Leitsatz (amtlich)
Ein Beteiligter war auch dann im Verfahren nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten, wenn das FG in der irrigen Annahme, das Einverständnis der Beteiligten sei erklärt, ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden hat.
Normenkette
FGO § 90 Abs. 1-2, § 116 Abs. 1 Nr. 3, § 119 Nr. 4
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) -- eine GmbH -- erhob gegen den Körperschaftsteuerbescheid 1975 nach erfolglosem Einspruchsverfahren Klage.
Durch Urteil vom 2. März 1982 wies das Finanzgericht (FG) die Klage als unbegründet ab. Die Entscheidung erging ohne mündliche Verhandlung. Nach Zustellung des Urteils am 30. März 1982 wies die Klägerin durch Schreiben vom 8. April 1982 darauf hin, daß sie nicht auf eine mündliche Verhandlung gemäß § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) verzichtet habe. Die Klägerin bat, das Urteil aufzuheben und einen Termin zur mündlichen Verhandlung anzuberaumen. Der Berichterstatter teilte daraufhin dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin telefonisch mit, daß das FG dem Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung nicht stattgeben könne, weil eine Umdeutung des Urteils vom 2. März 1982 in einen Vorbescheid nicht möglich sei. Das FG sei irrtümlich davon ausgegangen, daß die Klägerin auf eine mündliche Verhandlung verzichtet habe. Der Berichterstatter wies den Prozeßbevollmächtigten auf die Möglichkeit hin, gegen das Urteil Revision einzulegen.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin Verletzung formellen Rechts (§ 119 FGO).
Sie beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen. Die Revision sei unzulässig, weil der Wert des Streitgegenstandes (8 790 DM) 10 000 DM nicht übersteige, das FG die Revision nicht zugelassen habe und auch kein Revisionsgrund i. S. des § 116 FGO gegeben sei.
Mit Schriftsatz vom 27. Juli 1982 beantragte die Klägerin in "Ergänzung zum Revisionsantrag vom 28. 4. 1982" die Revision zuzulassen. Das Schreiben vom 8. April 1982 sei als Nichtzulassungsbeschwerde anzusehen. Die Beschwerde sei durch die fernmündliche Mitteilung des Berichterstatters beim FG in positivem Sinne beschieden worden. Die Revision sei deshalb zulässig.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
1. Die Revision ist zulässig.
Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 1 FGO für eine sog. Streitwertrevision liegen unstreitig nicht vor, weil der Streitwert 10 000 DM nicht übersteigt.
Entgegen der Ansicht der Klägerin hat das FG die Revision auch nicht zugelassen. Dabei kann dahinstehen, ob das Schreiben vom 8. April 1982 als Nichtzulassungsbeschwerde aufzufassen war.
Jedenfalls kann die telefonische Auskunft des Berichterstatters, das Gericht sei irrtümlich davon ausgegangen, die Klägerin habe ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt, nicht als Zulassung der Revision angesehen werden. Hierfür hätte es eines förmlichen Abhilfebeschlusses der drei für die Entscheidung zuständigen Berufsrichter bedurft (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 28. April 1970 VII R 88/68, BFHE 99, 107, BStBl II 1970, 573; Gräber, Finanzgerichtsordnung, Anm. 36 zu § 115 und Anm. 4 zu § 130).
Die Revision ist jedoch nach § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO statthaft. Nach dieser Vorschrift bedurfte die Revision keiner Zulassung, weil als wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird, daß die Klägerin im Verfahren nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten war. Die Rüge dieses Verfahrensfehlers ist ordnungsgemäß erhoben worden. Zwar hat die Klägerin ihre Revision nicht ausdrücklich auf den Verfahrensmangel der fehlenden ordnungsgemäßen Vertretung i. S. von § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO gestützt. Sie hat jedoch innerhalb der Revisionsbegründungsfrist substantiiert Umstände vorgetragen, die geeignet sind, einen Verfahrensfehler i. S. von § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO zu begründen. Ebenso ist die Verletzung von Verfahrensvorschriften gerügt worden. Dabei ist es unschädlich, daß die Klägerin die verletzte Rechtsnorm (§ 90 FGO) nicht ausdrücklich bezeichnet hat. Denn aus ihrem Vorbringen ist eindeutig zu erkennen, daß sie eine Verletzung dieser Vorschrift rügen will (vgl. Gräber, a. a. O., Anm. 17 zu § 120 FGO mit weiteren Nachweisen). Es bedurfte unter diesen Umständen keiner ausdrücklichen Rüge der fehlenden ordnungsgemäßen Vertretung (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts -- BVerwG -- vom 25. Januar 1974 VI C 7.73, BVerwGE 44, 307).
2. Die Revision ist auch begründet.
Nach § 90 Abs. 1 FGO entscheidet das Gericht vorbehaltlich der Abs. 2 und 3 aufgrund mündlicher Verhandlung. Mit Einverständnis der Beteiligten kann es ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 90 Abs. 2 FGO). Die Klägerin hat auf die Anfrage des FG mit Schreiben vom 6. Oktober 1981 ausdrücklich erklärt, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht einverstanden sei. Gleichwohl hat das FG -- offenbar in der irrigen Annahme, die Klägerin habe auf mündliche Verhandlung verzichtet -- ohne mündliche Verhandlung entschieden. Nach dem Urteil des BFH vom 1. Oktober 1970 V R 115/67, BFHE 100, 432, BStBl II 1971, 113 ist in dem Verstoß gegen § 90 Abs. 1 und 2 FGO ein Verfahrensmangel i. S. der §§ 116 Abs. 1 Nr. 3, 119 Nr. 4 FGO zu sehen (ebenso Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., Tz. 17 zu § 116 FGO). Der Senat schließt sich dieser Rechtsauffassung an. Die Vorschrift des § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO stimmt inhaltlich überein mit § 133 Nr. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung und § 41 p Abs. 3 Nr. 3 des Bundespatentgesetzes (BPatG). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) und des BFH ist der Begriff "nicht vertreten" im Sinne dieser Vorschriften weit auszulegen. Es zählen dazu nicht nur die Fälle, in denen der Beteiligte keinen gesetzlichen Vertreter hatte oder in denen ein nicht prozeßfähiger Beteiligter selbst auftrat, sondern auch die Fälle, in denen er tatsächlich gehindert war, seine Belange wahrzunehmen. Die Rechtsprechung hat das Fehlen einer ordnungsgemäßen Vertretung insbesondere dann bejaht, wenn der Prozeßbevollmächtigte oder der Beteiligte selbst nicht geladen und deshalb nicht erschienen war (vgl. BFH-Urteile vom 14. Dezember 1971 VIII R 13/67, BFHE 104, 491, BStBl II 1972, 424; vom 15. November 1974 VI R 107/74, BFHE 114, 457, BStBl II 1975, 335; ebenso BGH-Beschluß vom 16. Juli 1965 I a ZB 3/64, Neue Juristische Wochenschrift -- NJW -- 1965, 2252). Der BGH hat die von ihm vertretene weite Auslegung des § 41 p Abs. 3 Nr. 3 BPatG mit der Erwägung gerechtfertigt, daß die zulassungsfreie Rechtsbeschwerde nicht mit der Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs erreicht werden könne (BGH in NJW 1965, 2252 unter Hinweis auf den Beschluß des BGH vom 3. Dezember 1964 I a ZB 18/64, BGHZ 43, 12). Nach der Entscheidung des VIII. Senats in BFHE 104, 491, BStBl II 1972, 424 trifft diese Erwägung in gleicher Weise für die Auslegung des § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO zu, weil auch gemäß § 116 FGO eine zulassungsfreie Revision nicht mit der Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs erreicht werden kann. Entscheidet das FG unter Verstoß gegen § 90 Abs. 1 und 2 FGO durch Urteil, so ist der Beteiligte in gleicher Weise gehindert, seine Belange wahrzunehmen, wie in den Fällen der unterlassenen Ladung des Beteiligten oder seines Prozeßbevollmächtigten zur mündlichen Verhandlung. Ein Verfahrensmangel i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO ist deshalb auch dann anzunehmen, wenn das FG irrtümlich einen Verzicht auf mündliche Verhandlung angenommen und durch Urteil entschieden hat.
Das angefochtene Urteil muß wegen dieses Verfahrensfehlers aufgehoben werden, ohne daß zu prüfen ist, ob es auf der Verletzung von Bundesrecht beruht (§ 119 Abs. 1 Nr. 4 FGO). Die Sache geht deshalb zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 74469 |
BStBl II 1983, 46 |
BFHE 1983, 518 |
NVwZ 1983, 376 |