Entscheidungsstichwort (Thema)
Anwaltliches Sachlichkeitsgebot
Leitsatz (redaktionell)
1. Es wird nicht daran festgehalten, daß die Richtlinien des anwaltlichen Standesrechts als Hilfsmittel zur Auslegung und Konkretisierung der Generalklausel über die anwaltlichen Berufspflichten (§ 43 BRAO) herangezogen werden können. Eine rechtserhebliche Bedeutung kommt den Richtlinien im ehrengerichtlichen Verfahren nur noch für eine Übergangszeit bis zur Neuordnung des anwaltlichen Berufsrechts zu, soweit ihre Heranziehung unerläßlich ist, um die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege aufrechtzuerhalten.
2. Ehrengerichtliche Maßnahmen wegen Verletzung des in den Standesrichtlinien niedergelegten Sachlichkeitsgebots sind nur unerläßlich, soweit es sich um strafbare Beleidigungen, die bewußte Verbreitung von Unwahrheiten oder solche herabsetzenden Äußerungen handelt, zu denen andere Beteiligte oder der Verfahrensverlauf keinen Anlaß gegeben haben.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1; BRAO §§ 43, 177 Abs. 2 Nr. 2, § 177; RL § 1; BRA §§ 9-10
Verfahrensgang
Ehrengericht für Rechtsanwälte Köln (Beschluss vom 17.11.1986; Aktenzeichen EV 79/86) |
Rechtsanwaltskammer Köln (Entscheidung vom 20.01.1986; Aktenzeichen Abt. II 156/85) |
Rechtsanwaltskammer Köln (Entscheidung vom 04.09.1985; Aktenzeichen Abt. II 156/85) |
Ehrengericht für Rechtsanwälte Hamm (Beschluss vom 25.03.1981) |
Rechtsanwaltskammer für den Oberlandesgerichtsbezirk Hamm (Entscheidung vom 29.09.1980; Aktenzeichen EV/I/410/ 79 A/I/172/80) |
Rechtsanwaltskammer für den Oberlandesgerichtsbezirk Hamm (Entscheidung vom 10.05.1980; Aktenzeichen EV/I/410/ 79 A/I/172/80) |
Tenor
1. Der Beschluß des Ehrengerichts für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer Hamm/Westfalen vom 25. März 1981 und die Bescheide der Rechtsanwaltskammer für den Oberlandesgerichtsbezirk Hamm vom 10. Mai und 29. September 1980 – EV/I/410/ 79 A/I/172/80 – verletzen den Beschwerdeführer zu 1) in seinem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird zur Entscheidung über die Kosten des Verfahrens an das Ehrengericht zurückverwiesen.
2. Der Beschluß des Ehrengerichts für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer Köln vom 17. November 1986 – IV. Kammer EV 79/ 86 – und die Bescheide der Rechtsanwaltskammer Köln vom 4. September 1985 und 20. Januar 1986 – Abt. II 156/85 – verletzen den Beschwerdeführer zu 2) in seinem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird zur Entscheidung über die Kosten des Verfahrens an das Ehrengericht zurückverwiesen.
3. Das Land Nordrhein-Westfalen hat den Beschwerdeführern die ihnen entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
A.
Die beschwerdeführenden Rechtsanwälte beanstanden, daß gegen sie wegen Verstößen gegen das anwaltliche Sachlichkeitsgebot standesrechtliche Maßnahmen (Rügen) verhängt worden sind.
I.
Die Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) vom 1. August 1959 (BGBl. I S. 565) bezeichnet den Rechtsanwalt als unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1) und als den berufenen unabhängigen Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten (§ 3). Ihm stehen deshalb nicht nur besondere Befugnisse zu, vielmehr unterliegt er auch besonderen Pflichten, die in einer Generalklausel wie folgt umschrieben sind:
§ 43
Allgemeine Berufspflicht
Der Rechtsanwalt hat seinen Beruf gewissenhaft auszuüben. Er hat sich innerhalb und außerhalb des Berufes der Achtung und des Vertrauens, welche die Stellung des Rechtsanwalts erfordert, würdig zu erweisen.
Welche allgemeine Auffassung unter Anwälten über Fragen der Ausübung des Anwaltsberufs bestehen, hat die Bundesrechtsanwaltskammer gemäß § 177 Abs. 2 Nr. 2 BRAO in Richtlinien des anwaltlichen Standesrechts festzustellen. Mehrere dieser Standesrichtlinien befassen sich mit der Pflicht des Anwalts zur Sachlichkeit:
§ 1
Allgemeine Berufspflichten
(1) Der Rechtsanwalt hat seinen Beruf gewissenhaft auszuüben (§ 43 Satz 1 BRAO). Er hat die ihm anvertrauten Interessen sachlich zu vertreten.
(2) bis (3)…
(4) Er darf auch nicht den Anschein eines Handelns gegen das Standesrecht erwecken.
§ 9
Verhalten gegenüber Gerichten
(1) Das Verhalten des Rechtsanwalts gegenüber Gerichten hat seiner Stellung eines gleichberechtigten Organs der Rechtspflege zu entsprechen.
(2) Standeswidrig ist jeder Versuch, die Entscheidung des Richters durch unsachliche Mittel zu beeinflussen, insbesondere Stellen anzurufen, die nach dem Gesetz keinen Einfluß auf die Entscheidung nehmen können, oder den Richter wegen seiner Entscheidung öffentlich herabzusetzen.
§ 10
Verhalten gegenüber Behörden
(1) Auch in seinem Verhalten gegenüber Behörden hat der Rechtsanwalt zu beachten, daß er ein Organ der Rechtspflege ist.
(2) Das Gebot der Sachlichkeit gilt auch ihnen gegenüber.
Verletzt ein Rechtsanwalt die ihm obliegenden Pflichten, so kann der Vorstand der zuständigen Rechtsanwaltskammer eine Rüge aussprechen, wenn die Schuld des Anwalts gering ist und ein Antrag auf Einleitung eines ehrengerichtlichen Verfahrens nicht erforderlich erscheint (§ 74 Abs. 1 BRAO). Dagegen ist Einspruch des betroffenen Anwalts (§ 74 Abs. 5 BRAO) und bei dessen Erfolglosigkeit Antrag auf Entscheidung des Ehrengerichts zulässig (§ 74a Abs. 1 BRAO). Der Beschluß des Ehrengerichts kann nicht mehr angefochten werden (§ 74a Abs. 3 Satz 4 BRAO).
II.
1.a) Der Beschwerdeführer zu 1) vertrat in einem Ermittlungsverfahren gegen Ärzte die Interessen des Anzeigeerstatters, dessen Ehefrau im Krankenhaus nach einem thrombotischen Gefäßverschluß einen zum Tode führenden Herzinfarkt erlitten hatte. Der Anzeigeerstatter hatte den Ärzten unter anderem vorgeworfen, sie hätten zu vorbeugenden Maßnahmen gegen die Thrombenbildung greifen müssen.
Die Staatsanwaltschaft stellte das Ermittlungsverfahren ein, nachdem der Gerichtsärztliche Ausschuß in einer gutachtlichen Stellungnahme ohne weitere Begründung ausgeführt hatte, daß eine Thrombosevorbeugung einer strengen Indikation bedürfe, die nicht vorgelegen habe, und daß der Tod der Patientin auch durch vorbeugende Therapie nicht hätte abgewendet werden können. Hiergegen legte der Beschwerdeführer Beschwerde ein und führte zur Stellungnahme des Gerichtsärztlichen Ausschusses aus:
… ferner wird gesagt, der Tod der Frau Sch. hätte nicht durch vorbeugende Therapie abgewendet werden können. Ich muß sagen, ich habe im Laufe meines langen Anwaltslebens schon manchen Unsinn gelesen. Dies übersteigt jedoch das übliche Maß. Die Behauptung dieser ehrenwerten Herren läuft darauf hinaus, daß sie von sich sagen wollen, sie hätten hellseherische Fähigkeiten.
In Wirklichkeit dürften die ehrenwerten Herren Dres… fachlich überfordert gewesen sein.
b) Wegen dieser Äußerung wurde dem Beschwerdeführer von der zuständigen Rechtsanwaltskammer eine Rüge erteilt. Sein Einspruch wurde zurückgewiesen. Er habe das in den Standesrichtlinien normierte Gebot zur Sachlichkeit mißachtet. Es sei unerheblich, ob das beanstandete Gutachten falsch sei. Dem Sachlichkeitsgebot hätte der Beschwerdeführer genügt, wenn er das Gutachten als „falsch” oder „unzutreffend” bezeichnet hätte.
Auch der Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung blieb erfolglos. Das Ehrengericht vertrat ebenfalls die Auffassung, der Beschwerdeführer habe gegen das in § 1 Abs. 1 und § 10 Abs. 2 der Standesrichtlinien niedergelegte Gebot zur Sachlichkeit verstoßen. Es könne keine Rede davon sein, daß das Standesrecht dem Rechtsanwalt insoweit einen Maulkorb umbinden wolle. Selbstverständlich habe jeder Rechtsanwalt das Recht und auch die Pflicht, sich im Interesse seiner Mandanten mit gutachterlichen Feststellungen von Sachverständigen auseinanderzusetzen und diese anzugreifen, wenn er sie für falsch halte. Dabei komme es indes entscheidend auf das „Wie” der Kritik an. Der Beschwerdeführer habe sich in erheblichem Maße im Ton vergriffen. Daß er die Feststellungen des Gerichtsärztlichen Ausschusses als einen über das übliche Maß hinausgehenden Unsinn und die Mitglieder des Ausschusses als „ehrenwerte Herren” bezeichnet habe, gehe über das erlaubte Maß einer sachlichen Kritik weit hinaus.
c) Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung mehrerer Grundrechte, insbesondere seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG.
Die Rüge kränke ihn zutiefst in seiner Persönlichkeit. Die Standesrichtlinien, auf welche die Rüge ausschließlich gestützt werde, seien keine ausreichenden Eingriffsnormen. Sie dürften auch nicht als Hilfe zur Auslegung des § 43 BRAO in der Weise mißbraucht werden, daß sie über dessen Wortsinn hinausgingen oder grundrechtswidrige Pflichten aufstellten.
Die Generalklausel des § 43 BRAO verpflichte den Anwalt lediglich zu einem solchen Verhalten, daß er gegenüber der rechtsuchenden Bevölkerung – und nicht etwa gegenüber der Staatsgewalt – keinen Achtungs- und Vertrauensverlust erleide. Die in den angegriffenen Entscheidungen vertretene Auffassung, er habe gegen das Gebot zur Sachlichkeit verstoßen, sei irrig. Sehr viel deutlichere richterliche Ausdrucksweisen seien für sachbezogen erklärt worden. Bei der Wertung von Beweisen müsse er als Rechtsanwalt das Recht haben, die Dinge deutlich beim rechten Namen zu nennen. Hätte sich sein Mandant der gleichen Ausdrucksweise wie er bedient, so hätte gegen diesen keine Sanktion verhängt werden können. Als Rechtsanwalt stehe er demgegenüber unter dem Druck der Selbstzensur, wodurch er in seinem Recht auf Meinungsfreiheit und auf Gleichheit vor dem Gesetz verletzt werde.
2.a) Der Beschwerdeführer zu 2) war vielfach als Vergleichs- und Konkursverwalter tätig. In einem Anschlußkonkursverfahren hatte er die Festsetzung einer Vergütung beantragt. Darüber entschied nicht der Rechtspfleger, sondern der Amtsrichter, der die Sache an sich gezogen hatte. Zwischen diesem und dem Beschwerdeführer herrschte nach früherer persönlicher Freundschaft Streit.
Da die Vergütung nicht antragsgemäß festgesetzt worden war, legte der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde ein. Er wies in der Begründung darauf hin, daß er gegen den Amtsrichter einen Ablehnungsantrag gestellt hätte, falls er gewußt haben würde, dieser werde die Entscheidung an sich ziehen. Wörtlich führte er sodann aus:
Es ist gerichts-, stadt- und in Fachkreisen bundesweit bekannt, daß der erkennende Richter und der Unterzeichner, die bis vor etwa zwei Jahren in einem freundschaftlichen Verhältnis zueinander standen, sich seitdem überworfen haben. Das Zerwürfnis geht so weit, daß der erkennende Richter sich nicht scheut, den Unterzeichner vor Dritten persönlich zu diskriminieren. Einzelheiten hätte der Unterzeichner bei Kenntnis des Umstandes, daß der Vergütungsbeschluß vom erkennenden Richter gefaßt werden würde, gemäß § 44 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht.
Da die Entscheidung nunmehr durch den erkennenden Richter getroffen ist, wird beantragt, daß das Vergleichsgericht der Beschwerde abhelfen möge und insoweit der erkennende Richter die Sache gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 RPflG an den Rechtspfleger zurückgibt bzw. seinen Amtsvertreter entscheiden läßt.
b) Das nahm der Amtsrichter zum Anlaß, sich über den Beschwerdeführer bei der zuständigen Rechtsanwaltskammer zu beschweren. Diese erteilte dem Beschwerdeführer eine Rüge in Form der Mißbilligung. Einspruch und Antrag auf gerichtliche Entscheidung blieben erfolglos. Das Ehrengericht ließ es dahingestellt bleiben, ob – wie es noch die Rechtsanwaltskammer angenommen hatte – der Beschwerdeführer gegen den Amtsrichter den Vorwurf der Rechtsbeugung habe erheben wollen. Jedenfalls seien die beiden ersten Sätze der zitierten Textpassagen des Schriftsatzes geeignet, bei dem unbefangenen Leser den Eindruck der Rechtsbeugung durch den betroffenen Richter zu erwecken; entscheidend sei die Formulierung, daß sich der Richter nicht scheue, den Beschwerdeführer vor Dritten persönlich zu diskriminieren. Damit werde ein besonderes Maß an krimineller Energie umschrieben. Daß dieser Eindruck durch den nachfolgenden Text abgeschwächt werde, könne an der Beurteilung insgesamt nichts ändern. Die beanstandete Formulierung gehe über die – erlaubte – Unterstellung der Befangenheit hinaus und sei geeignet, das Ansehen des Richters herabzuwürdigen. Auch im Verfahren auf Festsetzung seiner eigenen Kosten müsse sich der Beschwerdeführer so verhalten, wie es die Grundsätze anwaltlichen Standesrechts forderten. Er habe gegen § 1 Abs. 3 und 4 und § 9 Abs. 1 der Richtlinien verstoßen.
c) Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 GG.
Die mit der Rüge verbundenen Eingriffe in Berufs- und Meinungsfreiheit seien nur gerechtfertigt, wenn sie innerhalb der durch den Gesetzesvorbehalt gezogenen Grenzen blieben. Für die Rüge fehle bereits eine gesetzliche Grundlage, die dem Gebot der Bestimmtheit genüge. Selbst wenn diese im Grundsatz in § 43 BRAO gesehen werden könne, sei es doch rechtsstaatlich bedenklich, wenn diese Generalklausel durch noch offenere und unbestimmtere Regelungen in den Richtlinien „konkretisiert” werde. Gerade das Gebot zur Sachlichkeit sei völlig unbestimmt. Das Ehrengericht wiederhole nur allgemein den Inhalt der Generalklausel; es fehle aber jeder konkrete Rechtssatz und jede Pflichtenbegrenzung. Der bloße Anschein eines Rechtsverstoßes könne jedenfalls – entgegen dem Wortlaut der Richtlinien – keine Sanktionen rechtfertigen.
Der Beschwerdeführer werde auch materiell in seinen Grundrechten verletzt. Das Ehrengericht habe die Grundrechte der Berufs- und Meinungsfreiheit überhaupt nicht berücksichtigt; der Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen bleibe außer acht. Auch sei versäumt worden, das standesrechtliche Gebot zur Sachlichkeit seinerseits im Blick auf die Verfassungsgarantien grundrechtskonform einzuschränken. Kritische Äußerungen – auch gegenüber Richtern – seien im Prinzip durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt. Die angegriffenen Entscheidungen gingen mit ihren Anforderungen selbst über das hinaus, was bisher als Inhalt des Sachlichkeitsgebots gesehen worden sei. Überzeugende Gründe für die Notwendigkeit eines solchen Gebots, für das es international nichts Vergleichbares gebe, seien nicht ersichtlich. Das Standesrecht dürfe nicht strenger sein als die allgemeinen, insbesondere strafrechtlichen Grenzen für Kritik.
Die Anwendung des Sachlichkeitsgebots sei jedenfalls im konkreten Ausgangsfall unverhältnismäßig. Dem Beschwerdeführer werde nur ein Satzteil aus einer umfangreichen Beschwerdeschrift zum Vorwurf gemacht; dieser habe nicht isoliert ohne Berücksichtigung der Umstände und des Gesamtzusammenhangs berücksichtigt werden dürfen. Völlig unhaltbar sei es, in dem nachträglich erhobenen Befangenheitsvorwurf auch einen solchen der Rechtsbeugung gegenüber dem betroffenen Richter zu sehen.
III.
1. Der Bundesminister der Justiz hat namens der Bundesregierung zum Sachlichkeitsgebot ausgeführt, dieses werde in der ehrengerichtlichen Rechtsprechung unmittelbar aus § 43 BRAO hergeleitet. Gerechtfertigt werde es mit der Stellung des Rechtsanwalts, wie sie in den §§ 1, 3 Abs. 1 BRAO umschrieben sei. Für den in manchen Verfahren vorgesehenen Anwaltszwang sei das übergeordnete Interesse der Rechtspflege maßgeblich, die Möglichkeiten für eine einverständliche Beilegung der Streitigkeiten und für eine zutreffende Rechtsfindung durch das Gericht zu verbessern; der Rechtsanwalt werde in diesem Zusammenhang als Filter verstanden, der die Emotion der Partei auffange.
§ 43 BRAO werde durch die Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts ergänzt, die in verschiedenen Zusammenhängen das Gebot der Sachlichkeit aussprächen. Dieses Gebot gehöre zweifellos zum Kernbereich anwaltlicher Berufspflichten. Als problematisch könne sich die Anwendung im Einzelfall erweisen; nicht in jedem Fall sei leicht erkennbar, welches Verhalten unsachlich sei. Seit langem bestehe jedoch Übereinstimmung darüber, daß der Rechtsanwalt nicht daran gehindert werden dürfe, die Interessen seines Mandanten mit Entschiedenheit zu vertreten. Er dürfe hierzu starke, eindringliche Ausdrücke und sinnfällige Schlagworte nutzen. Auch schließe dies die Möglichkeit ein, das Verhalten anderer, an dem Verfahren beteiligter Personen – auch der Richter – kritisch zu würdigen, selbst wenn diese Würdigung im Einzelfall verletzend wirken möge; Voraussetzung sei lediglich, daß der Rechtsanwalt die Tatsachen, auf welche er seine Würdigung stütze, selbst für glaubhaft halten könne und daß sein Vorbringen im Interesse der von ihm vertretenen Partei liege oder daß der Anwalt wenigstens verständigerweise glauben könne, dem Interesse seines Klienten zu dienen. In Abgrenzung hiervon müsse der Rechtsanwalt herabsetzende Angriffe oder abfällige Bemerkungen über andere Verfahrensbeteiligte vermeiden, die für eine wirksame Betonung des sachlichen Standpunktes seines Mandanten keinen Wert hätten und die nur verletzen könnten. Das gleiche gelte für rechtliche, erkennbar überzogene Wertungen etwa in strafrechtlicher Hinsicht, mit denen die Gegenseite eingeschüchtert werden solle.
Aus der ehrengerichtlichen Rechtsprechung ließen sich Fallgruppen für die Abgrenzung zwischen dem Schutz einer geordneten Rechtspflege und den Grundrechten des Anwalts bilden. Unsachliche Äußerungen gegenüber anderen Rechtspflegeorganen berührten unmittelbar den geordneten Verfahrensablauf und damit letztlich die geordnete Rechtspflege als solche. Bei strafrechtlich relevanten Äußerungen sei bei der Abwägung gegenüber der Meinungsäußerungsfreiheit des Anwalts zusätzlich das Recht der persönlichen Ehre zu beachten. Unsachliche Äußerungen, die sich weder gegen andere Rechtspflegeorgane richteten noch strafrechtlich bedeutsam seien, könnten gleichfalls dem Schutz einer geordneten Rechtspflege zuwiderlaufen, wenn die rechtliche Auseinandersetzung durch emotionelle, nicht zur Sache gehörende Streitigkeiten belastet werde. Je weiter der Anwalt vom Verfahrensgegenstand abweiche, je weiter er sich von der Interessenvertretung des Mandanten entferne, je weniger sein Verhalten aus der jeweiligen Verfahrenssituation verständlich sei – also abgestuft nach dem Grad der Unsachlichkeit –, desto eher trete sein Grundrecht auf Meinungsfreiheit bei der Abwägung hinter dem Rechtsgutschutz der geordneten Rechtspflege zurück.
2. Der Bundesgerichtshof hat auf seine ständige Rechtsprechung verwiesen, wonach § 43 BRAO mit Art. 2 Abs. 1, Art. 5, 12 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar sei. Aus verfahrensrechtlichen Gründen kämen nur selten einschlägige Verfahren zu ihm. In der Rechtsprechung der Ehrengerichtshöfe bestehe deshalb eine umfangreiche Kasuistik zum Sachlichkeitsgebot.
3. Nach Ansicht der Bundesrechtsanwaltskammer gehört das Gebot der Sachlichkeit zum Inhalt des § 43 BRAO. Es fordere vom Rechtsanwalt, daß er im Kampf ums Recht nicht nur Ehrkränkungen unterlasse, sondern darüber hinaus sachlich nicht gebotene herabsetzende Angriffe meide. Als Berufsausübungsregelung, die dem Allgemeininteresse an einer funktionstüchtigen Rechtspflege diene, sei der Zweck primär berufs-, nicht aber äußerungsbezogen. Gleichzeitig bezwecke das Gebot den Schutz eines jeden Verfahrensbeteiligten im Rahmen eines geordneten und fairen Verfahrens. § 43 BRAO werde durch den Grundsatz der Freien Advokatur eingegrenzt, wobei aber zu bedenken sei, daß der Anwalt nicht nur weitergehende Befugnisse als sein Mandant habe, sondern auch weitergehende Pflichten. Gerade das Gebot der Sachlichkeit sei eine der Kardinalpflichten des Rechtsanwaltsberufes. Es habe stets weitergereicht als vergleichbare strafrechtliche Gebote. Es berühre nicht das Recht des Anwalts, sich im Verfahren frei zu äußern, und tangiere deshalb die Meinungsfreiheit selbst nicht. Die Grenzziehung zwischen Sachlichkeit und Unsachlichkeit betreffe vielmehr allein die Art und Weise der Meinungsäußerung und finde insoweit ihre Grundlage im Regelungsauftrag des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG und in der ihn ausführenden Berufsausübungsregelung des § 43 BRAO in Verbindung mit den nach § 177 Abs. 2 Nr. 2 BRAO festgestellten Grundsätzen des anwaltlichen Standesrechts.
Die Generalklausel des § 43 BRAO werde durch vielfältige „verfassungsrechtliche Vorgaben” in verfassungsrechtlicher Hinsicht hinreichend bestimmt. Deren Heranziehung sei auch bei der Inhaltsbestimmung des Sachlichkeitsgebots erforderlich. Die in anderen Fällen als Erkenntnishilfe zu verwendenden Richtlinien setzten den Inhalt des Sachlichkeitsgebots voraus. Die Erwähnung des Gebots an einer Vielzahl von Stellen mache seinen Rang deutlich, ohne daß Hilfen zur Inhaltsbestimmung gegeben würden. Auch aus der kasuistischen Rechtsprechung der Ehrengerichte werde nur der Stellenwert des Gebots deutlich; Abgrenzungskriterien habe diese Rechtsprechung dagegen nicht entwickelt. Diese könnten und müßten unmittelbar aus § 43 BRAO hergeleitet werden.
4. Der Deutsche Anwaltverein hält die beiden Verfassungsbeschwerden für begründet, da die beanstandeten Äußerungen unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs nicht als unsachlich beurteilt werden könnten. Das Sachlichkeitsgebot gehöre zum Inhalt des § 43 BRAO. Was sachlich im Sinne der Generalklausel sei, bestimme sich aus der besonderen Funktion des Rechtsanwalts, wenn er in einem Rechtsstreit für seinen Mandanten tätig werde. Er handele nicht als Privatmann, sondern als Organ der Rechtspflege; die Ausübung seiner Funktion liege zugleich im öffentlichen Interesse. Demgemäß dürfe die anwaltliche Tätigkeit nicht allein unter dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit betrachtet werden. Es gehe vielmehr auch um die Verfahrensstellung des Rechtsanwalts, um sein Recht, sich zu Tatsachen und Beweisergebnissen äußern zu dürfen. Nur über eine Zusammenschau von Art. 5, 12, 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG lasse sich das Gebot der Sachlichkeit richtig erfassen.
Dem in den Richtlinien wiederholt angesprochenen, allerdings nicht definierten Sachlichkeitsgebot gebühre ein hoher Rang und zwar sowohl im positiven wie im negativen Sinne. Es habe zunächst eine legitimierende Funktion: Der Rechtsanwalt sei berechtigt, sich so zu äußern und zu erklären, wie er dies nach sorgfältiger Prüfung im Interesse seines Mandanten für angezeigt halten dürfe. Die limitierende Funktion des Gebots zeige sich darin, daß die Äußerung in Bezug zu dem konkreten Verfahren stehen müsse, wobei es genüge, daß der Anwalt sie für sachdienlich halte; die Begrenzung des Sachlichkeitsgebots auf objektiv geeignete Äußerungen wäre eine verfassungsrechtlich nicht legitimierbare Einschränkung des Grundsatzes der freien Advokatur. Jeder Versuch, das Sachlichkeitsgebot zu definieren, stoße auf Grenzen; letztlich komme es auf die tatrichterliche Würdigung im Einzelfall an; wobei die beanstandete Äußerung nicht aus dem Zusammenhang gewiesen werden dürfe. Unvereinbar mit dem Sachlichkeitsgebot dürften Äußerungen dann sein, wenn sie offensichtlich in keinem Zusammenhang mehr zu dem jeweiligen Verfahren stünden, wenn es sich um diffamierende Schmähkritik oder um eine bewußt unwahre oder leichtfertige Behauptung handele, deren Unhaltbarkeit offenkundig sei.
5. Nach Ansicht des Republikanischen Anwaltsvereins sind die in den Grundsätzen des anwaltlichen Standesrechts niedergelegten allgemeinen Auffassungen über die Ausübung des Anwaltsberufs nicht schlechthin ungeeignet, normative Maßstäbe dafür zu setzen, was im Rahmen der anwaltlichen Tätigkeit berufs- und standesrechtlich als rechtmäßig oder rechtswidrig anzusehen sei. Auch soweit die Standesrichtlinien die aus § 43 Satz 2 BRAO folgende allgemeine Berufspflicht konkretisierten, könne vernünftigerweise hiergegen nichts eingewendet werden. Etwas anderes gelte jedoch schlechthin für denjenigen Bereich der Standesrichtlinien und des anwaltlichen Berufsrechts, welcher die Tätigkeit des Rechtsanwalts unter dem Gesichtspunkt des Sachlichkeitsgebots einer inhaltlichen Kontrolle und gar ehrengerichtlichen Ahndung unterziehe. Hier kollidierten die Standesrichtlinien nicht nur mit einfachem Recht, sondern auch mit dem Grundrecht der Meinungsfreiheit, zu deren Einschränkung sie nicht geeignet seien.
Soweit der Rechtsanwalt durch seine Tätigkeit dazu beitrage, geschützte Rechtsgüter eines anderen zu beeinträchtigen, setzten die Strafgesetze und das vertragliche und deliktische Haftungsrecht ausreichende Schranken, wobei die Wahrnehmung berechtigter Interessen den Handlungsspielraum erweitere. Das standesrechtliche Sachlichkeitsgebot hingegen könne selbst in Verbindung mit den gesetzlichen Vorschriften weder in formeller noch in materieller Hinsicht als Schranke des Grundrechts der Meinungsfreiheit angesehen werden. Formell erfülle der Begriff der Sachlichkeit nicht die Anforderungen an die Bestimmtheit einer derartigen, noch dazu sanktionsbewehrten Rechtsnorm. Auch materiell sei das Sachlichkeitsgebot als Einschränkung der Meinungsfreiheit nicht zu halten. Der Begriff der Sachlichkeit sei nicht justitiabel, wie sich in der Praxis gezeigt habe. Die Ehrengerichte seien schon bei der Ermittlung der zumeist komplexen und nicht mehr rekonstruierbaren Sachverhalte überfordert. Zudem sei zu befürchten, daß eher individuelle geschmackliche Kriterien in ihre Urteilsfindung einfließen und die Ehrenrichter eigene Qualitäts- und Zweckmäßigkeitskriterien ansetzen und so die Definitionskompetenz dafür in Anspruch nehmen würden, was jeweils Standesauffassung sei, statt gesetztes Recht anzuwenden. Die Stellung des Rechtsanwalts erfordere es, daß er das ihm allein zur Verfügung stehende Mittel des geschriebenen und gesprochenen Wortes zur Äußerung seiner und seines Mandanten Auffassung unerschrocken handhaben könne, ohne befürchten zu müssen, im Nachhinein und ohne Berücksichtigung des jeweiligen Zusammenhangs ehrengerichtlich zur Rechenschaft gezogen zu werden. Es sei durch nichts zu rechtfertigen, die Prozeßgegner des Rechtsanwalts und die Richter oder Staatsanwälte über den straf- und zivilrechtlichen Ehrenschutz hinaus durch das Standesrecht gegen Kritik zu schützen.
6. Nach Meinung des Bundes Freier Rechtsanwälte ist der Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 2) aus den gleichen Gründen stattzugeben, wie sie in der älteren Verfassungsbeschwerde dargelegt worden seien.
7. Der Vorstand der Rechtsanwaltskammer Hamm hält die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 1) für unbegründet; er bleibt bei der in den angegriffenen Bescheiden vertretenen Beurteilung und meint, daß die Mißbilligung herabsetzender Äußerungen auch dann nicht zu beanstanden sei, wenn diese nicht als beleidigend im Sinne der allgemeinen Gesetze zu beurteilen seien. Der Vorstand der Rechtsanwaltskammer Köln hält – neben Verunglimpfungen – solche herabsetzenden Behauptungen und Werturteile für unsachlich, die entweder erkennbar nichts mit der jeweiligen Sache zu tun hätten oder so allgemein seien, daß sie mangels Substantiierung nicht nachvollzogen werden könnten. Für den beanstandeten Vorwurf habe es der Beschwerdeführer zu 2) an einer ausreichenden Substantiierung fehlen lassen.
Entscheidungsgründe
B.
Die zulässigen Verfassungsbeschwerden sind begründet.
Die den Beschwerdeführern erteilten Rügen greifen in deren freie Berufsausübung als Rechtsanwälte ein. Für diese von den Ehrengerichten gebilligten Eingriffe fehlt bereits die gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG erforderliche gesetzliche Grundlage.
I.
1. Sowohl in den Bescheiden der Kammervorstände als auch in den Beschlüssen der Ehrengerichte werden die Rügen ausdrücklich auf Vorschriften der Standesrichtlinien gestützt. Diese Richtlinien bilden indessen keine ausreichende Grundlage für Einschränkungen der anwaltlichen Berufsausübung.
a) Gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG kann die Berufsausübung durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes geregelt werden. Das verfassungsrechtlich vorgeschriebene Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage beruht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darauf, daß einerseits das Grundrecht der Berufsfreiheit die menschliche Persönlichkeit, die nach der Ordnung des Grundgesetzes der oberste Rechtswert ist, in einem für ihre Selbstbestimmung in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft besonders wichtigen Bereich schützt, daß andererseits die Inanspruchnahme dieser Freiheit mit den Belangen der Allgemeinheit in Einklang gebracht werden muß und daß die Abwägung, gegenüber welchen Gemeinschaftsinteressen und wie weit das Freiheitsrecht des Einzelnen zurücktreten muß, in den Verantwortungsbereich des Gesetzgebers fällt (vgl. BVerfGE 7, 377 (397, 404 f.); 13, 97 (104 f.); 33, 125 (158 f.); 41, 251 (263 f.); vgl. auch BVerfGE 63, 266 (286 f.)). Dieser Verantwortung kann sich der demokratische Gesetzgeber nicht beliebig entziehen. Vielmehr ist in einem Staatswesen, in dem das Volk die Staatsgewalt am unmittelbarsten durch das von ihm gewählte Parlament ausübt, vor allem dieses Parlament dazu berufen, im öffentlichen Willensbildungsprozeß unter Abwägung der verschiedenen, unter Umständen widerstreitenden Interessen über die von der Verfassung offengelassenen Fragen des Zusammenlebens zu entscheiden (BVerfGE 33, 125, (159); vgl. auch BVerfGE 64, 208 (214 f.)).
Die Verfassung gebietet nicht, daß Einschränkungen der Berufsfreiheit ausschließlich durch den staatlichen Gesetzgeber oder durch die von ihm ermächtigte staatliche Exekutive angeordnet werden müssen. Vielmehr sind solche Regelungen innerhalb bestimmter Grenzen auch in Gestalt von Satzungen zulässig, die von einer mit Autonomie ausgestatteten Körperschaft erlassen werden. Der Gesetzgeber muß dabei aber – wie das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner ersten grundlegenden Entscheidung ausgeführt hat – berücksichtigen, daß die Rechtssetzung durch Berufsverbände besondere Gefahren für die Betroffenen und die Allgemeinheit mit sich bringen kann; zum Nachteil der Berufsanfänger und Außenseiter kann sie ein Übergewicht von Verbandsinteressen oder ein verengtes Standesdenken begünstigen, das notwendigen Veränderungen und Auflockerungen festgefügter Berufsbilder hinderlich ist. Am ehesten darf ein Berufsverband zur Normierung solcher Berufspflichten ermächtigt werden, die keinen statusbildenden Charakter haben und die lediglich in die Freiheit der Berufsausübung von Verbandsmitgliedern eingreifen. Im einzelnen hängt die Abgrenzung von der Intensität des Eingriffs in das Grundrecht der Berufsfreiheit ab, wobei die Anforderungen an die Bestimmtheit der erforderlichen gesetzlichen Ermächtigung um so höher sind, je empfindlicher der Berufsangehörige in seiner freien beruflichen Betätigung beeinträchtigt wird und je stärker die Interessen der Allgemeinheit an der Art und Weise der Tätigkeit berührt werden (vgl. BVerfGE 33, 125 (155 ff.); ferner BVerfGE 71, 162 (172) m. w. N.).
b) Die Richtlinien des anwaltlichen Standesrechts werden von der herrschenden Meinung und in der ehrengerichtlichen Rechtsprechung zutreffend nicht als Rechtsnormen im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG aufgefaßt (vgl. die Nachweise bei Lingenberg/ Hummel, Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts, 1981, Einl., Anm. 5; Sue, Rechtsstaatliche Probleme des anwaltlichen Standesrechts, 1986, S. 71 ff.). Sie haben, wie das Bundesverfassungsgericht bereits ausgeführt hat (BVerfGE 36, 212 (217)), im Unterschied zu den ärztlichen Berufsordnungen insbesondere nicht die Rechtsnatur von autonomem Satzungsrecht. Denn die Bundesrechtsanwaltsordnung enthält zum Erlaß eines solchen Satzungsrechts keinerlei Ermächtigung durch den Gesetzgeber, geschweige denn eine hinreichend bestimmte. Zwar sah der Entwurf für die Bundesrechtsanwaltsordnung (BTDrucks. III/120) in § 191 zunächst vor, der Bundesrechtsanwaltskammer solle es obliegen, Richtlinien für die Ausübung des Anwaltsberufes „aufzustellen”. Im Rechtsausschuß des Bundestages (vgl. dessen Schriftl. Bericht, BTDrucks. III/778, S. 10) bestand jedoch Übereinstimmung darüber, daß die Richtlinien keinen normativen Charakter tragen dürften und daß in ihnen nur die Auffassungen der Standesgenossen zusammenfassend zu registrieren seien. Daher überträgt § 177 Abs. 2 Nr. 2 BRAO der Bundesrechtsanwaltskammer lediglich die Aufgabe, die allgemeine Auffassung über Fragen der Ausübung des Anwaltsberufes in Richtlinien „festzustellen”. Eine weitergehende Befugnis ließe sich auch schwerlich damit vereinbaren, daß die Bundesrechtsanwaltskammer als Verbandskörperschaft nicht von den Berufsangehörigen als Mitgliedern, sondern von den Regionalkammern gebildet und daß diese ihrerseits lediglich von ihren Präsidenten ohne Rücksicht auf die Mitgliederstärke vertreten werden (§§ 175, 188 BRAO). Diese fehlende Normqualität der Richtlinien hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner ersten einschlägigen Entscheidung hervorgehoben (BVerfGE, a.a.O. (216 f.)).
c) Wenn sonach die Standesrichtlinien auch nicht als Rechtsnormen angesehen werden können, so ist ihnen in der bisherigen ehrengerichtlichen Rechtsprechung gleichwohl eine gewisse rechtserhebliche Bedeutung beigemessen worden. Die Ehrengerichte standen vor der Schwierigkeit, daß der Gesetzgeber die anwaltlichen Berufspflichten im wesentlichen durch eine Generalklausel umschrieben hatte und daß diese grundsätzlich als eine formell ausreichende Rechtsgrundlage für Eingriffe in die Berufsausübung beurteilt wurde (vgl. BVerfGE 26, 186 (204); 36, 212 (219); 57, 121 (132); 66, 337 (355 f.)). Es lag daher nahe, daß sie sich bei der ihnen obliegenden Auslegung und Anwendung der Generalklausel an den Standesrichtlinien orientierten. Dies ist in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung gebilligt worden. Unter Anknüpfung an die in Schrifttum und Judikatur vorherrschende Ansicht wurden die Richtlinien als eine wesentliche Erkenntnisquelle dafür angesehen, was im Einzelfall nach der Auffassung angesehener und erfahrener Standesgenossen der Meinung aller anständig und gerecht denkenden Anwälte und der Würde des Standes entspreche. Sie sollten Auskunft darüber geben, wonach der Anwalt sich in Ausübung seines Berufes nach Ansicht seiner Standesgenossen zu richten habe. Insbesondere könnten sie als Hilfsmittel dienen, wenn die Generalklausel des § 43 BRAO über die anwaltlichen Berufspflichten anzuwenden und durch Auslegung zu konkretisieren sei (BVerfGE 36, 212 (217); vgl. ferner BVerfGE 57, 121 (132 f.); 60, 215 (230); 66, 337 (356)).
An dieser Beurteilung der Standesrichtlinien wird nicht festgehalten. Diese mögen ihren guten Sinn darin haben, daß sie das Standesethos widerspiegeln. Wird ihnen aber eine weitergehende rechtserhebliche Funktion beigelegt, dann begegnet dies gewichtigen, auch verfassungsrechtlich relevanten Bedenken, die neuerdings die Forderung ausgelöst haben, die Richtlinienregelung durch eine Satzungskompetenz der Rechtsanwaltskammer zu ersetzen (vgl. Kleine-Cosack, AnwBl. 1986, S. 505 (kritisch dazu Ostler, AnwBl. 1987, S. 224); Zuck, ZRP 1987, S. 145; ferner kritisch zur überkommenen Beurteilung der Standesrichtlinien Redeker, NJW 1982, S. 2761 und 1987, S. 304; Jarass, NJW 1982, S. 1833 (1836); Ostler, NJW 1987, S. 281 (288 f.); Schiefer, NJW 1987, S. 1969 (1978)). Kritisiert wird insbesondere, daß die Richtlinien – wie auch in den vorliegenden Fällen – in der Spruchpraxis der Kammervorstände und Ehrengerichte trotz fehlender Normqualität immer wieder wie Rechtssätze behandelt werden. Ihre Charakterisierung als Hilfsmittel für die Konkretisierung der Generalklausel, die Art und Weise ihres Zustandekommens und nicht zuletzt ihre normähnliche Formulierung als Gebote und Verbote erhöhen die ohnehin bestehende Schwierigkeit, sie anders denn als gültige Verhaltensmaßstäbe einzuordnen. Werden sie zutreffend als bloßer Niederschlag vorhandener Standesauffassungen verstanden, können sie weder Rechtsklarheit noch Rechtssicherheit bewirken; vor allem sind sie in ihrer Immobilität ungeeignet, auf umstrittenen Gebieten Lösungen herbeizuführen oder das überlieferte Standesrecht entsprechend den veränderten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen rechtsgestaltend fortzuentwickeln und beispielsweise im Rahmen der europäischen Integration an abweichende Vorstellungen anzugleichen.
Für die verfassungsrechtliche Beurteilung sind in einem demokratischen Gemeinwesen bereits diese Nachteile bedeutsam. Ausschlaggebend ist darüber hinaus, daß bloße Standesauffassungen jedenfalls dann nicht ausreichen können, um eine Grundrechtsbeschränkung zu legitimieren, wenn der Gesetzgeber bei seiner Normierung der Berufspflichten selbst nicht darauf Bezug nimmt (vgl. den Wortlaut des § 43 BRAO). Eingriffe in die Berufsfreiheit setzen „Regelungen” voraus, die durch demokratische Entscheidungen zustande gekommen sind und die auch materiellrechtlich den Anforderungen an Einschränkungen dieses Grundrechts genügen; im übrigen unterliegt die durch den Grundsatz der freien Advokatur gekennzeichnete anwaltliche Berufsausübung unter der Herrschaft des Grundgesetzes der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des Einzelnen (vgl. BVerfGE 50, 16 (29); 63, 266 (284)). Die deklaratorische Feststellung einer vorhandenen communis opinio kann – ebensowenig wie nachkonstitutionelles Gewohnheitsrecht (vgl. BVerfGE 22, 114 (121)) – keine Regelung in diesem Sinne sein, und zwar um so weniger, wenn dabei lediglich auf die Meinung angesehener und erfahrener Standesgenossen abgestellt wird. Sie läßt keinen Raum für eine Prüfung und Entscheidung des Normgebers, ob die Einschränkung der Berufsfreiheit jeweils durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt wird und ob die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gesetzten Grenzen eingehalten werden; sie genügt nicht einmal den für Satzungsrecht geltenden Anforderungen, da sie keinen Unterschied macht zwischen statusbildenden, dem Gesetzgeber vorbehaltenen Regelungen und solchen, zu denen auch Berufsverbände ermächtigt werden dürfen.
2. Wenn sonach die Standesrichtlinien künftig weder als normative Regelung der anwaltlichen Berufspflichten noch als rechtserhebliches Hilfsmittel zur Konkretisierung der Generalklausel in Betracht kommen, bleibt als Grundlage für die Einschränkung der anwaltlichen Berufsausübung neben vorkonstitutionellem Gewohnheitsrecht im wesentlichen nur diese Generalklausel und ihre Auslegung durch die ehrengerichtliche Rechtsprechung. Damit fehlt ein nicht unerhebliches Element, das bislang die Nachteile der nur generalklauselartigen Umschreibung der Berufspflichten abgemildert hat (vgl. BVerfGE 66, 337 (356)). Bis dieser Mangel durch eine Berufsordnung in Gestalt von Satzungsrecht behoben wird, ergibt sich somit eine Situation wie in solchen Fällen, in denen eine verfassungsrechtlich ursprünglich für unbedenklich gehaltene Maßnahme aufgrund einer gewandelten Rechtsauffassung verfassungsrechtlich bedenklich geworden ist. Hier hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt als Ausnahme die Notwendigkeit von Übergangsfristen anerkannt, um einen Zustand zu vermeiden, welcher der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als der bisherige (vgl. BVerfGE 41, 251 (266 f.); 58, 257 (280 f.)). Dies ist auch im vorliegenden Fall geboten, zumal die bisherige Auffassung in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung bis in die jüngere Zeit gebilligt worden ist.
Die Anerkennung dieser Notwendigkeit bedeutet freilich nicht, daß innerhalb der Übergangsfrist die bisherige Rechtspraxis ohne weiteres so fortbestehen dürfte, als sei sie verfassungsrechtlich unbedenklich. Vielmehr reduzieren sich die Befugnisse der Kammern und Gerichte zu Eingriffen in verfassungsrechtlich geschützte Positionen auf das, was für die geordnete Weiterführung eines funktionsfähigen Betriebes unverzichtbar ist (BVerfGE, a. a. O.). Auf das Ansehen der Anwaltschaft kann es nur ankommen, wenn es über bloße berufsständische Belange hinaus im Allgemeininteresse liegt (vgl. auch BVerfGE 66, 337 (354)). Nur soweit es zur Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Rechtspflege unerläßlich ist, kann demgemäß auch weiterhin auf die Standesrichtlinien zur Konkretisierung der Generalklausel zurückgegriffen werden, wobei selbstverständliche Voraussetzung ist, daß die jeweiligen Gebote auch den materiellrechtlichen Anforderungen an Grundrechtsbeschränkungen genügen. Das wird sich im wesentlichen mit denjenigen Berufspflichten decken, welche die Ehrengerichte in anerkannter Rechtsprechung unmittelbar aus der Generalklausel oder aus unbestritten fortgeltendem vorkonstitutionellem Gewohnheitsrecht hergeleitet haben, wie etwa die Verschwiegenheitspflicht, das Verbot der Wahrnehmung widerstreitender Interessen, die Grundsätze der Gebührenberechnung (vgl. auch die gesetzliche Verpflichtung hierzu in § 18 BRAGO) oder auch weitere in den Richtlinien genannte Pflichten, sofern diese zurückhaltend und unter Konzentration auf ihren Kerngehalt herangezogen werden (zum Werbeverbot vgl. die Entscheidung vom heutigen Tage im Verfahren 1 BvR 362/79).
II.
Als weiterhin anwendbares Hilfsmittel zur Konkretisierung der Generalklausel kann auch das in den Richtlinien niedergelegte Sachlichkeitsgebot angesehen werden. Während der Übergangszeit ist es indessen nur in einem so begrenzten Umfang heranzuziehen, daß es das den Beschwerdeführern zur Last gelegte Verhalten nicht umfaßt.
1. Sachlichkeit gehört seit jeher zu den anwaltlichen Berufspflichten. Die frühesten ehrengerichtlichen Entscheidungen sind dazu bereits in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts ergangen, wenige Jahre nach Inkrafttreten der Rechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 1878 (vgl. Isele, BRAO, 1976, Anhang zu § 43, S. 670 (675)). Die Bedeutung des Gebots kann darin gesehen werden, daß es zu einem sachgerechten, professionellen Austragen von Rechtsstreitigkeiten anhält, indem es beispielsweise Beleidigungen oder die bewußte Verbreitung von Unwahrheiten unterbindet, die sich emotionalisierend und schädlich für die Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit anderer Verfahrensbeteiligter auswirken. Als unsachlich und unprofessionell gelten ebenfalls herabsetzende persönliche Angriffe, die mit dem Gegenstand des Verfahrens nichts zu tun haben, bei dem aber die Gelegenheit eines Verfahrens zur Abrechnung mit dem Kritisierten genutzt wird und die für alle Beteiligten Kraft und Zeit kosten, ohne etwas zur Rechtsfindung oder zur Interessenwahrnehmung für den Mandanten auszutragen.
In den Standesrichtlinien ist das Sachlichkeitsgebot allerdings derart weitgefaßt, daß seine verfassungsrechtliche Beurteilung selbst dann zu Bedenken Anlaß geben würde, wenn es auf einer ausdrücklichen normativen Grundlage beruhen würde. Bedenken bestehen bereits unter dem rechtsstaatlichen Gesichtspunkt der Bestimmtheit. Was im Einzelfall „sachlich” oder „unsachlich” ist, ob und wie weit es gestattet ist, schlagkräftige und sinnfällige Ausdrücke aus dem Sinnzusammenhang oder einer langen Prozeßgeschichte zu isolieren, bis zu welchem Ausmaß sich die Art und Weise des Ausdrucks überhaupt von seinem Inhalt abheben läßt, ohne daß mit der Formulierung zugleich die Sachaussage verboten wird – all dieses läßt sich aus den verschiedenen Bestimmungen der Standesrichtlinien nicht ablesen. Deren sonst übliche Funktion als Erkenntnisquelle und Orientierungshilfe entfällt hier im wesentlichen. Zutreffend hat die Bundesrechtsanwaltskammer darauf hingewiesen, daß die häufige Erwähnung des Sachlichkeitsgebots in den Richtlinien nur seinen Rang im Rahmen der übrigen standesrechtlichen Gebote verdeutlicht, daß aber sein Inhalt von den Richtlinien als gegeben vorausgesetzt wird. Auch eine Auswertung der umfangreichen ehrengerichtlichen Rechtsprechung hilft nicht weiter. Die Ehrengerichte haben zwar versucht, das Sachlichkeitsgebot unter Rückgriff auf die Organstellung des Anwalts und auf seine besonderen Rechte und Pflichten zu begründen und inhaltlich zu konkretisieren. Die Fülle an kasuistischen Entscheidungen (vgl. Isele, a.a.O.) belegt indessen, daß dieser Versuch gescheitert sein dürfte. Es ist, was die Bundesrechtsanwaltskammer betont, auch der Rechtsprechung nicht gelungen, nachvollziehbare Kriterien zur Abgrenzung von sachlichem und unsachlichem Verhalten zu entwickeln. Trotz einer nun 100 Jahre währenden Auslegungstradition kann das Sachlichkeitsgebot nicht auf jenen Kern beschränkt werden, den der Bundesminister der Justiz als unstreitig dargestellt hat.
Weitere verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber dem in den Standesrichtlinien niedergelegten weiten Sachlichkeitsgebot ergeben sich bei seiner materiellrechtlichen Überprüfung. Als Berufsausübungsregelung ist es nur statthaft, soweit es sich durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls rechtfertigen läßt und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt (vgl. dazu BVerfGE 61, 291 (312); 68, 272 (282)); auch muß sich seine Anwendung innerhalb der vom Grundrecht der Meinungsfreiheit gezogenen Grenzen halten (vgl. BVerfGE 71, 162 (178 ff.)). Bei der Prüfung, ob standesrechtliche Maßnahmen gegen einen Anwalt wegen Verstoßes gegen das Sachlichkeitsgebot den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen, ist davon auszugehen, daß die anwaltliche Berufsausübung grundsätzlich der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des Einzelnen unterliegt (vgl. BVerfGE 63, 266 (282 ff.)). Als unabhängiges Organ der Rechtspflege und als der berufene Berater und Vertreter der Rechtsuchenden hat er die Aufgabe, zum Finden einer sachgerechten Entscheidung beizutragen, das Gericht – und ebenso Staatsanwaltschaft oder Behörden – vor Fehlentscheidungen zu Lasten seines Mandanten zu bewahren und diesen vor verfassungswidriger Beeinträchtigung oder staatlicher Machtüberschreitung zu sichern; insbesondere soll er die rechtsunkundige Partei vor der Gefahr des Rechtsverlustes schützen (ähnlich für den Anwalt im Zivilprozeß Stürner, JZ 1986, S. 1089 (1090) unter Berufung auf Vollkommer, Die Stellung des Anwalts im Zivilprozeß, 1984, S. 20/21). Die Wahrnehmung dieser Aufgaben erlaubt es dem Anwalt – ebenso wie dem Richter – nicht, immer so schonend mit den Verfahrensbeteiligten umzugehen, daß diese sich nicht in ihrer Persönlichkeit beeinträchtigt fühlen. Nach allgemeiner Auffassung darf er im „Kampf um das Recht” auch starke, eindringliche Ausdrücke und sinnfällige Schlagworte benutzen, ferner Urteilsschelte üben oder „ad personam” argumentieren, um beispielsweise eine mögliche Voreingenommenheit eines Richters oder die Sachkunde eines Sachverständigen zu kritisieren. Nicht entscheidend kann sein, ob ein Anwalt seine Kritik anders hätte formulieren können; denn grundsätzlich unterliegt auch die Form der Meinungsäußerung der durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Selbstbestimmung (vgl. BVerfGE 54, 129 (138 f.)). Die Grenze einer zumutbaren Beschränkung der Berufsausübung und der Meinungsfreiheit wird insbesondere überschritten, wenn Kammervorstände oder Ehrengerichte Äußerungen eines Anwalts als standeswidrig mit der Begründung beanstanden, sie würden von anderen Verfahrensbeteiligten als stilwidrig, ungehörig oder als Verstoß gegen den guten Ton und das Taktgefühl empfunden oder sie seien für das Ansehen des Anwaltsstandes abträglich. Solche Reglementierungen können nicht Sache der Standesorganisation für einen Beruf sein, zu dessen Aufgaben gerade das Äußern von Meinungen gehört und für den Wort und Schrift die wichtigsten „Berufswaffen” sind. Halten sich die Kammervorstände und Ehrengerichte bei der Anwendung des Sachlichkeitsgebots zurück, dann läßt sich auch das bislang bestehende Ungleichgewicht zwischen Sanktionen für richterliche und anwaltliche Entgleisungen einebnen (Beispiele bei Rudolph, Öffentliche Äußerungen von Richtern und Staatsanwälten, DRiZ 1987, S. 337 (338); ferner BGH, DRiZ 1978, S. 87 und 1980, S. 391).
Die Ausgangsverfahren geben keinen Anlaß zu der abschließenden Prüfung, in welchem Umfang das Sachlichkeitsgebot den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen würde. Für die Übergangszeit ist seine Anwendung aus den erörterten Gründen jedenfalls auf das zu beschränken, was zur Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Rechtspflege unerläßlich ist. Das bedeutet: Herabsetzende Äußerungen, die ein Anwalt im Zusammenhang mit seiner Berufsausübung und der dabei zulässigen Kritik abgibt, sind noch kein Anlaß zu standesrechtlichem Eingreifen, wenn nicht besondere Umstände hinzutreten. Sie sind erst dann als Berufspflichtverletzung zu beanstanden, wenn die Herabsetzungen nach Inhalt oder Form als strafbare Beleidigungen zu beurteilen sind, ohne durch die Wahrnehmung berechtigter Interessen gedeckt zu werden. Darüber hinaus erscheint während der Übergangszeit ein standesrechtliches Eingreifen wegen Verletzung des Sachlichkeitsgebotes nur in engen Grenzen statthaft, wenn etwa ein Anwalt unprofessionell handelt, indem er entweder bewußt Unwahrheiten verbreitet oder den Kampf ums Recht durch neben der Sache liegende Herabsetzungen belastet, zu denen andere Beteiligte oder der Verfahrensverlauf keinen Anlaß gegeben haben. Wird die Anwendung des Sachlichkeitsgebots in Einklang mit der Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins auf derartige Fälle beschränkt, dann handelt es sich um eine verfassungsrechtlich zulässige Beschränkung der Berufsausübung, bei der auch keine Bedenken unter dem Gesichtspunkt mangelnder Bestimmtheit erkennbar sind (vgl. auch Sue, a.a.O., S. 197 ff.). Ob der Normgeber bei der künftigen Neuordnung des Standesrechts eine weitergehende Tragweite für das Sachlichkeitsgebot vorsehen dürfte und ob nicht weitergehende Einschränkungen der Berufsfreiheit als statusbestimmende Regelungen vom Gesetzgeber selbst verantwortet werden müßten, kann offenbleiben.
2. Soweit nach alledem das in den Standesrichtlinien niedergelegte Sachlichkeitsgebot während der Übergangszeit weiterhin als Hilfsmittel zur Konkretisierung der Generalklausel anwendbar ist, umfaßt es nicht das den Beschwerdeführern vorgeworfene Verhalten.
a) Die beanstandeten Äußerungen der beiden Beschwerdeführer enthalten ersichtlich keine Formalbeleidigung oder eine sonstige strafrechtlich relevante Ehrverletzung der kritisierten Personen. Das gilt jedenfalls dann, wenn sie in der gebotenen Weise im Gesamtzusammenhang beurteilt werden und wenn der Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen berücksichtigt wird.
Im Falle des Beschwerdeführers zu 1) haben auch der Kammervorstand und das Ehrengericht zutreffend keine strafbare Beleidigung angenommen. Die Ausdrücke „Unsinn” und „ehrenwerte Herren” hat der Beschwerdeführer für die Kritik an einer gutachtlichen Stellungnahme verwendet, die sich nicht mit einer bloßen Vermutung begnügte, sondern jede Möglichkeit einer mitverursachenden Kausalität am Tod der Ehefrau des Mandanten durch Pflichtwidrigkeiten der behandelnden Ärzte ausgeschlossen hatte; angesichts der bei der Versicherten vorhandenen Risikofaktoren mußte die Ansicht der Gutachter, eine vorbeugende Therapie hätte auf keinen Fall den Tod verhindern können, in dieser Absolutheit mehr als angreifbar erscheinen. Wenn sich der Beschwerdeführer von dieser Stellungnahme, der für die Entscheidung der Staatsanwaltschaft erhebliche Bedeutung zukam, im Interesse seines Mandanten mit deutlichen und ironisierenden Worten distanzierte, dann hat er damit die strafrechtlichen Grenzen erlaubter Interessenwahrnehmung nicht überschritten.
In der Äußerung des Beschwerdeführers zu 2) hatte zwar der Kammervorstand den Vorwurf der Rechtsbeugung erblickt. Dabei war aber der Gesamtzusammenhang außer acht geblieben, der dann das Ehrengericht anscheinend veranlaßt hat, zu Recht von der Annahme einer strafbaren Ehrkränkung abzusehen und dem Beschwerdeführer lediglich anzulasten, seine Äußerung sei geeignet gewesen, den kritisierten Richter in seinem Ansehen herabzusetzen. Der Beschwerdeführer hatte seinerseits seine Äußerung unwiderlegt damit begründet, er habe eine Abhilfeentscheidung durch das Vergleichsgericht gemäß § 43 Abs. 3 Satz 2 VglO erreichen wollen; der Hinweis auf das Zerwürfnis und der Befangenheitsvorwurf habe den kritisierten Richter veranlassen sollen, die Sache an den Rechtspfleger zu geben oder sich selbst als befangen abzulehnen. Beides sind von der Rechtsordnung erlaubte Wege zur Förderung des vom Beschwerdeführer verfolgten Eigeninteresses. Auch der kritisierte Richter hat nicht seine Ablehnung, sondern lediglich den Stil bemängelt.
b) Auch im übrigen ist nicht erkennbar, daß es unerläßlich war, zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege ehrengerichtliche Maßnahmen gegen die Beschwerdeführer zu ergreifen. Die ihnen erteilten Rügen lassen sich insbesondere nicht unter dem Gesichtspunkt aufrechterhalten, die Beschwerdeführer hätten durch bewußtes Verbreiten von Unwahrheiten das Sachlichkeitsgebot verletzt. Insoweit enthalten die angegriffenen Entscheidungen keinerlei Feststellungen. Insbesondere war es unbestritten, daß im Falle des Beschwerdeführers zu 2) zwischen diesem und dem kritisierten Richter private Zerwürfnisse bestanden; auch war der Vorwurf persönlicher Diskriminierung vor Dritten – wie sich aus dem Vortrag der Beteiligten im ehrengerichtlichen Verfahren ergibt – durchaus nicht leichtfertig aus der Luft gegriffen.
Den Beschwerdeführern kann schließlich ebenfalls nicht zur Last gelegt werden, sie hätten herabsetzende Äußerungen gebraucht, die mit dem Verfahrensgegenstand nichts zu tun gehabt hätten und zu denen andere Verfahrensbeteiligte oder der Verfahrensverlauf keinerlei Anlaß gegeben hätten. Daß diese Voraussetzung für die Anwendung des Sachlichkeitsgebots nicht vorlag, ist beide Male offensichtlich und bedarf keiner weiteren Darlegung. Demgemäß haben die Standesorgane ihre Entscheidungen auf andere Gesichtspunkte gestützt. Das wird besonders deutlich im Falle des Beschwerdeführers zu 1). Hier hatte der Kammervorstand gemeint, der Beschwerdeführer habe sich bei seiner Kritik mit Ausdrücken wie „falsch” oder „unzutreffend” begnügen können; nach Ansicht des Ehrengerichts hat er sich in erheblichem Maße „im Ton vergriffen” und damit das Sachlichkeitsgebot verletzt. Für derartige weitgehende Einschränkungen der Berufsfreiheit unter dem Gesichtspunkt der Sachlichkeit fehlt aus den eingangs erörterten Gründen bereits die erforderliche normative Grundlage.
Fundstellen
Haufe-Index 1560976 |
NJW 1988, 191 |
ZIP 1987, 1559 |
JZ 1988, 242 |
StV 1988, 27 |