligten vereinbarte Beendigung des Dienstverhältnisses und die von ihnen festgelegte Entschädigung den sozialen Schutzvorschriften des Kündigungsschutzgesetzes entspricht, müssen deshalb die FÄ und die Steuergerichte selbständig prüfen. Denn nur wenn das der Fall ist, darf der aufgrund eines Vergleichs gezahlte Betrag steuerfrei bleiben.
b) Im Streitfall hatte die GmbH das Dienstverhältnis des Klägers unter Einhaltung der vereinbarten Kündigungsfrist zum 31. Dezember 1972 gekündigt. Die im gerichtlichen Vergleich festgesetzte Abfindung war - Sozialwidrigkeit der Kündigung unterstellt - nach den §§ 9 und 10 KSchG dem Grunde nach berechtigt. Denn dem Kläger war die Fortsetzung der Tätigkeit an der von seinem Wohnort weit entfernt liegenden neuen Beschäftigungsstätte nach den vertraglichen Vereinbarungen nicht zumutbar. Das Arbeitsgericht hätte daher im Falle einer streitigen Entscheidung das Dienstverhältnis aufgelöst und den Arbeitgeber zur Zahlung einer angemessenen Abfindung verurteilt (§ 9 Abs. 1 KSchG).
c) Bei streitiger Entscheidung hätte jedoch das Arbeitsgericht das Dienstverhältnis nicht bereits zum 30. September 1972 auflösen dürfen. Denn nach § 9 Abs. 2 KSchG hat das Arbeitsgericht bei einer vorangegangenen ordentlichen Kündigung, wenn diese sozialwidrig und deshalb unwirksam ist, und dem Arbeitnehmer die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zumutbar ist, das Dienstverhältnis zu dem Zeitpunkt aufzulösen, an dem es bei sozial gerechtfertigter Kündigung geendet hätte. Das ist der Zeitpunkt - im Streitfall der 31. Dezember 1972 -, zu dem es bei Einhaltung der vertraglich vereinbarten Kündigungsfrist sein Ende gefunden hätte.
d) Vereinbaren Arbeitnehmer und Arbeitgeber nach vorangegangener fristgemäßer ordentlicher Kündigung in einem gerichtlichen Vergleich einen Termin für die einvernehmliche Auflösung des Dienstverhältnisses, der vor dem Ende der vertraglich vereinbarten Kündigungsfrist - im Streitfall dem 31. Dezember 1972 - liegt, so bleiben Abfindungen nach § 3 Nr. 9 EStG 1971 nur insoweit steuerfrei, als sie den Betrag übersteigen, den der Arbeitnehmer vom Zeitpunkt der Beendigung des Dienstverhältnisses bis zum Ende der ordentlichen Kündigungsfrist hätte verdienen können (BFH-Urteil in BFHE 88, 459, BStBl III 1967, 431 sowie - allerdings in einem sog. obiter dictum - im Urteil vom 17. Mai 1977 VI R 150/76, BFHE 122, 478, BStBl II 1977, 735). Dies folgt aus der Bindung des Abfindungsbegriffs in § 3 Nr. 9 EStG 1971 an den Abfindungsbegriff der §§ 9 und 10 KSchG.
Der Senat folgt nicht der gegenteiligen Auffassung des FG, wonach im Streitfall wegen des Zeitpunkts der Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf den 30. September 1972 abzustellen sein soll. Das FG verkennt insoweit, daß es nach § 9 Abs. 2 KSchG nicht auf den Zeitpunkt ankommt, zu dem die Arbeitsvertragsparteien das Dienstverhältnis aufgelöst haben, sondern ausschließlich auf den, zu dem das Vertragsverhältnis bei sozial gerechtfertigter Kündigung geendet hätte. Zu Unrecht beruft sich das FG zur Begründung seiner gegenteiligen Auffassung auf die Ausführungen des Urteils in BFHE 122, 478, BStBl II 1977, 735. In jener Entscheidung hat der BFH zur Auslegung des § 3 Nr. 9 EStG 1975 Stellung genommen. Nach dieser Vorschrift hängt die Steuerbefreiung einer Abfindung wegen Auflösung des Dienstverhältnisses jedoch nicht mehr davon ab, ob eine sozial ungerechtfertigte Kündigung vorlag und zu welchem Zeitpunkt das Dienstverhältnis bei sozial gerechtfertigter Kündigung geendet hätte. Auf die in diesem Punkt unterschiedliche Rechtslage für die Veranlagungszeiträume bis 31. Dezember 1974 und für die Zeit danach hat der BFH im Urteil in BFHE 122, 478, BStBl II 1977, 735 sowie in dem Urteil vom 13. Oktober 1978 VI R 91/77 (BFHE 126, 399, 402 f., BStBl II 1979, 155) hingewiesen (vgl. auch die Anmerkung in Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1979 S. 43 - HFR 1979, 43 - zum Urteil vom 6. Oktober 1978 VI R 157/76, BFHE 126, 201, BStBl II 1979, 43).
2. Die Vorentscheidung war aufzuheben, da sie auf einer anderen Rechtsauffassung beruht. Die Sache ist nicht spruchreif. Sie war daher gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) an das FG zurückzuverweisen. Dieses wird nunmehr zu prüfen haben, ob im Streitfall die Voraussetzungen einer steuerbegünstigten Entschädigung i. S. von § 34 Abs. 1 und 2 EStG 1971 i. V. m. § 24 Nr. 1 a EStG 1971 vorliegen.
a) Dem Begriff der Entschädigung steht, wie der BFH in dem Urteil vom 20. Oktober 1978 VI R 107/77 (BFHE 126, 408, BStBl II 1979, 176) betont hat, die Mitwirkung der Steuerpflichtigen bei dem zum Einnahmeausfall führenden Ereignis nicht entgegen, wenn der Steuerpflichtige unter einem nicht unerheblichen rechtlichen, wirtschaftlichen oder tatsächlichen Druck gestanden hat. Diese Voraussetzungen sieht der BFH bei einer Abfindung wegen Auflösung eines Dienstverhältnisses ohne Rücksicht auf die formelle Gestaltung des Auflösungsvorgangs in der Regel als erfüllt an, wenn der Arbeitgeber die Beendigung des Dienstverhältnisses veranlaßt hat. Das ist in entsprechender Anwendung der zu § 3 Nr. 9 EStG 1975 ergangenen Rechtsprechung des BFH in den Urteilen in BFHE 122, 478, BStBl II 1977, 735 und in BFHE 126, 399, BStBl II 1979, 155 der Fall, wenn der Arbeitgeber für die Auflösung des Dienstverhältnisses die entscheidenden Ursachen gesetzt hat und dem Arbeitnehmer im Hinblick auf dieses Verhalten eine weitere Zusammenarbeit mit ihm nicht mehr zugemutet werden kann.
Im übrigen setzt die Annahme einer Entschädigung i. S. des § 24 Nr. 1 a EStG 1971 voraus, daß die Zahlungen nicht in Erfüllung eines bereits bestehenden Anspruchs des Empfängers aus dem Dienstverhältnis erfolgen, sondern auf einer neuen Rechts- und Billigkeitsgrundlage beruhen (vgl. BFH-Urteile vom 25. März 1975 VIII R 183/73, BFHE 115, 472, BStBl II 1975, 634 und vom 17. März 1978 VI R 63/75, BFHE 124, 543, BStBl II 1978, 375). Dabei ist wie bei der Auslegung des § 3 Nr. 9 EStG 1975 (vgl. BFHE 126, 399, BStBl II 1979, 155) bei der Prüfung der Frage, ab wann vertragliche Ansprüche auf Gehalt aufgrund der alten Rechtsgrundlage nicht mehr entstehen können, von dem Zeitpunkt auszugehen, zu dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer das Dienstverhältnis arbeitsrechtlich wirksam beendet haben (BFHE 126, 408, BStBl II 1976, 176). Nach den von der Vorinstanz zu § 3 Nr. 9 EStG 1971 festgestellten Tatsachen haben beide Vertragsparteien das Dienstverhältnis arbeitsrechtlich wirksam zum 30. September 1972 beendet. Der Betrag von 9 000 DM wurde aufgrund des gerichtlichen Vergleichs für die Zeit danach, mithin für "Gehaltsansprüche" gezahlt, die wegen Auflösung des Dienstverhältnisses nicht mehr haben entstehen können. Die Abfindung von 9 000 DM beruht danach nicht auf dem Arbeitsvertrag, sondern auf einer neuen Rechtsgrundlage. Dieser Beurteilung steht - entsprechend der zu § 3 Nr. 9 EStG 1975 ergangenen Rechtsprechung des BFH (BFHE 122, 478, BStBl II 1977, 735 und BFHE 126, 399, BStBl II 1979, 155 sowie Urteil vom 11. Januar 1980 VI R 165/77, BFHE 129, 479, BStBl II 1980, 205) nicht entgegen, daß das Anstellungsverhältnis im Streitfall auf einen Zeitpunkt vor Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist aufgelöst wurde. Dem Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist am 31. Dezember 1972 kommt im Streitfall lediglich für die Bemessung der Steuerbefreiung gemäß § 3 Nr. 9 EStG 1971 i. V. m. § 9 Abs. 2 KSchG Bedeutung zu.
b) Das FG wird nunmehr festzustellen haben, ob es sich bei dem Betrag von 9 000 DM um außerordentliche Einkünfte i. S. von § 34 EStG 1971 handelt. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn bei einer Entschädigungszahlung Einnahmen zusammengeballt zufließen, die sich bei normalem Ablauf auf mehrere Jahre verteilt hätten; denn nur für diesen Fall besteht ein sachlicher Grund für die Steuerermäßigung nach § 34 Abs. 1 EStG 1971, die eine Milderung der Progression der zusammengeballten Einnahmen bewirken soll (BFHE 126, 408, BStBl II 1979, 176 und Urteil vom 17. Dezember 1959 IV 223/58 S, BFHE 70, 195, BStBl III 1960, 72). Für die Entscheidung des Streitfalls wird es insoweit insbesondere auf die Frage ankommen, ob die 9 000 DM nur dem Ausgleich der im Streitjahr entgangenen Gehaltsansprüche dienten oder ob damit weitere durch die Vertragsauflösung entstandene Nachteile abgegolten werden sollten, die nicht nur das Streitjahr 1972 betrafen (vgl. hierzu Offerhaus, Deutsche Steuer-Zeitung, Ausgabe A 1981 S. 445 f., 451).
Fundstellen
Haufe-Index 74215 |
BStBl II 1982, 305 |
BFHE 1982, 66 |