Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. März 1996 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die beklagte Bundesanstalt für Arbeit – Kindergeldkasse – wendet sich gegen ihre Verurteilung, der Klägerin für den geistig behinderten T … M … G … (G) Kindergeld (Kg) nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) für die Zeit von August 1992 bis Dezember 1995 zu zahlen.
Die Klägerin ist 1932 geboren, ledig, Sonderschullehrerin im Ruhestand und wohnt in der Nähe von B … (B). G ist im Jahre 1970 geboren und mit einem Grad der Behinderung von 100 schwerbehindert (angeborener Hirnschaden mit autistischem Syndrom und aggressiven Impulsausbrüchen, geistig-seelischen Entwicklungsstörungen sowie Sprachschwierigkeiten, ohne Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt). Nach Scheidung seiner Eltern im Jahre 1976 wurde das Jugendamt B zum Vormund bestellt. Während des Besuchs der Sonderschule bildete sich ein enger Kontakt von G zu seiner damaligen Lehrerin, der Klägerin. Diese nahm ihn ab Dezember 1978 auf Probe, ab März 1979 auf Dauer in ihren Haushalt auf. Sie hatte dafür eine Pflegeerlaubnis und bezog Pflegegeld. In einer größeren Wohnung ab Sommer 1985 hatte G auch ein eigenes Zimmer mit eigenen Möbeln.
Wegen zunehmender Verhaltensauffälligkeiten wurde G ab Februar 1986 stationär behandelt und auf Anordnung des Jugendamtes ab September 1986 in Dauerpflege in einem therapeutischen Heim in M … (M) untergebracht, wo er zunächst die Sonderschule für Lernbehinderte, später die Werkstatt für Behinderte (Gärtnerei) besuchte. Nach ärztlicher Beurteilung ist eine Besserung nicht mehr zu erwarten. Der Landschaftsverband als überörtlicher Träger der Sozialhilfe zahlt seit März 1986 Eingliederungshilfe. G ist mit erstem Wohnsitz in M, mit zweitem Wohnsitz bei der Klägerin gemeldet, wo er sich an zahlreichen Wochenenden und Feiertagen sowie während des Urlaubs aufhält. Zu seinen leiblichen Eltern hat G hingegen keinen Kontakt mehr. Für die Zeit seiner Anwesenheit in ihrem Haushalt erhält die Klägerin für ihn Hilfe zum Lebensunterhalt vom Landschaftsverband. Außerdem erhielt sie von Mai 1981 bis Juli 1992 von ihrer Besoldungsstelle Kg.
Nach ihrem Ausscheiden aus dem Schuldienst im Juli 1992 stellte die Klägerin Antrag auf Kg für G ab August 1992 bei der jetzt zuständigen Beklagten. Diese lehnte den Antrag ab, da wegen der Dauerunterbringung im Heim keine Haushaltsaufnahme und mithin kein Pflegeverhältnis mehr vorliege (Bescheid vom 13. November 1992 und Widerspruchsbescheid vom 6. Mai 1993). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 30. November 1993). Das Landessozialgericht (LSG) hat der Berufung der Klägerin stattgegeben (Urteil vom 22. März 1996). Das LSG hat ausgeführt, G sei weiterhin als Pflegekind der Klägerin anzusehen, weil ein Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis mit familienähnlicher Bindung bestehengeblieben sei, insbesondere eine Haushaltsaufnahme mit örtlichen, materiellen und immateriellen Elementen. Der Haushalt der Klägerin sei als weiterer Lebensmittelpunkt beibehalten worden. Im Gegensatz zu einer Heimerziehung müsse die Unterbringung eines schwerstbehinderten Kindes nicht zwangsläufig zu einer Beendigung der Haushaltsaufnahme führen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung von § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG idF der Bekanntmachung der Neufassung des BKGG vom 30. Januar 1990 (BGBl I, 149 – BKGG 1990). Für den Begriff der Haushaltsaufnahme iS der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) seien das örtliche und das materielle Merkmal nicht erfüllt. Das Pflegeverhältnis sei beendet, die Erlaubnis zur Aufnahme des Pflegekindes gegenstandslos geworden, eine dauerhafte Rückkehr praktisch ausgeschlossen. Lebensmittelpunkt sei das Heim, von einer Einbindung in den Haushalt der Klägerin könne nicht mehr gesprochen werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. März 1996 aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Gegenstand der Revision ist der Bescheid der Beklagten vom 13. November 1992 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 1993, soweit der Anspruch auf Kg für August 1992 bis Dezember 1995 betroffen ist. Auf diesen Zeitraum ist der erstinstanzlich und in der Berufungsschrift zeitlich noch unbeschränkt gestellte Antrag der Klägerin in der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG eingegrenzt worden.
Das angefochtene Urteil läßt von Amts wegen zu beachtende Verfahrensfehler nicht erkennen. Eine Beiladung des Landschaftsverbandes als überörtlichem Träger der Sozialhilfe war nicht notwendig iS von § 75 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Möglichkeit eines späteren Erstattungsanspruchs oder einer späteren Abzweigung des Kg-Anspruchs nach § 48 Abs 1 Satz 3 iVm Satz 4 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) begründen keine Verpflichtung zur Beiladung (Urteil des Senats vom 28. August 1997, 14/10 RKg 32/95 ≪zur Veröffentlichung vorgesehen≫; BSG SozR 3-4100 § 134 Nr 7).
Es kann dahinstehen, ob die Bescheide der Beklagten entsprechend ihrem Wortlaut als Ablehnung einer Neubewilligung oder im Wege der Umdeutung (§ 43 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch ≪SGB X≫) als Aufhebung der früheren durch die Besoldungsstelle der Klägerin erfolgten Bewilligung von Kg wegen wesentlicher Änderung der tatsächlichen Verhältnisse (§ 48 SGB X) zu werten sind. Denn da die Klägerin nach wie vor einen Rechtsanspruch auf Kg für ihr Pflegekind G hat, ist die Verurteilung zur Leistung durch das LSG neben der Aufhebung der Bescheide möglicherweise überflüssig gewesen, im Ergebnis aber zutreffend.
Die Klägerin ist im Geltungsbereich des BKGG wohnhaft, und der über 16 Jahre alte G aufgrund seiner geistigen Behinderung zu seinem eigenen Unterhalt außerstande gewesen (§ 1 Abs 1 Nr 1, Abs 2 Satz 1 Nr 3 BKGG 1990). Das LSG hat zu Recht G auch nach dessen Heimunterbringung weiterhin als Pflegekind der Klägerin angesehen (§ 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG 1990); unter einem Pflegekind ist nach der Legaldefinition eine Person zu verstehen, mit welcher die Berechtigte durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie in seinen Haushalt aufgenommen hat und ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen dieser Person und ihren Eltern nicht mehr besteht.
Ein familienähnliches Band erfordert nach der ständigen Rechtsprechung des BSG, daß das Verhältnis zwischen dem Pflegekind und den Pflegeeltern durch ein Aufsichts-, Erziehungs- und Betreuungsverhältnis auf der Grundlage einer ideellen Dauerbindung gekennzeichnet ist; dabei ist nicht allein auf die äußeren Lebensumstände, sondern darauf abzustellen, ob das Pflegekind in der Familie eine natürliche Einheit von Versorgung, Erziehung und Heimat findet – also nicht nur Kostgänger ist, sondern wie zur Familie gehörig angesehen und behandelt wird (BSG SozR 3-5870 § 2 Nr 20; BSGE 69, 191, 193 = SozR 3-5870 § 2 Nr 16 mit umfangreichen Nachweisen). Diese Voraussetzungen sind nach den Feststellungen des LSG zu bejahen. Das LSG hat ausgeführt, zwischen der Klägerin und G habe sich ein inniger Kontakt entwickelt, durch den G die Klägerin als seine Mutter ansehe und nach ihrem Nachnamen genannt werden möchte. Die Klägerin habe G bereits im Alter von acht Jahren in ihre Wohnung aufgenommen und damals ihre persönlichen Verhältnisse ganz auf G ausgerichtet, 1985 sogar eine größere Wohnung mit eigenem Zimmer und eigenen Möbeln für G angemietet. Auch nach der Heimunterbringung hätten die starken emotionalen Bindungen weiterbestanden, wobei sich die Klägerin nach Einschätzung der Heimleiterin intensiver und liebevoller als manche leibliche Eltern um G gekümmert habe. Die Klägerin übe Einfluß auf G aus und kooperiere in wichtigen Dingen mit der Heimleitung. Sie wasche für G auch die Wäsche und verwalte sein Taschengeld und Sparbuch. Eine – diesen Einfluß eventuell einschränkende – Betreuung sei bisher nicht angeordnet worden. Diese Feststellungen werden von der Revision nicht angegriffen und sind deshalb für den Senat verbindlich (§ 163 SGG).
Soweit die Revision aus diesen Feststellungen ableitet, die Klägerin sei „eine vertraute, aber letztlich familienfremde” Person, kann ihr nicht gefolgt werden, weil sie außer acht läßt, daß G bereits seit seinem achten Lebensjahr von der Klägerin betreut worden ist und sich schon von daher eine der Mutter-Kind-Beziehung vergleichbare familiäre Bindung ergeben hat. Diese Beziehung ist nicht dadurch erloschen oder zu einem Betreuungsverhältnis allgemeiner Art abgeschwächt worden, daß G inzwischen erwachsen geworden ist. Eine einmal gewachsene Beziehung wie zwischen Eltern und Kind kann auch dann fortbestehen, wenn die Kinder erwachsen geworden sind. Das gilt erst recht bei behinderten Kindern, die weiterhin auf Schutz und Obhut angewiesen sind. Darin liegt auch der Unterschied zu der der Entscheidung BSG SozR 5870 § 2 Nr 28 zugrundeliegenden Fallgestaltung, wo ein Mann eine bereits erwachsene, nicht behinderte weibliche Person in seinen Haushalt aufgenommen hatte und vom BSG ein Eltern-Kind-ähnliches Verhältnis verneint worden ist. In der ebenfalls von der Revision angezogenen Entscheidung vom 6. August 1992 – 10 RKg 7/91 – SozR 3-5870 § 2 Nr 19 scheiterte die Annahme eines Pflegekindverhältnisses schon daran, daß das Kind noch mit seiner leiblichen Mutter im selben Haushalt lebte.
Neben einem familienähnlichen Band ist auch die Haushaltsaufnahme trotz der Heimunterbringung zu bejahen. Dazu hat das LSG unter Hinweis auf die Entscheidung des 10. Senats vom 8. Dezember 1993 (BSG SozR 3-5870 § 2 Nr 22) ausgeführt, das örtliche Merkmal einer Familienwohnung sei durch die Heimunterbringung eines schwerstbehinderten Kindes wie hier nicht zwangsläufig beendet, da es sich dabei nicht um eine angeordnete Fürsorgeentziehung mit Heimunterbringung handele. Neben dem Lebensmittelpunkt „Heim” sei vielmehr der Haushalt der Klägerin ein weiterer ortsbezogener Mittelpunkt gemeinschaftlicher Lebensinteressen geblieben, wie sich aus dem Vorhalten des eigenen Zimmers für G ergebe, in dem seine Möbel ständen und das „sein Zuhause” sei; auch seine Wäsche wolle er nur von der Klägerin waschen lassen. Er verbringe dort mehr Zeit als mancher auswärts wohnende Student bei seinen Eltern. Diese Ausführungen lassen Rechtsfehler nicht erkennen. Wie auch die Revision einräumt, sind bei Volljährigen geringere Anforderungen an die Haushaltsaufnahme zu stellen. Die Hinweise der Revision auf den Wegfall des formellen Fortbestehens des Pflegschaftsverhältnisses, des Pflegegeldbezugs oder des ersten Wohnsitzes bei der Klägerin stehen der weiter bestehenden Haushaltsaufnahme von G nicht entgegen. Entgegen der Revision sind auch ein „überwiegender” Lebensmittelpunkt oder die Möglichkeit einer dauerhaften Rückkehr in den Pflegehaushalt nicht erforderlich, wie bereits der 10. Senat in seiner Entscheidung vom 8. Dezember 1993 ausgeführt hat (BSG SozR 3-5870 § 2 Nr 22).
Die Aufenthalte von G im Haushalt der Klägerin haben einen zeitlich bedeutsamen Umfang mit fortbestehender Einbindung und nicht nur Besuchscharakter gehabt (BSG SozR 3-5870 § 2 Nr 22). Bei dieser Wertung ist zu berücksichtigen, daß in der gegenwärtigen mobilen Gesellschaft auch viele auswärtig beschäftigte Elternteile und Studenten in wesentlich geringerem Umfang in der Familienwohnung anwesend sind. Nach den Feststellungen des LSG verbringt G im Haushalt der Klägerin jedenfalls zahlreiche Wochenenden, die „Ferien” (Urlaub von der Behindertenwerkstatt) und auch die Feiertage, zusammen mehr als drei Monate, also einen bedeutsamen Teil des Jahres. Er lebt in dieser Zeit in einem eingerichteten Zimmer und nicht – wie es für einen Besucher typisch wäre – „aus dem Koffer”.
Zum materiellen Aspekt der Haushaltsaufnahme hat das LSG zutreffend ausgeführt, daß es auf ein bestimmtes Mindestmaß an – gemeint ist: finanziellen oder sachlichen – Unterhaltsleistungen nicht mehr ankommt. Durch Art 1 Nr 1b des Zweiten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des BKGG vom 16. Dezember 1970 (BGBl I, 1725) ist in § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 (damals Nr 6) BKGG das Tatbestandsmerkmal des nicht unerheblichen Beitrages zu den Unterhaltskosten gestrichen worden; dadurch wurde das als unsozial empfundene Ergebnis vermieden, daß sonst das – auch bei Pflegeeltern in erster Linie für die finanziell schwächer gestellten gedachte – Kg nur unter zusätzlichen materiellen Opfern erlangt werden konnte (BT-Drucks VI/1204, S 2; BSGE 45, 67, 70 = SozR 2200 § 1262 Nr 11). Zu fordern ist nunmehr allein, daß ein „nennenswerter Betreuungsaufwand” geleistet worden ist (BSG SozR 3-5870 Nr 22). Dem stehen entgegen der Revision die volle Versorgung und Betreuung im Heim während des dortigen Aufenthalts und die Hilfe zur Eingliederung nach dem Bundessozialhilfegesetz während des Aufenthalts bei der Klägerin nicht entgegen. Es genügen die Feststellungen des LSG über die intensive und liebevolle Betreuung, die Einflußnahme, das Abstimmen mit der Heimleitung in wichtigen Fragen, das Vorhalten des Zimmers mit eigenen Möbeln, das Wäschewaschen und die Verwaltung von Taschengeld und Sparkonto. Die „Freiwilligkeit” dieser Leistungen ist dabei entgegen der Auffassung der Revision ohne Bedeutung. Das Gesetz verlangt keine Unterhaltsverpflichtung des Betreuenden.
Der Hinweis der Revision auf die noch lebenden leiblichen Eltern ist angesichts deren – vom LSG festgestellten – vollständiger Trennung von G ebenfalls unerheblich. Eine von der Revision befürchtete „Verwässerung” des Pflegekindbegriffs und des Obhutsprinzips der §§ 2 und 3 BKGG 1990 bei einer Bestätigung der angefochtenen Entscheidung ist nicht zu erkennen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen