Beteiligte
AOK - Die Gesundheitskasse in Hessen - Direktion Bad Homburg - |
Hessische Landesamt für Versorgung und Soziales - Landesversorgungsamt - |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 3. März 1998 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger Anspruch auf Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) hat.
Der 1967 geborene Kläger wurde in der Nacht zum 20. Februar 1993 in einer Diskothek von dem stark angetrunkenen A. W., der damals der Skinhead-Szene angehörte, durch einen Schlag mit einem Bierkrug ins Gesicht und anschließenden Fußtritten gegen den Kopf erheblich verletzt. Insbesondere erlitt er eine Mittelgesichtsfraktur links, ein Schädelhirntrauma ersten Grades und eine Augenverletzung. Außerdem brachen zwei Zähne ab.
Der Beklagte lehnte den Entschädigungsantrag des Klägers ab, weil dieser den Schädiger provoziert habe. Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, dem Kläger dem Grunde nach wegen der Folgen der am 20. Februar 1993 erlittenen Verletzungen im gesetzlichen Umfang Versorgung zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat zum tatsächlichen Geschehnisablauf im Einverständnis mit den Beteiligten die wesentlichen Feststellungen des rechtskräftigen Strafurteils des Amtsgerichts Korbach vom 15. August 1994 zugrunde gelegt und die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ebenso wie bereits das SG allein darauf abgestellt, daß der Kläger die erlittenen Schädigungen iS des § 2 Abs 1 OEG nicht wesentlich mitverursacht habe und es auch nicht unbillig sei, ihm Entschädigung zu gewähren. Festgestellt werden könne überhaupt nur, daß der Kläger nach einem nicht näher bekannten Wortwechsel zu dem glatzköpfigen Schädiger geäußert habe „Du mußt Dir mal einen anderen Friseur suchen”. Diese Äußerung stelle nicht einmal eine Beleidigung dar, sondern sei nur ein lockerer Ausspruch in einer Diskothek am fortgeschrittenen Abend. Die Reaktion des Schädigers sei völlig unerwartet erfolgt und gänzlich inadäquat gewesen. Daß der Schädiger der Skinhead-Szene angehört habe, führe deshalb im vorliegenden Fall nicht zum Leistungsausschluß.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 2 Abs 1 OEG und macht geltend, der Kläger habe einen wesentlichen Tatbeitrag geleistet. Er habe die eigentlich harmlose Äußerung „such Dir erst einmal einen anderen Friseur” gegenüber einem Angehörigen der Skinhead-Szene, die als aggressiv und gewalttätig bekannt sei, unterlassen müssen. Da er anders gehandelt habe, habe er sich grob fahrlässig selbst gefährdet und könne deshalb keine Entschädigung erhalten.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 3. März 1998 und des Sozialgerichts Kassel vom 27. September 1996 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist darauf hin, daß lockere Aussprüche unter Diskothekenbesuchern durchaus üblich seien. Die harmlose Bemerkung eines Bürgers könne nicht deshalb als Selbstgefährdung angesehen werden, weil sie gegenüber einer besonders gewaltbereiten Person abgegeben worden sei. Denn wäre es anders, würde man besonders gewaltbereiten Gruppen Sonderrechte einräumen. Selbst wenn der Schädiger äußerlich als Skinhead zu erkennen gewesen wäre, hätte er – der Kläger – eine solche brutale Reaktion nicht erwarten können.
Die Beigeladene hat sich nicht geäußert.
II
Die Revision ist iS der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
1. Entgegen der Revision ist die Auffassung des LSG, hier komme ein Leistungsausschluß nach § 2 Abs 1 OEG nicht in Betracht, nicht zu beanstanden. Der Kläger hätte seine Schädigung nur dann iS des § 2 Abs 1 1. Alternative OEG wesentlich (mit-)verursacht, wenn sein Tatbeitrag eine annähernd gleichwertige Bedingung neben der des rechtswidrig handelnden Angreifers wäre. So liegt es etwa, wenn sich das Opfer bei seinem Ursachenbeitrag in ähnlich schwerer Weise gegen die Rechtsordnung vergangen hat wie der vorsätzlich handelnde Gewalttäter, zB eine Straftat begangen hat, die ähnlich schwer wie die des Täters mit Strafe bedroht ist (vgl zB BSGE 79, 87, 91 = SozR 3-3800 § 2 Nr 5; BSG SozR 3-3800 § 2 Nr 7). Dafür bestehen hier keine Anhaltspunkte. Denn selbst wenn der Kläger den A. W. mit seiner Äußerung beleidigt hätte, steht die von diesem begangene und abgeurteilte gefährliche Körperverletzung nach den in den damals geltenden §§ 223, 223a Strafgesetzbuch (StGB) dafür angedrohten Strafen (Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren) in keinem Verhältnis zu einer möglichen Bestrafung wegen Beleidigung nach § 185 StGB (Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr).
Auch ohne eine Straftat begangen zu haben, kann der Tatbeitrag eines Opfers jedoch wesentlich mitursächlich iS des § 2 Abs 1 1. Alternative OEG sein, wenn sich das Opfer in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tatbegehung bewußt oder leichtfertig, dh grob fahrlässig, durch ein schwerwiegendes vorwerfbares Verhalten der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt und sich dadurch selbst gefährdet hat, etwa durch die schuldhafte Herausforderung des Angriffs (vgl BSGE 83, 62, 67 = SozR 3-3800 § 2 Nr 9; BSGE 77, 18, 20 = SozR 3-3800 § 2 Nr 3; BSGE 50, 95, 98 = SozR 3800 § 2 Nr 2 sowie die Gesetzesbegründung zum OEG in BT-Drucks 7/2506 S 15 zu § 3). Zur Beurteilung der hier allenfalls in Betracht kommenden groben Fahrlässigkeit des Klägers ist ähnlich wie im Strafrecht ein subjektiver Maßstab anzulegen und dabei zu prüfen, ob das Opfer die Selbstgefährdung nach seinen persönlichen Fähigkeiten sowie den Umständen des Einzelfalles erkennen und vermeiden konnte, weiter, ob das Opfer mit einer Gewalttat rechnen mußte. Nach den Feststellungen des LSG liegen auch diese Voraussetzungen für eine Mitverursachung der Schädigung durch das Opfer nicht vor. In der stark besuchten, wohl auch recht dunklen Diskothek mag es – wie das LSG es als möglich angedeutet hat – zu einer kurzen wörtlichen Auseinandersetzung zwischen dem Kläger und einem Bekannten des Schädigers gekommen sein. Anschließend soll der Kläger, wohl bedingt durch das Gedränge, den Schädiger angerempelt haben, und es soll zu einem Wortwechsel zwischen beiden gekommen sein. Das LSG hat jedoch nur die Äußerung des Klägers, der Schädiger möge sich doch einen anderen Friseur suchen, festgestellt. Diese Bemerkung des Klägers stellt in einer Diskothek jedoch kein schwerwiegendes vorwerfbares Verhalten dar, denn eine solche Äußerung ist nichts Ungewöhnliches unter jungen Leuten. Für den Anspruch auf Gewaltopferentschädigung könnte es allerdings Bedeutung haben, wenn der Kläger den A. W. als Skinhead erkannt und als gewalttätig eingeschätzt hätte. Dies hat das LSG indessen nicht feststellen können. Aber selbst wenn der Kläger A.W. als Skinhead erkannt haben und auch gewußt haben sollte, daß Skinheads äußerst gewaltbereit sind, hätte er in der Diskothek aufgrund der geschilderten Umstände nicht mit einem so plötzlichen, brutalen und unverhältnismäßigen Angriff auf sich rechnen müssen. Das Verhalten des Klägers hat daher nur untergeordnete Bedeutung für die Schädigung, ist mithin nicht mitursächlich.
Zu dem gleichen Ergebnis kommt man (vgl Senatsurteil vom 1. September 1999 - B 9 VG 3/97 R - unveröffentlicht), wenn auf das Verhältnis zwischen der provozierenden Äußerung des Klägers und der Reaktion des Täters abgestellt wird. Der tätliche Angriff war im Vergleich zur Bemerkung des Klägers objektiv völlig unverhältnismäßig und traf den Kläger wie ein „Blitz aus heiterem Himmel” (vgl BSGE 83, 62, 68 = SozR 3-3800 § 2 Nr 9).
2. Dennoch kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben.
Werden – wie hier – nicht nur Geldleistungsansprüche erhoben, sondern mehrere Ansprüche mit unterschiedlichen Voraussetzungen, darf ein Grundurteil nur ergehen, wenn sämtliche Voraussetzungen für jeden Einzelanspruch vom Gericht geprüft und als vorliegend angesehen werden. Das hat das LSG nicht beachtet. Der Kläger verlangt – wie sein gemäß § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches auszulegendes Klagebegehren (vgl dazu BSGE 63, 93, 94 = SozR 2200 § 205 Nr 65) ergibt – alle in seinem Falle möglichen Ansprüche auf Versorgung nach § 1 Abs 1 OEG iVm den entsprechend anzuwendenden Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Dazu gehören nicht nur Ansprüche auf Geldleistungen, zB eine Beschädigtenrente, sondern ua auch die grundsätzlich als Sachleistung gewährte Heil- und Krankenbehandlung (vgl §§ 10 ff BVG).
Die Gewährung von Heil- und Krankenbehandlung kommt nach Ende der Akutbehandlung nur in Betracht, sofern der Kläger andauernde Schädigungsfolgen zurückbehalten haben sollte und zB wegen Verschlimmerung einer Schädigungsfolge behandelt werden müßte. Insoweit sind durch die Vorinstanz keine entsprechenden Tatsachenfeststellungen getroffen worden. Schon deshalb durfte ein Grundurteil nicht ergehen. Aber auch bezüglich des Anspruchs auf Grundrente fehlt es an den für eine abschließende Entscheidung notwendigen Feststellungen. Der Kläger kann eine Grundrente verlangen, wenn seine Erwerbsfähigkeit schädigungsbedingt um mindestens 25 vH gemindert ist (vgl §§ 30 und 31 BVG). Bevor ein Grundurteil zur Grundrente erlassen wird, hat das Tatsachengericht zu ermitteln, ob die Voraussetzungen für diesen Anspruch bestehen, oder jedenfalls auf Grund der Feststellungen ein solcher Anspruch als wahrscheinlich angesehen werden kann (vgl BSG SozR Nrn 3 und 4 zu § 130 SGG). Das LSG hat jedoch lediglich festgestellt, daß der Kläger durch A. W. bestimmte Verletzungen erlitten hat und deshalb in einem Krankenhaus behandelt werden mußte. Ob die Verletzungen bleibende Schädigungsfolgen und eine MdE iS des § 30 Abs 1 Sätze 3 und 4 BVG zur Folge gehabt haben, ist bisher ungeklärt.
Bei dieser Sachlage bedarf es keiner Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Kläger sein rechtliches Begehren mit einer entsprechenden Feststellungsklage auf Versorgung hätte erreichen können.
Fundstellen
Haufe-Index 543053 |
NPA 2000 |
SozSi 2001, 179 |