Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertrauensschutz bei zeitlich befristeten Gesetzen; Umsatzsteuerbefreiung auf Zigarettenumsätze von Berliner Unternehmern
Leitsatz (amtlich)
Auch zeitlich befristete Gesetze können einen Vertrauenstatbestand begründen, der keinen geringeren Schutz als den genießt, der nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der unechten Rückwirkung von Gesetzen besteht.
Normenkette
BHG § 7 Abs. 1 Nr. 1, §§ 11, 22 Abs. 1 Nr. 4; GG Art. 20 Abs. 3
Tenor
§ 22 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe a des Gesetzes zur Förderung der Wirtschaft von Berlin (West) in der Fassung vom 26. Juli 1962 (Bundesgesetzbl. I S. 493) – BHG 1962 – war mit dem Grundgesetz vereinbar, soweit er die Anwendung des § 11 BHG 1962 bei der Steuerfreiheit nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 BHG 1962 auch auf solche Entgelte anordnete, die der Westberliner Unternehmer nach dem 31. Dezember 1962 und bis zum 31. Dezember 1964 vereinnahmt hat.
Tatbestand
A.
Gegenstand der Vorlage ist die Frage, ob die Umsatzsteuerbefreiungen, die nach dem Gesetz zur Förderung der Wirtschaft von Berlin (West) – Berlinhilfegesetz (BHG) – in der Fassung des Fünften Änderungsgesetzes bis zum 31. Dezember 1964 in Anspruch genommen werden konnten, durch Änderungsgesetz vom 26. Juli 1962, mit der Maßgabe eingeschränkt werden durften, daß sie bei Zigaretten schon für die Zeit ab 1. Januar 1963 nur noch auf das um ein Drittel gekürzte Entgelt Anwendung fanden.
I.
1. Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Förderung der Wirtschaft von Groß-Berlin (West) vom 7. März 1950 (BGBl S. 41) werden Berliner Unternehmern und Unternehmern im Bundesgebiet unter bestimmten Voraussetzungen Umsatzsteuervergünstigungen und -befreiungen gewährt. Dabei war ursprünglich vorausgesetzt, daß bis zum 1. Januar 1952 die Entgelte gesenkt oder die Lieferungen ausgeführt wurden; die Regelung wurde jedoch durch mehrere Änderungsgesetze verlängert, und zwar zunächst bis 31. Dezember 1954 jeweils um ein Jahr, sodann um drei Jahre und danach um zwei Jahre bis zum 31. Dezember 1959. § 15 Abs. 2 BHG in der Fassung des Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Förderung der Wirtschaft von Berlin (West) vom 25. März 1959 (BGBl I S. 160) – 5. BHÄndG – verlängerte die Geltungsdauer der in §§ 3 und 7 BHG geregelten Umsatzsteuervergünstigungen und -befreiungen sodann um fünf Jahre bis zum 31. Dezember 1964. Diese Verlängerung ging auf einen Vorschlag des Finanzausschusses des Bundestags zurück, der damit zwar einer Anregung des Ausschusses für gesamtdeutsche und Berliner Fragen, die zeitliche Begrenzung ganz zu streichen, nicht folgte, andererseits aber den Entwurf der Bundesregierung verbesserte, der nur eine Verlängerung bis zum 31. Dezember 1962 vorgesehen hatte (vgl. Bundestags-Drucksache III/935, 949). § 15 Abs. 2 BHG lautete damals:
Es können in Anspruch genommen werden:
- die Kürzung der geschuldeten Umsatzsteuer nach § 3 durch Unternehmer im Bundesgebiet für Entgelte, die bis zum 31. Dezember 1964 gezahlt werden,
- die Umsatzsteuerfreiheit nach § 7 durch Westberliner Unternehmer für Lieferungen und Werkleistungen, die bis zum 31. Dezember 1964 bewirkt werden.
2. Durch die §§ 7 a, 15 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a und b BHG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes zur Förderung der Wirtschaft von Berlin (West) und des Steuererleichterungsgesetzes für Berlin (West) vom 26. Juli 1962 (BGBl I S. 481) – 6. BHÄndG – wurden die Umsatzsteuervergünstigungen und -befreiungen für Zigaretten mit Wirkung vom 1. Januar 1963 auf das um ein Drittel gekürzte Entgelt begrenzt. Das Gesetz zur Förderung der Wirtschaft von Berlin (West) wurde in neuer Paragraphenfolge am 26. Juli 1962 neu bekanntgemacht (BGBl I S. 492) – BHG 1962; dabei wurden § 7 a zu § 11 BHG, § 15 Abs. 1 zu § 22 Abs. 1 BHG. Diese Vorschriften hatten folgenden Wortlaut:
§ 11
Die Vergünstigungen nach § 3 Abs. 1 und nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 finden bei Zigaretten jeweils nur auf das um ein Drittel gekürzte Entgelt Anwendung.
§ 22
(1) Die vorstehende Fassung dieses Gesetzes ist hinsichtlich der umsatzsteuerrechtlichen Vorschriften ab 1. August 1962 anzuwenden. Abweichend davon sind anzuwenden
- …
- …
- …
die Vorschrift des § 11 bei der Kürzung nach § 3 Abs. 1 auf Entgelte, die von dem Unternehmer im Bundesgebiet nach dem 31. Dezember 1962 gezahlt werden,
bei der Steuerfreiheit nach § 7 Abs. 1 Nr. 1
- im Fall der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten auf die Entgelte, die von dem Westberliner Unternehmer nach dem 31. Dezember 1962 vereinnahmt werden,
- im Fall der Besteuerung nach vereinbarten Entgelten auf die Lieferungen, die nach dem 31. Dezember 1962 bewirkt werden;
- …
Zur Kürzung der Steuervorteile für die Berliner Zigarettenindustrie kam es nach der Entstehungsgeschichte des Gesetzes aus folgenden Gründen:
Die Errichtung der Mauer in Berlin am 13. August 1961 hatte durch das plötzliche Ausbleiben von etwa 50 000 Ostberlinern, die in Westberlin tätig waren, zu besonderen Anspannungen auf dem Arbeitsmarkt geführt. Auch auf den Kapitalmarkt in Westberlin hatten sich die Sperrmaßnahmen ungünstig ausgewirkt. Es mußten deshalb dringend Anreize geschaffen werden, um westdeutsche Arbeitskräfte für eine Arbeitsaufnahme in Westberlin zu gewinnen und um die Investitionstätigkeit in der Stadt neu zu beleben. Deshalb schlug die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf (Bundestags-Drucksache IV/435) u.a. vor, für Arbeitnehmer zusätzliche Vergünstigungen (Zulagen) einzuführen, die Kapitalhingabe nach Westberlin zum Zwecke der Förderung betrieblicher Investitionen und des Wohnungsbaus steuerlich zu begünstigen und die zulässigen Sonderabschreibungen für Investitionen in Westberlin zu erweitern. Die finanziellen Auswirkungen der wichtigsten vorgeschlagenen Steuerrechtsänderungen wurden mit jährlich etwa 475 Mio DM Steuermindereinnahmen in Bund und Ländern berechnet und sollten diesen Rahmen nicht übersteigen.
Eine Kürzung der Steuervorteile für die Zigarettenindustrie wurde erstmals während der Beratung des Gesetzentwurfs im Finanzausschuß des Bundestages erörtert (vgl. Kurzprotokoll über die 14. Sitzung am 25. Juni 1962, S. 12 f.), nachdem vorgeschlagen worden war, zur weiteren Verstärkung der Berlinförderung die Einkommensteuerpräferenz für Arbeitnehmer von 20 auf 30 v. H. zu erhöhen und eine zusätzliche Investitionsprämie von 10 v. H. auf Ausrüstungsinvestitionen einzuführen. Da diese Vorschläge den vorgesehenen Finanzrahmen erheblich überschritten, erwog die Mehrheit des Finanzausschusses, die fehlenden Mittel zur Finanzierung ihres Schwerpunktprogramms durch eine Kürzung solcher bisher gewährten Berlinhilfen zu gewinnen, die im Sinne des Gesetzgebungszwecks nicht mehr als unbedingt erforderlich anzusehen waren. Hier bot sich die Berliner Zigarettenindustrie an. Für eine Kürzung der ihr bisher gewährten Umsatzsteuervorteile sprachen insbesondere zwei Gründe: Einerseits überstieg der Umfang der Steuervorteile den Wert ihrer Investitionen in Westberlin (vgl. Sitzungsprotokoll a.a.O.), andererseits hatte die Hilfe zu einer im Verhältnis zur übrigen Westberliner Industrie außergewöhnlichen und weit überdurchschnittlichen Umsatzsteigerung geführt. Der Finanzausschuß beschloß, die Bemessungsgrundlage für die Umsatzsteuervorteile bei Zigaretten ab 1. Januar 1963 um ein Drittel zu kürzen. In seinem schriftlichen Bericht an den Bundestag (zu Bundestags-Drucksache IV/538, S. 2 f.) legte er dar, angesichts der Notwendigkeit, den Steuerausfall insgesamt im vorgesehenen Rahmen von 475 Mio DM zu halten, sei es nur bei der vorgeschlagenen Kürzung der Steuervorteile für die Zigarettenindustrie möglich, die Berlinförderung mit den als notwendig erachteten Schwerpunkten, d.h. der Einkommensteuerpräferenz von 30 v. H. unter Anrechnung der Berlin-Zulage und der Investitionszulage von 10 v. H. anstelle der vorgeschlagenen Erweiterung der Sonderabschreibungen, zu versehen.
Bundestag und Bundesrat stimmten dem Gesetzentwurf in der Fassung der Beschlüsse des Finanzausschusses einstimmig zu (vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestags, IV. Wahlperiode, S. 1606; Verhandlungen des Bundesrats, Sitzungsberichte 1962, S. 127). Vor dem Finanzausschuß des Bundesrats hatte der Vertreter der Bundesregierung zuvor dargelegt, daß die der Zigarettenindustrie bisher gewährten Vergünstigungen außer Verhältnis zu der mit der Zigarettenherstellung verbundenen Wertschöpfung und zur Beschäftigtenzahl dieses Industriezweigs in Westberlin gestanden hätten (vgl. Niederschrift über die 235. Sitzung des Finanzausschusses des Bundesrats, S. 4 f.).
3. Die Umsatzsteuervergünstigungen und -befreiungen wurden in der Folgezeit gemäß § 20 Abs. 2 BHG in der Fassung vom 19. August 1964 (BGBl I S. 675) – BHG 1964 – bis zum 31. Dezember 1969 verlängert. Durch Art. 1 Nr. 6 des Dritten Gesetzes zur Änderung des Berlinhilfegesetzes vom 19. Juli 1968 (BGBl I S. 833) wurde der dem § 22 BHG 1962 entsprechende § 20 BHG 1964 gestrichen und dadurch die Befristung ganz aufgehoben.
Durch das Gesetz zur Änderung des Berlinhilfegesetzes und anderer Vorschriften vom 23. Juni 1970 (BGBl I S. 826) wurden in § 4 Abs. 4 BHG die Umsatzsteuervorteile für die Zigarettenindustrie weiter verringert; sie finden jetzt für Berliner Unternehmer nur noch auf das um 58 v. H., für westdeutsche Unternehmer auf das um 50 v. H. gekürzte Entgelt Anwendung. Damit wurde die im Zigarettenpreis enthaltene Tabaksteuer in voller Höhe aus der Präferenz ausgeschieden, nachdem die mit Wirkung vom 1. Januar 1963 beschlossene Kürzung die Tabaksteuer nur etwa zur Hälfte aus der Präferenz herausgenommen und die unverhältnismäßigen Vorteile noch nicht ausreichend abgebaut hatte (vgl. Bundesrats-Drucksache 114/70).
II.
1. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, eine Aktiengesellschaft mit Sitz in A, stellt in Berlin Zigaretten her. In ihrer nach vereinnahmten Entgelten berechneten Umsatzsteuervoranmeldung für Januar 1963 nahm sie die Steuerbefreiung nach § 7 BHG 1962 voll in Anspruch, weil nach ihrer Ansicht § 11 BHG 1962 verfassungswidrig sei. Das FA kürzte jedoch bei der Veranlagung die Entgelte für die nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 BHG 1962 steuerbefreiten Umsätze gemäß § 11 BHG 1962 um ein Drittel.
Das FG Bremen wies die Sprungberufung der Klägerin durch Urteil vom 8. November 1963 zurück. Es vertrat die Auffassung, daß die Kürzung der Steuervorteile für die Zigarettenindustrie mit der Verfassung vereinbar sei; denn der Gesetzgeber sei nicht gehindert, zeitlich befristete Steuervorteile vor Ablauf der Frist zu verringern.
2. Gegen das Urteil des FG hat die Klägerin die nunmehr als Revision zu behandelnde Rechtsbeschwerde eingelegt. Der V. Senat des BFH hat das Verfahren ausgesetzt und dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob § 22 Abs. 1 Nr. 4 BHG 1962 insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als er die Anwendung des § 11 BHG 1962 bei der Steuerfreiheit nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 BHG 1962 für den Zeitraum vom 1. Januar 1963 bis 31. Dezember 1964 anordnet.
Das vorlegende Gericht hält § 22 Abs. 1 Nr. 4 BHG 1962 im Umfang der Vorlage für verfassungswidrig. Das Berlinhilfegesetz habe in seiner Fassung von 1959 (BHG 1959) Freiheit von der Umsatzsteuer bis zum 31. Dezember 1964 zugesichert. Hierdurch habe es nicht nur die wirtschaftliche Situation der Steuerpflichtigen verbessert, sondern auch einen Rechtsanspruch auf die Fortgewährung dieser Steuervorteile eingeräumt. Die zur Prüfung gestellte Norm verkürze diesen Anspruch und entwerte damit nachträglich die Rechtsposition der Betroffenen. Dies sei unter dem Gesichtspunkt der „unechten Rückwirkung” von Gesetzen verfassungswidrig.
Verfassungswidrig sei die Norm auch dann, wenn man ihr eine „unechte Rückwirkung” nicht beimesse, denn sie stehe jedenfalls nicht in Einklang mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. Habe der Gesetzgeber durch § 15 Abs. 2 BHG 1959 den Fortbestand steuerlicher Vergünstigungen für einen bestimmten Zeitraum zugesichert, so müsse der betroffene Bürger hierauf nach Treu und Glauben vertrauen können.
Der BFH will, sofern § 22 Abs. 1 Nr. 4 BHG gültig ist, die Revision in vollem Umfang als unbegründet zurückweisen; andernfalls will er der Klage in vollem Umfang stattgeben.
III.
1. der BdF hat namens der Bundesregierung zur Vorlage Stellung genommen, er hält sie für unbegründet.
Das Berlinhilfegesetz 1962 habe die Kürzung der Steuervorteile für Zigaretten nicht rückwirkend in Kraft gesetzt. Eine Steuerschuld entstehe, sobald der Tatbestand verwirklicht sei, an den das Gesetz die Steuer knüpfe. Bei der Umsatzsteuer sei hierfür nach § 3 Abs. 5 Nr. 4 StAnpG der Kalendermonat als Voranmeldungszeitraum maßgebend. Die vorgelegte Norm habe deshalb weder in einen zurückliegenden noch in einen gegenwärtigen Voranmeldungszeitraum ändernd eingegriffen; sie habe sogar das gesamte Kalenderjahr 1962 als Veranlagungszeitraum der Umsatzsteuer nicht berührt. Habe aber die Verwirklichung des Steuertatbestandes noch nicht begonnen, so komme ein Vertrauensschutz nicht in Betracht.
Die vorgelegte Norm stehe auch mit den allgemeinen Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes in Einklang. Es sei unrichtig, daß § 15 Abs. 2 BHG 1959 die Aufrechterhaltung der Steuervorteile bis zum 31. Dezember 1964 zugesichert habe. Diese Norm habe als ergänzende Befristungsvorschrift lediglich bezweckt, einen weiteren Akt des Gesetzgebers zur Außerkraftsetzung der Steuervorteile entbehrlich zu machen. Durch die mehrfache befristete Verlängerung des Berlinhilfegesetzes sei klar zum Ausdruck gekommen, daß der Gesetzgeber keine endgültige Regelung treffen wollte. Gewähre er eine Vergünstigung von vornherein nur für eine bestimmte Zeit, so erkläre er damit, daß sie höchstens, nicht aber auch, daß sie unbedingt für diese Zeit gelten solle; an eine befristete Regelung könne deshalb kein stärkeres Vertrauen geknüpft werden als an eine unbefristete.
Selbst wenn jedoch die Befristungsvorschrift einen bis zum 31. Dezember 1964 andauernden Vertrauenstatbestand geschaffen haben sollte, habe der Gesetzgeber bei Erlaß des Änderungsgesetzes im Jahre 1962 die sich aus den Geboten der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes ergebenden Schranken seiner Normsetzungsbefugnis nicht mißachtet; denn für eine Kürzung der Umsatzsteuervorteile bei Zigaretten hätten triftige Gründe bestanden: Da hinsichtlich der im Verkaufsentgelt enthaltenen Tabaksteuer eine Produktionsleistung in Berlin nicht erbracht werde und der Anteil dieser Steuer am Verkaufspreis der Zigaretten weit höher sei als der reine Warenwert, habe die Höhe der steuerlichen Vergünstigung in keinem angemessenen Verhältnis zur Wertschöpfung in Berlin gestanden. Die Zigarettenindustrie habe deshalb billigerweise keine Rücksichtnahme durch den Gesetzgeber verlangen können, als dieser sich entschloß, in der Berlinförderung neue Schwerpunkte zu setzen, die nur durch Kürzung von Vergünstigungen an anderer Stelle finanziell gesichert werden konnten. Im Hinblick auf den Gleichheitssatz hätten solche ungerechtfertigten Vergünstigungen sogar abgebaut werden müssen. Von einer Entwertung der Investitionen könne überdies bei Berücksichtigung der nach der maßvollen Kürzung der Steuervorteile noch verbliebenen wesentlichen Förderung keine Rede sein.
2. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens vertritt die Auffassung, § 15 Abs. 2 BHG 1959 habe die Zusage enthalten, daß die Steuervorteile bis zum 31. Dezember 1964 fortgewährt würden, und dadurch einen Vertrauenstatbestand geschaffen, auf den sie sich habe verlassen können. In diese einmal gewährte Rechtsposition habe der Gesetzgeber im Jahre 1962 unzulässig rückwirkend eingegriffen.
Im übrigen sei nicht die Frage der Rückwirkung, sondern der dem der dem Gesetzgeber vorzuwerfende Vertrauensbruch der maßgebende verfassungsrechtliche Gesichtspunkt. Hiernach sei § 22 Abs. 1 Nr. 4 BHG 1962 mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht vereinbar. Die im Jahre1959 beschlossene Verlängerung der Berlinpräferenzen um fünf Jahre habe den Unternehmern die Ungewißheit nehmen und ihnen langfristige Investitionen ermöglichen sollen. Das Vertrauen der Berliner Zigarettenhersteller auf den ungeschmälerten Bestand dieser Regelung sei auch gerechtfertigt gewesen. Habe der Gesetzgeber in voller Kenntnis der Tatsache, daß in Berlin bezüglich der Tabaksteuer keine Wertschöpfung erbracht werde, die Steuervorteile viele Jahre hindurch gewährt und sie im Jahre 1959 erneut für fünf weitere Jahre zugesichert, so dürfe er sie nicht später für einen Teil des vorgesehenen Zeitraums schmälern. Die Absicht, Steuerausfälle zu decken, könne den Widerruf einer gegebenen Zusage nicht rechtfertigen.
Entscheidungsgründe
B.
Die von der Klägerin des Ausgangsverfahrens zu entrichtende Steuer ist nach vereinnahmten Entgelten zu berechnen. Damit scheidet § 22 Abs. 1 Nr. 4 Buchst b BHG 1962 als Prüfungsgegenstand aus; insoweit ist die Vorschrift nicht entscheidungserheblich. Die Vorlagefrage ist darauf zu beschränken, ob § 22 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a BHG 1962 mit dem Grundgesetz vereinbar war, soweit er die Anwendung der Vorschrift des § 11 BHG 1962 bei der Steuerfreiheit nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 BHG 1962 auf solche Entgelte anordnete, die der Westberliner Unternehmer nach dem 31. Dezember 1962 und bis zum 31. Dezember 1964 vereinnahmt hat:
Mit dieser Einschränkung ist die Vorlage zulässig.
C.
§ 22 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a BHG 1962 verstieß nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip. Die Norm entfaltete weder echte noch unechte Rückwirkung; sie stand auch im übrigen mit den verfassungskräftigen Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes in Einklang.
I.
§ 22 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a BHG 1962 entfaltete keine echte Rückwirkung.
Belastende Gesetze, die in schon abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreifen und dadurch echte Rückwirkung entfalten, sind wegen Verstoßes gegen das im Rechtsstaatsprinzip enthaltene Gebot der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes regelmäßig verfassungswidrig (vgl. BVerfGE 11, 139 [145 f.]; 13, 261 [271] ; 14, 288 [297]; 18, 135 [142] ; 22, 241 [248]; 27, 375 [385]). Insbesondere Abgabengesetze dürfen grundsätzlich nur solche Tatbestände erfassen, die erst nach ihrer Verkündung eintreten oder sich vollenden.
§ 22 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a BHG 1962 griff nicht in bereits vollendete Umsatzsteuertatbestände ein. Nach § 3 Abs. 1 StAnpG vom 16. Oktober 1934 (RGBl I S. 925) in der Fassung des Gesetzes vom 23. April 1963 (BGBl I S. 197) entsteht die Steuerschuld, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Steuerschuld knüpft. Bei der Heranziehung zur Umsatzsteuer nach vereinnahmten Entgelten entsteht die Steuerschuld mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Entgelte vereinnahmt worden sind (§ 3 Abs. 5 Nr. 4 Buchst. a StAnpG). Voranmeldungszeitraum war nach § 13 Abs. 1 UStG in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. September 1951 (BGBl I S. 791) – UStG 1951 – grundsätzlich der Kalendermonat. § 22 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a BHG 1962 bezog sich nicht auf einen vor seinem Inkrafttreten liegenden Kalendermonat. Da die Vorschrift die Umsatzsteuervorteile sogar für alle im laufenden Veranlagungsjahr 1962 verwirklichten Umsatzsteuertatbestände nicht änderte, hätte sie selbst dann keine echte Rückwirkung entfaltet, wenn für die Entstehung der Steuerschuld das Kalenderjahr als Veranlagungszeitraum (vgl. § 11 Abs. 1 UStG 1951) als maßgebend angesehen würde.
II.
§ 22 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a BHG 1962 hatte auch keine unechte Rückwirkung zur Folge.
Eine Norm entfaltet unechte Rückwirkung, wenn sie zwar nicht auf vergangene, aber auch nicht nur auf zukünftige, sondern auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich im ganzen entwertet (vgl. BVerfGE 11, 139 [146]; 14, 288 [297]; 15, 313 [324] ; 22, 241 [248]; 25, 142 [154]; 25, 269 [290]). Derartige Gesetze sind grundsätzlich zulässig. Der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes kann aber je nach Lage der Verhältnisse im einzelnen Fall der Regelungsbefugnis Schranken setzen (vgl. BVerfGE 1, 264 [280]; 13, 274 [278] ; 21, 117 [132]; 24, 220 [230]; 25, 371 [406]; 27, 231 [238]).
Wann ein belastendes Gesetz auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte für die Zukunft einwirkt, läßt sich nur im Einzelfall nach dem jeweils in Betracht kommenden gesetzlichen Tatbestand ermitteln (vgl. BVerfGE 13, 274 [277] ; 18, 135 [142 f.] ; 19, 119 [127]; 23, 12 [32]; 24, 220 [230]). Nur auf diesem Wege wird der erforderliche Zusammenhang zwischen dem gesetzlichen Tatbestand und dem in der Entwicklung befindlichen Sachverhalt, auf den das spätere Gesetz einwirkt, aufrechterhalten: Der historische Geschehensablauf, in den die zur Prüfung stehende Norm eingreift, muß also eine hinreichend nahe Beziehung zu dem gesetzlichen Tatbestand haben, der durch das spätere Gesetz geändert wird.
Eine Umsatzsteuerschuld entsteht u.a. für Lieferungen und sonstige Leistungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt (§ 1 Nr. 1 UStG 1951). Lieferung ist jede Leistung eines Unternehmers, durch die er den Abnehmer oder in dessen Auftrag einen Dritten befähigt, im eigenen Namen über einen Gegenstand zu verfügen (§ 3 Abs. 1 UStG 1951). Von einer unechten Rückwirkung der Änderung des Berlinhilfegesetzes könnte also insbesondere dann die Rede sein, wenn es auf Sachverhalte zwischen Beginn einer Lieferung und der Entstehung der Umsatzsteuerschuld eingewirkt hätte.
Der am 29. Juni 1962 vom Bundestag beschlossene § 22 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a BHG 1962 erfaßte frühestens solche Umsätze, die im Januar 1963 steuerpflichtig wurden; auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte bezog sich diese Vorschrift also nicht. Die Errichtung oder der Ausbau von Fabrikationsanlagen in der Absicht, für spätere Lieferungen Umsatzsteuervorteile in Anspruch zu nehmen, wahren den erforderlichen Zusammenhang mit dem gesetzlichen Tatbestand, von dem die Entstehung der Umsatzsteuerschuld abhängig ist, jedenfalls nicht.
III.
§ 22 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a BHG 1962 verstieß auch nicht aus anderen Gründen gegen die im Rechtsstaatsprinzip verankerten verfassungskräftigen Gebote der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes.
1. § 15 Abs. 2 BHG 1959 hatte allerdings nicht nur eine bloße gesetzliche Befristung der Umsatzsteuervorteile bis zum 31. Dezember 1964 zum Inhalt. Es war Sinn und Zweck der beschlossenen Verlängerung der Steuervorteile um fünf Jahre, die besonderen Risiken aufzufangen, mit denen insbesondere nach dem Berlin-Ultimatum der Sowjetunion vom November 1958 jede unternehmerische Initiative in Berlin belastet war. Ausreichende Anreize für längerfristige finanzielle und wirtschaftliche Dispositionen in Westberlin konnten aber nur dann geschaffen werden, wenn die Steuervorteile bis zum Ablauf der Frist aufrechterhalten blieben. Andernfalls wäre die Regelung nicht geeignet gewesen, die aus der gerade damals besonders labilen Situation Westberlins erwachsenen Vorbehalte gegen langfristige Investitionen in der Stadt zu überwinden. § 15 Abs. 2 BHG 1959 begründete damit einen Vertrauenstatbestand, auf den sich die begünstigten Steuerpflichtigen grundsätzlich verlassen durften. Nur diese Auslegung der Vorschrift wird ihrem Sinn und Zweck gerecht.
2. a) Das Vertrauen auf den Bestand der durch § 15 Abs. 2 BHG 1959 geschaffenen Rechtslage genießt grundsätzlich keinen geringeren Schutz als den, der nach der Rechtsprechung des BVerfG zur unechten Rückwirkung von Gesetzen besteht. Danach hängt es von der verfassungsrechtlichen Beurteilung des einzelnen Falles ab, ob der Bürger im Vertrauen auf den Bestand einer bestimmten gesetzlichen Regelung eine Rücksichtnahme durch den Gesetzgeber billigerweise erwarten darf. Bei der Entscheidung über diese Frage ist zwischen dem Ausmaß des Vertrauensschadens einerseits und der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit andererseits abzuwägen (vgl. BVerfGE 14, 288 [300]; 18, 135 [144 f]; 22, 241 [249]; 24, 220 [230 f.]; 25, 142 [154]).
b) Die Abwägung zwischen dem für die Berliner Zigarettenindustrie begründeten Vertrauenstatbestand einerseits und den Zielen des Gesetzgebers bei der Neugestaltung der Berlinhilfe im Jahre 1962 andererseits ergibt folgendes:
Aufgrund der nach dem Bau der Mauer in Westberlin eingetretenen Entwicklung war es dringend notwendig geworden, die Förderungsmaßnahmen für Westberlin in bestimmten Bereichen noch vor Ablauf der in § 15 Abs. 2 BHG 1959 bestimmten Frist erheblich auszubauen. Vor allem bei der Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Bundesgebiet mußte ein neuer Schwerpunkt der Förderung gesetzt werden, um die Folgen der Absperrungsmaßnahmen möglichst rasch und weitgehend auszugleichen. Da die dafür erforderlichen beträchtlichen Mittel den verfügbaren finanziellen Rahmen erheblich überschritten, konnten sie teilweise nur durch eine Umverteilung der bisherigen Berlinhilfe in der Weise beschafft werden, daß Kürzungen bei solchen Steuervergünstigungen vorgenommen wurden, die im bisherigen Umfang nicht mehr erforderlich schienen.
In der für Westberlin und die Bundesrepublik Deutschland gleichermaßen schwierigen Ausnahmesituation, die bei Verkündung des § 15 Abs. 2 BHG 1959 nicht vorhersehbar war, hatten die übergeordneten Interessen der Allgemeinheit an einer schnellen und wirksamen, auf die besonderen aktuellen Schwierigkeiten der Stadt abgestellten Berlinhilfe solchen Vorrang, daß der Schutz des Vertrauens der Berliner Zigarettenindustrie in den uneingeschränkten Fortbestand ihrer Steuervorteile sachlich nicht mehr gerechtfertigt war. Sie hatte durch die bisherigen Maßnahmen der Berlinhilfe ungewöhnlich profitiert. Ihre Steuervorteile überwogen sogar den Wert ihrer Investitionen. Sie konnte durch die bisher gewährten Steuervergünstigungen einen wesentlichen Anteil der im Zigarettenpreis enthaltenen hohen Tabaksteuer finanzieren. Deshalb hatte sich die Umsatzsteuerbefreiung für sie unverhältnismäßig günstiger ausgewirkt als für andere förderungswürdige Berliner Industriezweige.
An diesen Sachverhalt durfte der Gesetzgeber bei der Beschaffung der Mittel für sein neues Berlinhilfeprogramm in maßvoller Weise anknüpfen, zumal er damit zugleich eine sachgerechtere Verteilung der Berlinhilfe auf alle hilfsbedürftigen Wirtschaftszweige herbeiführte. Die Kürzung der Umsatzsteuervorteile für die Berliner Zigarettenindustrie um nur ein Drittel war eine ersichtlich maßvolle Maßnahme; denn erst durch die im Berlinförderungsgesetz vom 23. Juni 1970 vorgenommene weitere beträchtliche Kürzung der Umsatzsteuervorteile für diesen Industriezweig wurde die im Zigarettenpreis enthaltene Tabaksteuer in voller Höhe aus der Präferenz ausgeschieden. Die Kürzung um ein Drittel im Jahre 1962 wirkte sich weder existenzbedrohend aus, noch entwertete sie die von der Zigarettenindustrie in Westberlin vorgenommenen Investitionen nachträglich im ganzen.
IV.
Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
Fundstellen
Haufe-Index 1100910 |
BStBl II 1971, 439 |
BVerfGE 30, 392 |
BVerfGE, 392 |
BB 1971, 732 |
DStR 1971, 468 |
NJW 1971, 1211 |
MDR 1971, 728 |