Entscheidungsstichwort (Thema)
Willkürverbot für Gerichtsentscheidungen. Korrektur einer fehlerhaften Kostenfestsetzung
Leitsatz (amtlich)
Zur Verletzung des Willkürverbots durch eine Gerichtsentscheidung.
Leitsatz (redaktionell)
Auch unter dem Gesichtspunkt des Willkürverbots kommt ein verfassungsgerichtliches Eingreifen nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht und nicht schon dann, wenn die Rechtsanwendung oder das eingeschlagene Verfahren Fehler enthalten. Vielmehr muß hinzukommen, daß die fehlerhafte Rechtsanwendung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluß aufdrängt, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruht. Dabei enthält die verfassungsgerichtliche Feststellung von Willkür keinen subjektiven Schuldvorwurf, sondern will in einem objektiven Sinne verstanden sein; nicht subjektive Willkür führt zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit, sondern die tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit einer Maßnahme im Verhältnis zu der tatsächlichen Situation.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1; ZPO §§ 103, 106
Verfahrensgang
LG München I (Beschluss vom 27.04.1982; Aktenzeichen 13 Qs 32/82) |
AG München (Beschluss vom 10.03.1982; Aktenzeichen 73 Bs 453/81) |
Gründe
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine Kostenfestsetzung, welche die Beschwerdeführer als willkürlich beanstanden.
1. Die Beschwerdeführer waren in einem Privatklageverfahren beschuldigt worden, die in der gleichen Straße wohnende Privatklägerin beleidigt zu haben. Das Verfahren endete mit einem auf Vorschlag des Gerichts abgeschlossenen Vergleich, in dem die Privatklägerin Strafantrag und Privatklage und die Beschwerdeführer ihrerseits die beanstandeten Behauptungen mit Bedauern zurücknahmen; beide Parteien erklärten zudem die Absicht, sich in Zukunft um ein gutnachbarliches Verhältnis zu bemühen.
Ziffer 4 des Vergleichs hatte folgenden Wortlaut:
Von den Gerichtskosten und den notwendigen Auslagen beider Parteien tragen die Beklagten 2/3 und die Klägerin 1/3.
Das Gericht folgte in seiner Kostenentscheidung nach § 471 StPO der Kostenregelung des Vergleichs.
2. Bei der von der Privatklägerin beantragten Kostenausgleichung ging der Rechtspfleger davon aus, daß die von der Privatklägerin geltend gemachten Kosten – einschließlich der von ihr verauslagten Gebühren – mit 641,27 DM und die den Beschwerdeführern entstandenen Kosten mit 598,90 DM anzusetzen seien. Er addierte diese Beträge und setzte zwei Drittel dieser Summe, also 711,90 DM, als den Betrag fest, den die Beschwerdeführer an die Privatklägerin zu erstatten hätten. Dies hatte zur Folge, daß die Privatklägerin trotz ihrer teilweisen Kostentragungspflicht mehr erhielt, als ihr an Kosten entstanden war.
Hiergegen erhoben die Beschwerdeführer Erinnerung mit dem Antrag, die zu erstattenden Kosten auf 285,32 DM festzusetzen. Die Privatklägerin schloß sich diesem Antrag mit dem Hinweis an, das Gericht habe bei der Kostenfestsetzung übersehen, von dem Festsetzungsbetrag in Höhe von 711,90 DM die Kosten der Privatbeklagten mit 426,58 DM in Abzug zu bringen.
Der Rechtspfleger und der Richter des Amtsgerichts halfen der Erinnerung nicht ab. Das Landgericht wies die als Beschwerde zu behandelnde Erinnerung als unbegründet zurück. Die erstattungsfähigen Kosten seien in dem angefochtenen Kostenfestsetzungsbeschluß richtig festgesetzt und ausgeglichen worden; es sei nicht zu beanstanden, daß der Privatklägerin effektiv mehr als beantragt zukomme.
3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer, bei der Kostenausgleichung seien der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und das Willkürverbot mißachtet worden.
Nach dem Rechtsstaatsgebot müßten Eingriffe der öffentlichen Gewalt, auch der Gerichte, für den Staatsbürger möglichst berechenbar sein. Nach dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz hätten die staatlichen Organe die Staatsbürger bei gleichen Sachverhalten gleich zu behandeln; sie unterlägen dem allgemeinen Willkürverbot.
4. Nach Auffassung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz widerspricht die beanstandete Kostenfestsetzung den allgemeinen Grundsätzen der Kostenausgleichung. Deren Sinn sei es, die gegenseitigen Erstattungsansprüche zu verrechnen. Aufgrund der Kostenentscheidung könne die Privatklägerin die Erstattung von zwei Dritteln ihrer eigenen Kosten verlangen. Umgekehrt habe sie den Beschwerdeführern ein Drittel ihrer Kosten erstatten müssen, so daß – nach Verrechnung – der letztlich zu erstattende Betrag nur auf 285,32 DM habe festgesetzt werden dürfen. Daß bei der Ausgleichsberechnung der von der Privatklägerin zu tragende Anteil in Höhe eines Drittels der Gesamtkosten von diesen und nicht von den eigenen Kosten abgezogen worden sei, lasse sich wohl kaum sachlich begründen.
Die Privatklägerin hat den Prozeßbevollmächtigten der Beschwerdeführer mitgeteilt, sie werde sich dem Verfahren der Verfassungsbeschwerde weder anschließen noch als Gegenpartei auftreten. Dies hat sie auch dem Bundesverfassungsgericht angezeigt.
II.
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.
1. Die beanstandete Kostenausgleichung beruht auf § 464 b StPO in Verbindung mit den entsprechend anwendbaren Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Kostenfestsetzung (§§ 103 ff.). Deren Auslegung und Anwendung obliegt den jeweils zuständigen Fachgerichten. Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung betont, daß es nicht dazu berufen ist, Entscheidungen anderer Gerichte einer allgemeinen inhaltlichen Nachprüfung zu unterziehen. Auch unter dem von den Beschwerdeführern geltend gemachten Gesichtspunkt des Willkürverbots kommt ein verfassungsgerichtliches Eingreifen nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht und nicht schon dann, wenn die Rechtsanwendung oder das eingeschlagene Verfahren Fehler enthalten (vgl. BVerfGE 4, 1 [7]). Vielmehr muß hinzukommen, daß die fehlerhafte Rechtsanwendung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluß aufdrängt, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruht (vgl. BVerfGE 42, 64 [72 ff.]; 54, 117 [125]; 55, 72 [89 f.]; 58, 163 [167 f.]; 59, 128 (160 f.]). Dabei enthält die verfassungsgerichtliche Feststellung von Willkür keinen subjektiven Schuldvorwurf, sondern will in einem objektiven Sinne verstanden sein; nicht subjektive Willkür führt zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit, sondern die tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit einer Maßnahme im Verhältnis zu der tatsächlichen Situation, deren sie Herr werden soll (vgl. BVerfGE 4, 144 [155]; 42, 64 [73]; 58, 163 [167 f.]).
2. Die beanstandete Kostenausgleichung ist nach den zutreffenden Ausführungen des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz und der übereinstimmenden Auffassung der Parteien des Ausgangsverfahrens offensichtlich fehlerhaft. Die Zivilprozeßordnung enthält zwar keine ausdrücklichen Vorschriften über die Berechnungsmethode bei einer Kostenverteilung nach Quoten. Aus § 106 ZPO ergibt sich aber, daß es der Sinn des Verfahrens ist, die gegenseitigen Erstattungsansprüche auf der Grundlage der Kostenentscheidung miteinander zu verrechnen (vgl. OLG Hamm, Rpfleger 1977, S. 373 m. w. N.). Bei richtiger Verrechnung waren lediglich 285,32 DM als erstattungspflichtig zugunsten der Privatklägerin festzusetzen, nämlich zwei Drittel von den ihr entstandenen Kosten in Höhe von 641,27 DM (also 427,51 DM) abzüglich eines Drittels von 426,58 DM (also 142,19 DM), das die Privatklägerin von den Kosten der Beschwerdeführer zu tragen hatte. Die in den angegriffenen Entscheidungen angewendete Berechnungsmethode führt hingegen dazu, daß der Privatklägerin weit mehr zuerkannt wird und daß die Beschwerdeführer im Ergebnis noch mehr zu tragen haben als im Falle einer völligen Kostenübernahme.
Diese fehlerhafte Berechnung ist nicht mehr verständlich. Es gehört zum gesicherten Standard der Kostenfestsetzung (vgl. RGZ 35, S. 427 [428]; Wieczorek, ZPO, 2. Aufl., Anm. A II b zu § 104) und versteht sich von selbst, daß keinesfalls höhere Kosten als erstattungsfähig festgesetzt werden dürfen, als dem Berechtigten entstanden sind. Das gilt erst recht, wenn dem Berechtigten – wie im vorliegenden Falle – ein Teil der Gesamtkosten auferlegt worden ist.
Ob bereits die Verkennung solcher selbstverständlicher Grundsätze ein verfassungsgerichtliches Eingreifen gebieten würde, kann angesichts der strengen Voraussetzungen für ein solches Eingreifen zweifelhaft sein. Jedenfalls ist es nicht mehr verständlich, daß eine Korrektur der fehlerhaften Kostenfestsetzung unterblieb, obwohl die erstattungsberechtigte Privatklägerin auch ihrerseits die Berechnung beanstandet hatte. Zu deren Überprüfung bestand nicht zuletzt deshalb Anlaß, weil die Kostenverteilung auf der vergleichsweisen Beendigung eines Streits beruhte und ein nicht unwichtiger Bestandteil der angestrebten Bereinigung war. Spätestens bei der Entscheidung über Erinnerung und Beschwerde hätte berücksichtigt werden müssen, daß es mit der vergleichsweisen Bereinigung unvereinbar war, wenn die eine Partei am Prozeß sogar verdiente und die andere mit Kostenfolgen belastet wurde, mit denen sie beim Vergleichsabschluß schlechterdings nicht zu rechnen brauchte. Unter Berücksichtigung der konkreten Situation muß es daher als eindeutig unangemessen beurteilt werden, wenn die Zurückweisung der Beschwerde nicht nur mit einer rechtsirrigen Billigung der fehlerhaften Berechnung, sondern auch damit begründet worden ist, es sei nicht zu beanstanden, daß der Privatklägerin effektiv mehr als beantragt zukomme.
Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34 Abs. 4 BVerfGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1697490 |
BVerfGE, 189 |