Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Sachaufklärungspflicht der Finanzbehörde im Stundungsverfahren
Leitsatz (NV)
1. Eine fehlerfreie Ermessensausübung setzt voraus, daß die Finanzbehörde den entscheidungserheblichen Sachverhalt umfassend und einwandfrei ermittelt.
2. Unbeschadet der Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen ist die Finanzbehörde auch im Rahmen von Billigkeitsmaßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen verpflichtet. Sie hat hierbei den Steuerpflichtigen erforderlichenfalls zu veranlassen, unzureichende Angaben zu vervollständigen und unter Beweis zu stellen.
3. Durch die Entrichtung der Steuern, für welche die Stundung beantragt wurde, tritt keine Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache ein.
Normenkette
AO 1977 §§ 88, 222; FGO §§ 102, 136 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute. Der Kläger ist Bauunternehmer. Er ist u. a. beteiligt an der B GmbH & Co. KG in N, der T GmbH & Co. KG in G sowie der R GmbH & Co. KG N und bezieht aus diesen Beteiligungen den Großteil seiner Einkünfte.Die Klägerin ist als Arbeitnehmerin in der Firmengruppe des Klägers tätig und bezieht Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Die Kläger haben daneben geringfügige Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft und Renten und erzielen ferner Einkünfte aus Kapitalvermögen und aus Vermietung und Verpachtung.
Die Kläger reichten am 28. Mai 1982 die Einkommensteuererklärung für 1980 beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) ein. Die Mittel für die zu erwartende Abschlußzahlung von mehr als 600 000 DM legten sie auf einem Festgeldkonto an.
Noch vor Erlaß des Einkommensteuerbescheides 1980 geriet die B GmbH & Co. KG infolge des Konjunktureinbruchs in der Baubranche in finanzielle Schwierigkeiten. Die Kläger hielten es deshalb für erforderlich, die für die Abschlußzahlung vorgesehenen Mittel zur Abwendung des Konkurses in diese Gesellschaft einzulegen. Gleichzeitig wurden der Personalbestand des Unternehmens von 160 auf ca. 40 Mitarbeiter verringert und die nicht tarifgebundenen Gehälter gekürzt.
Nach dem am 27. Januar 1983 ergangenen Steuerbescheid 1980 ergab sich eine Einkommensteuerabschlußzahlung von 603 127 DM (Kirchensteuer 37 271 DM), die nach einem Einspruch auf 600 573 DM (Kirchensteuer 37 112 DM) herabgesetzt wurde.
Die Kläger beantragten am 7. Februar 1983 die Stundung der Abschlußzahlung in Höhe eines Teilbetrags von 300 000 DM gegen Zahlung von 12 gleichen Monatsraten.
Nachdem das FA nach Leistung entsprechender Sicherheiten zunächst beabsichtigt hatte, dem Stundungsantrag stattzugeben, lehnte es ihn dann auf Weisung der Oberfinanzdirektion (OFD) mit Bescheid vom 19. Mai 1983 doch ab.
Die hiergegen eingelegte Beschwerde war nur hinsichtlich der Kirchensteuer erfolgreich; im übrigen wies sie die OFD durch Beschwerdebescheid vom 4. Juli 1983 mit der Begründung zurück, die Kläger, denen spätestens seit Mai 1982 die Höhe der Abschlußzahlung bekannt gewesen sei, hätten es versäumt, ausreichende Mittel anzusammeln bzw. sich eines entsprechenden Kredits zu versichern. Im übrigen reiche die wirtschaftliche Lage der in Zahlungsschwierigkeiten geratenen Gesellschaft als Stundungsgrund nicht aus, da es sich nicht um die Stundung einer Betriebssteuer handele und die Kläger ihren Lebensunterhalt nicht ausschließlich aus den Einnahmen dieser Gesellschaft bestritten, sondern weitere Einkünfte in nicht unerheblicher Höhe erzielten.
Selbst wenn man die Situation dieser Gesellschaft berücksichtigen würde, hätte von den Klägern erwartet werden müssen, daß sie betriebliche Aufwendungen nur unter Beachtung ihrer steuerlichen Zahlungspflicht tätigen würden. Da sich die Kläger durch die zu niedrigen Vorauszahlungen bereits einen erheblichen Zinsvorteil gegenüber anderen Steuerpflichtigen verschafft hätten und es ihnen zumutbar gewesen sei, die zu erwartende Abschlußzahlung bei ihren finanziellen Dispositionen zu berücksichtigen, komme eine Stundung nicht in Betracht.
Auch der Klage gegen die Beschwerdeentscheidung blieb der Erfolg versagt. Das Finanzgericht (FG) vertrat die Auffassung, daß die Kläger nicht nachgewiesen hätten, daß sie keine weiteren Mittel aus den offensichtlich florierenden Gesellschaften T und R GmbH & Co. KG hätten entnehmen können. Es sei Sache des Steuerpflichtigen, einen Stundungsantrag schlüssig zu begründen und die wirtschaftl. Leistungsfähigkeit in umfassender Weise gegenüber den Verwaltungsbehörden darzulegen. Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung war die Abschlußzahlung bereits in vollem Umfang getilgt.
Mit ihrer Revision rügen die Kläger Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Sie beantragen, unter Aufhebung der Vorentscheidung und des Ablehnungsbescheids des FA in Gestalt der Beschwerdeentscheidung der OFD, das FA zu verpflichten, die zum 1. Juni 1983 fällig gestellte Einkommensteuer in Höhe von 235 940 DM gemäß den Anträgen vom 7. und 12. Februar 1983 zu stunden.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet.
Entgegen der Auffassung des FG ist die Ablehnung des Stundungsbegehrens durch die Finanzbehörden nicht frei von Ermessensfehlern.
1. Das FG ist bei seiner Entscheidung (ohne nähere Prüfung) zwar zutreffend davon ausgegangen, daß eine Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache durch die Entrichtung der Steuern, für welche die Stundung beantragt wurden, nicht eingetreten ist. Diese Auffassung steht im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung, wonach eine Erledigung der Hauptsache in derartigen Fällen nur darin gesehen werden kann, daß dem Antrag auf Stundung während der Rechtshängigkeit der Streitsache stattgegeben wird (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 13. September 1966 I 204/65, BFHE 86, 810, BStBl III 1966, 694, und vom 21. August 1973 VIII R 8/68, BFHE 111, 275, BStBl II 1974, 307). Das FA hat einen entsprechenden Verwaltungsakt nicht erlassen.
Der Senat teilt die gegen diese Rechtsprechung erhobenen Einwendungen nicht (vgl. z. B. Urteile des FG Bremen vom 18. Februar 1977 I 26/76, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1977, 386, und des FG Rheinland-Pfalz vom 2. Oktober 1978 V 166/78, EFG 1979, 134). Hiernach soll eine nach Entrichtung der Steuern ausgesprochene Stundung ins Leere gehen.
Die Stundung, die nach allgemeiner Auffassung auch für zurückliegende Zeiträume zulässig ist (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung - Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 222 AO 1977 Tz. 18, m.w.N.), bewirkt aber eine abweichende Festsetzung des Fälligkeitszeitpunkts. Durch das Hinausschieben der Fälligkeit werden dann auch die materiellrechtlichen Verzugsfolgen aufgehoben (Tipke/Kruse, a.a.O., Tz. 1). Die bereits eingetretenen Verzugsfolgen werden hingegen durch das bloße Erlöschen der Forderung infolge Begleichung der Steuerschuld nicht berührt (vgl. § 240 Abs. 1 der Abgabenordnung - AO 1977 -).
2. Das FG hat das Vorliegen von Ermessensfehlern jedoch zu Unrecht verneint.
a) Nach § 222 AO 1977 können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder teilweise stunden, wenn die Einziehung bei Fälligkeit eine erhebliche Härte für den Schuldner bedeuten würde und der Anspruch durch die Stundung nicht gefährdet erscheint. Diese Bestimmung verbindet ein ,,Können" der Behörde mit unbestimmten Rechtsbegriffen. Für den vergleichbaren Fall des Billigkeitserweises nach § 131 der Reichsabgabenordnung (AO) hat der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes durch Beschluß vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70 (BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603) entschieden, daß entsprechende Entscheidungen der Verwaltung von den Gerichten nach den für die Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen geltenden Grundsätzen zu prüfen sind. Die Anwendung der Grundsätze dieser Entscheidung auf § 222 AO 1977 ergibt, daß auch diese Vorschrift als Ermessensentscheidung zu beurteilen ist (vgl. BFH-Beschluß vom 5. und 13. Mai 1977 VII B 9/77, BFHE 122, 28, BStBl II 1977, 587, m. w. N.), die von den Gerichten nur im Rahmen des § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nachgeprüft werden kann. Hierbei kann das Gericht eine Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes nur bei Ermessensüberschreitung und Ermessensfehlgebrauch feststellen.
b) Eine fehlerfreie Ermessensausübung setzt voraus, daß die Finanzbehörden den entscheidungserheblichen Sachverhalt umfassend und einwandfrei ermitteln (vgl. BFH-Urteile vom 22. Februar 1972 VII R 80/69, BFHE 105, 220, BStBl II 1972, 544, und vom 15. Juni 1983 I R 76/82, BFHE 139, 146, BStBl II 1983, 672). Im Streitfall liegt jedoch eine unzureichende Sachverhaltsermittlung vor, die die Rechtswidrigkeit der Ermessensentscheidung zur Folge hat.
aa) Die Finanzbehörden haben die Ablehnung des Stundungsbegehrens u. a. darauf gestützt, daß den Klägern die Aufnahme eines weiteren Kredits in Höhe von 300 000 DM zuzumuten gewesen sei (Ablehnungsbescheid des FA) und daß sie durch Umschichtung und Entnahme von Geldern aus den gewinnbringenden Gesellschaften T und R GmbH & Co. KG sowie durch Grundstücksverkäufe in der Lage gewesen wären, die Steuerschuld zum Fälligkeitszeitpunkt zu begleichen (Beschwerdeentscheidung der OFD).
Diese Feststellungen stehen im Widerspruch zu der von den Klägern durch entsprechende Bankbestätigungen untermauerten Behauptung, daß ihr Kreditrahmen voll ausgeschöpft und im Hinblick auf die bereits hohe Belastung ihres Privatvermögens mit weiteren Krediten nicht zu rechnen gewesen sei. Aus den angefochtenen Verwaltungsentscheidungen ist nicht zu ersehen, aus welchen Gründen die Finanzbehörden diesen Sachvortrag der Kläger für unzutreffend gehalten haben. Da die Hausbanken nach Angaben der Kläger im wesentlichen alle drei Beteiligungsgesellschaften finanzierten, reichte auch der bloße Hinweis auf die positive Ertragslage der beiden anderen Unternehmen nicht aus.
bb) Entgegen der Auffassung des FG war dem Stundungsbegehren auch nicht bereits mangels schlüssiger Begründung der Erfolg zu versagen.
Zwar darf ein Stundungsantrag abgelehnt werden, wenn der Steuerpflichtige eine ihm mögliche und zumutbare Aufklärung über die für die Entscheidung über den Antrag maßgebenden Umstände nicht gibt (vgl. BFH-Urteil vom 2. August 1962 IV 152/59, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1963, 86). Unbeschadet der Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen sind jedoch die Finanzbehörden auch im Rahmen von Billigkeitsmaßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen verpflichtet (vgl. BFH-Urteil vom 1. August 1961 I 100/60 S, BFHE 74, 144, BStBl III 1962, 55 unter II 2b; Tipke / Kruse, a.a.O., § 222 AO 1977 Tz. 16). Sie haben hierbei den Steuerpflichtigen erforderlichenfalls zu veranlassen, unzureichende Angaben zu vervollständigen und unter Beweis zu stellen (vgl. BFH-Urteil v. 13. April 1961 IV 363/58 U, BFHE 73, 67, BStBl III 1961, 292). Hierfür bestand im Streitfall um so mehr Veranlassung, als das FA zunächst selbst davon ausgegangen war, daß die Kläger ihren Stundungsantrag ausreichend begründet hatten.
3. Die sonstigen Ermessenserwägungen tragen die Ablehnung des Stundungsbegehrens nicht.
a) Nach der Rechtsprechung des BFH kommt auch eine Stundung von Abschlußzahlungen in Betracht, falls der Steuerpflichtige zum Fälligkeitszeitpunkt weder aus einem von ihm zu vertretenden Grunde über die erforderlichen Mittel verfügt noch in der Lage ist, sich diese Mittel auf zumutbare Weise zu beschaffen (Urteil in BFHE 111, 275, BStBl II 1974, 307). Im Hinblick auf die von den Klägern vorgetragenen besonderen Umstände, die nach Abgabe der Steuererklärung eingetreten sind, kann das Vorliegen dieser Voraussetzungen nicht allein damit verneint werden, sie seien in der Lage gewesen, aus den Angaben in ihrer Steuererklärung die voraussichtlich festzusetzende Steuerschuld zu ermitteln und sich deshalb auf die Abschlußzahlung rechtzeitig einzurichten.
b) Der Hinweis auf die verspätete Abgabe der Steuererklärung und den damit verbundenen Zinsvorteil ist allenfalls für die Frage der Stundungswürdigkeit von Bedeutung.
Die Stundungswürdigkeit, von der die Bewilligung der Stundung abhängig gemacht werden kann (vgl. Tipke / Kruse, a.a.O., § 222 AO 1977 Tz. 8 2. Abs. , m. w. N.), ist nicht gegeben, wenn der Steuerpflichtige seine mangelnde Leistungsfähigkeit selbst herbeigeführt hat oder durch sein Verhalten in eindeutiger Weise gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen hat (BFH-Urteil vom 29. April 1981 IV R 23/78, BFHE 133, 489, BStBl II 1981, 726 zum vergleichbaren Fall der Erlaßwürdigkeit). Zur Verneinung der Stundungswürdigkeit hätte es deshalb näherer Darlegungen zu der Frage bedurft, inwieweit die späte Abgabe der Steuererklärung auf den von den Klägern zu vertretenden Umständen beruhte.
4. Das angefochtene Urteil, die Beschwerdeentscheidung der OFD sowie der Ablehnungsbescheid des FA sind nach alledem ersatzlos aufzuheben. Das FA wird damit in die Lage versetzt, erneut über den Stundungsantrag zu entscheiden und hierbei die erforderlichen ergänzenden Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Kläger im Fälligkeitszeitpunkt zu treffen.
Dem weitergehenden Antrag der Kläger, das FA zur Gewährung der beantragten Stundung zu verpflichten, kann nicht entsprochen werden. Der Senat kann die aufgehobenen Ermessensentscheidungen nicht durch eine eigene Ermessensentscheidung ersetzen. Die Ermessensgrenzen sind schon angesichts des noch unvollständig ermittelten Sachverhalts nicht so eingeengt, daß nur eine bestimmte Entscheidung möglich wäre, während jede andere notwendig zu einem Ermessensfehler führen müßte (vgl. Urteil in BFHE 139, 146, BStBl II 1983, 672).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO. Da die Kläger nicht mit ihrem vollen Begehren durchgedrungen sind, erscheint es dem Senat angemessen, die Kosten des gesamten Verfahrens den Beteiligten je zur Hälfte aufzuerlegen (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 1. Februar 1977 VII R 62/75, BFHE 121, 371, BStBl II 1977, 370).
Fundstellen