Leitsatz (amtlich)
Mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) ist es nicht vereinbar, daß die Frist für die Anfechtung der Ehelichkeit durch das volljährig gewordene Kind nach § 1598 zweiter Halbsatz BGB auch dann zwei Jahre nach Eintritt der Volljährigkeit abläuft, wenn das Kind von den Umständen, die für seine Nichtehelichkeit sprechen, keine Kenntnis hat, und dem Kind insoweit auch eine spätere Klärung seiner Abstammung ausnahmslos verwehrt wird.
Verfahrensgang
AG Frankfurt am Main (Vorlegungsbeschluss vom 02.03.1990; Aktenzeichen Hö 3 C 4453/89) |
OLG Stuttgart (Urteil vom 31.08.1989; Aktenzeichen 16 U 31/87) |
Tenor
I. § 1598 zweiter Halbsatz in Verbindung mit § 1596 Absatz 1 Nummer 1 bis 3 und § 1593 des Bürgerlichen Gesetzbuchs in der Fassung des Gesetzes zur Vereinheitlichung und Änderung familienrechtlicher Vorschriften (Familienrechtsänderungsgesetz) vom 11. August 1961 (Bundesgesetzbl. I Seite 1221) ist mit Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar, soweit danach die Anfechtungsfrist auch dann zwei Jahre nach Eintritt der Volljährigkeit abläuft, wenn das Kind von den die Anfechtung ermöglichenden Umständen keine Kenntnis hat, und dem Kind nach Ablauf dieser Frist auch eine gerichtliche Klärung seiner Abstammung ausnahmslos verwehrt ist.
II. Das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 31. August 1989 – 16 U 31/87 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Das Land Baden-Württemberg hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
A.
Die Verfahren betreffen die Frage, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, daß die Frist für die Anfechtung der Ehelichkeit durch das volljährig gewordene Kind (§ 1598 BGB) ausnahmslos mit dem Eintritt der Volljährigkeit beginnt, das Gesetz also nicht auf die Kenntnis der Anfechtungsgründe abstellt.
I.
1. Ein Kind, das in eine Ehe hineingeboren wird, gilt als ehelich. Seine Nichtehelichkeit kann nur geltend gemacht werden, wenn die Ehelichkeit angefochten und die Nichtehelichkeit rechtskräftig festgestellt worden ist (§ 1593 BGB). Außer dem Ehemann der Mutter ist unter den in § 1596 Abs. 1 BGB genannten Voraussetzungen das Kind anfechtungsberechtigt. § 1598 BGB gewährt dem volljährig gewordenen Kind ein eigenständiges Anfechtungsrecht. Die Vorschrift lautet:
Hat der gesetzliche Vertreter eines minderjährigen Kindes in den Fällen des § 1596 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 die Ehelichkeit nicht rechtzeitig angefochten, so kann das Kind, sobald es volljährig geworden ist, seine Ehelichkeit selbst anfechten; die Anfechtung ist nicht mehr zulässig, wenn seit dem Eintritt der Volljährigkeit zwei Jahre verstrichen sind.
2. Die Regelung über das Anfechtungsrecht des Kindes wurde durch das Gesetz zur Vereinheitlichung und Änderung familienrechtlicher Vorschriften (Familienrechtsänderungsgesetz) vom 11. August 1961 (BGBl. I S. 1221) geschaffen. Der Regierungsentwurf enthielt noch keine Vorschrift über ein selbständiges Anfechtungsrecht des volljährig gewordenen Kindes. Diese wurde auf Vorschlag des Bundesrates eingefügt, der dem Kind bei nicht rechtzeitiger Anfechtung durch den gesetzlichen Vertreter das Recht einräumen wollte, die Ehelichkeit in gleicher Weise anzufechten, wie wenn es ohne gesetzlichen Vertreter gewesen wäre (BTDrucks. III/530, S. 37).
Die Gesetz gewordene Fassung des § 1598 BGB beruht auf der Empfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages. Dieser war der Ansicht, daß das Kind nach Erlangung der Volljährigkeit die Möglichkeit haben sollte, seine Ehelichkeit persönlich anzufechten. Die für die Anfechtung vorgesehene Frist von zwei Jahren hielt er für erforderlich, um den Status des Kindes innerhalb eines angemessenen Zeitraums zu klären (zu BTDrucks. III/2812, S. 5).
II.
1. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein Urteil, in dem eine Anfechtungsklage wegen Ablaufs der Zweijahresfrist des § 1598 zweiter Halbsatz BGB als unzulässig angesehen wurde. Die Ehe der Mutter der 1958 geborenen Beschwerdeführerin wurde 1964 geschieden. Mit ihrer 1987 erhobenen Anfechtungsklage machte sie geltend, sie habe im Oktober 1985 – im Zusammenhang mit der Geburt ihres ersten Kindes – von ihrer Mutter erfahren, daß nicht deren früherer Ehemann, sondern ein anderer ihr Vater sei.
Das Oberlandesgericht wies mit der angegriffenen Entscheidung die Berufung der Beschwerdeführerin gegen das klagabweisende Urteil des Amtsgerichts zurück: Die Frist zur Anfechtung der Ehelichkeit sei 1978 abgelaufen. Das gelte unabhängig davon, ob die Beschwerdeführerin zu diesem Zeitpunkt von den Umständen, die für ihre Nichtehelichkeit sprächen, Kenntnis gehabt habe. § 1598 BGB sei mit dem Grundgesetz vereinbar. Es verstoße nicht gegen den Gleichheitssatz, daß die dem Ehemann der Mutter eingeräumte Anfechtungsfrist erst mit dessen Kenntnis von den Umständen beginne, die für die Nichtehelichkeit sprechen, die Anfechtungsfrist für das volljährige Kind dagegen ab Eintritt der Volljährigkeit laufe. Dem Interesse des Kindes an der Kenntnis seiner Abstammung stehe das Interesse an Rechtssicherheit gegenüber. Beim Anfechtungsrecht des Ehemannes konkurrierten das Interesse an Rechtssicherheit und die Vermögensinteressen des Ehemannes miteinander. Diesen habe der Gesetzgeber größeres Gewicht zumessen dürfen.
2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und aus Art. 3 Abs. 1 GG.
Das Anfechtungsrecht des Kindes solle dem Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung Rechnung tragen. Die Beschränkung durch eine kenntnisunabhängige Frist sei nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Die Erwägung, das Kind müsse sich die Kenntnis der Mutter zurechnen lassen, reiche hierzu nicht aus, da es sich beim Recht auf Kenntnis um ein höchstpersönliches Recht des Kindes handele. Es sei unverhältnismäßig, die Ausübung dieses Rechts zu versagen, wenn sie wegen fehlender Kenntnis der Umstände, die für die Nichtehelichkeit sprechen, nicht früher möglich gewesen sei.
Mit dem Gleichheitssatz sei es nicht vereinbar, daß § 1594 Abs. 2 BGB für die Anfechtung durch den Ehemann auf den Zeitpunkt abstelle, in dem dieser Kenntnis von den maßgeblichen Umständen erlangt habe, § 1598 zweiter Halbsatz BGB aber für die Anfechtung durch das volljährige Kind eine kenntnisunabhängige Frist vorsehe. Die vom Oberlandesgericht genannten Erwägungen könnten die Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen. Auch bei der Anfechtungsklage des Kindes könne es um Vermögensinteressen gehen. Vor allem aber wiege das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung mindestens ebenso schwer wie Vermögensinteressen.
III.
Der Kläger in dem Verfahren, das zur Vorlage geführt hat, wurde 1965 geboren. Die Ehe seiner Mutter wurde 1975 geschieden. 1989 begehrte er Prozeßkostenhilfe für eine Anfechtungsklage, zu deren Begründung er vortrug, er habe 1988 in einem Gespräch mit dem früheren Ehemann der Mutter von Zweifeln an seiner Ehelichkeit erfahren.
Das Amtsgericht wies den Antrag auf Gewährung von Prozeßkostenhilfe zunächst wegen Ablaufs der Zweijahresfrist zurück. Nach Aufhebung dieses Beschlusses durch das Oberlandesgericht (vgl. FamRZ 1990, S. 315) bewilligte es Prozeßkostenhilfe und führte eine mündliche Verhandlung durch. Anschließend setzte es das Verfahren aus und legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob § 1598 zweiter Halbsatz BGB mit Art. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 GG vereinbar ist, soweit darin die Anfechtung der Ehelichkeit durch das volljährig gewordene Kind an eine zweijährige kenntnisunabhängige Anfechtungsfrist gebunden wird.
Die zur Prüfung gestellte Vorschrift schränke das Recht des Kindes auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und Kenntnis der eigenen Abstammung unverhältnismäßig ein, da sie die Möglichkeit der Anfechtung von dem Zufall abhängig mache, ob das Kind rechtzeitig von den Anfechtungsgründen erfahre. Darüber hinaus dürfte sie auch gegen den Gleichheitssatz verstoßen, weil keine sachlichen Gründe für die Differenzierung bei der Ausgestaltung der Anfechtungsfrist für das volljährige Kind einerseits und für den Scheinvater andererseits ersichtlich seien.
Eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift in dem Sinne, daß die Zweijahresfrist auch für das volljährige Kind erst mit der Kenntniserlangung zu laufen beginne, sei nicht möglich. Denn der Wortlaut des § 1598 zweiter Halbsatz BGB sei insoweit eindeutig. Außerdem spreche der Vergleich mit der Ausgestaltung der Frist in § 1596 Abs. 2 Satz 2 und § 1594 Abs. 2 Satz 1 BGB gegen eine Auslegung der zur Prüfung gestellten Vorschrift im Sinne einer kenntnisabhängigen Frist.
Bei Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift wäre die Klage ohne weitere Sachprüfung abzuweisen, weil sie erst nach Ablauf der Zweijahresfrist erhoben worden sei. Sei die Vorschrift hingegen verfassungswidrig, müsse Beweis darüber erhoben werden, ob der Kläger von dem früheren Ehemann der Mutter abstamme.
IV.
1. Der Bundesminister der Justiz, der sich namens der Bundesregierung geäußert hat, hält eine verfassungskonforme Auslegung der zu prüfenden Norm für geboten und möglich.
Die Anfechtungsfrist solle dem Anfechtungsberechtigten eine Entscheidung über die Ausübung seines Anfechtungsrechts ermöglichen. Eine solche Entscheidung könne der Anfechtungsberechtigte aber nur treffen, wenn er die für die Nichtehelichkeit sprechenden Umstände kenne. Eine kenntnisunabhängige Frist würde das Anfechtungsrecht unverhältnismäßig einschränken. § 1598 zweiter Halbsatz BGB sei deshalb dahin auszulegen, daß die Anfechtungsfrist erst mit der Kenntnis des volljährigen Kindes von den Anfechtungsgründen zu laufen beginne.
Einer solchen Auslegung stehe der Wortlaut der Vorschrift nicht entgegen. Diese sei in bezug auf die Kenntnis nicht als abschließende Regelung zu verstehen. Auch die Entstehungsgeschichte spreche für ein solches Verständnis der Vorschrift, da der Bundesrat dem volljährig gewordenen Kind ein Anfechtungsrecht innerhalb einer kenntnisabhängigen Frist habe eröffnen wollen und der Bundestag diesem Vorschlag „im wesentlichen” gefolgt sei.
2. Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat eine Stellungnahme des für Familienrechtssachen zuständigen Zivilsenats übermittelt, in der die Auffassung vertreten wird, die streitige Vorschrift dürfte nur dann dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, wenn sie im Sinne einer kenntnisabhängigen Frist ausgelegt werde. Triftige Gründe, das Anfechtungsrecht unter allen Umständen auf die ersten zwei Jahre der Volljährigkeit zu beschränken, seien nicht erkennbar.
Entscheidungsgründe
B.
Gegen die Zulässigkeit der Vorlage sowie der Verfassungsbeschwerde bestehen keine Bedenken. Der Zulässigkeit der Vorlage steht nicht entgegen, daß das vorlegende Gericht noch nicht Beweis über die Abstammung des Klägers durch Einholung von Sachverständigengutachten erhoben hat (vgl. BVerfGE 79, 256 ≪265 f.≫).
Zu prüfen ist hier nur, ob die Ausgestaltung der Frist für die Anfechtung durch das volljährige Kind unter den in § 1596 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BGB genannten Voraussetzungen mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Dagegen ist nicht darüber zu entscheiden, wie die Anfechtungsfrist für Fälle auszugestalten wäre, in denen die Voraussetzungen des § 1596 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BGB nicht vorliegen. Das geltende Recht ist zwar insoweit mit dem Grundgesetz unvereinbar, als es dem volljährigen Kind die Klärung seiner Abstammung ausnahmslos nur dann ermöglicht, wenn die Ehe seiner Mutter nicht mehr besteht oder die Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht mehr zu erwarten ist (BVerfGE 79, 256). Daraus folgt jedoch nicht, daß eine Anfechtung der Ehelichkeit durch das volljährige Kind auch dann möglich ist, wenn keine der in § 1596 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BGB genannten Voraussetzungen vorliegt. Soweit es nach den vom Bundesverfassungsgericht genannten Maßstäben in solchen Fällen unverhältnismäßig wäre, dem Kind eine gerichtliche Klärung seiner Abstammung zu versagen, können die Gerichte vielmehr derzeit über entsprechende Klagen nicht entscheiden. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, der Unvereinbarerklärung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung zu tragen und die verfassungswidrige Rechtslage zu beseitigen. Ihm stehen dafür verschiedene Möglichkeiten offen (vgl. BVerfGE 79, 256 ≪274≫). In diesem Zusammenhang wird er auch über eine Befristung der Klagemöglichkeit zu entscheiden haben.
C.
§ 1598 zweiter Halbsatz BGB in Verbindung mit § 1596 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 und § 1593 BGB ist mit dem Grundgesetz unvereinbar, soweit dem volljährigen Kind die Anfechtung der Ehelichkeit nur innerhalb einer Frist von zwei Jahren nach Eintritt der Volljährigkeit ermöglicht und bei Kenntniserlangung nach Ablauf dieser Frist auch die gerichtliche Klärung seiner Abstammung ausnahmslos versagt wird.
I.
Die Regelung, daß die zweijährige Anfechtungsfrist mit dem Eintritt der Volljährigkeit auch dann zu laufen beginnt, wenn das Kind zu diesem Zeitpunkt die Umstände, die für seine Nichtehelichkeit sprechen, nicht kennt, schränkt vor dem Hintergrund des § 1593 BGB das allgemeine Persönlichkeitsrecht des volljährigen Kindes unverhältnismäßig ein.
1. Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sichert dem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann. Zu den Elementen, die für die Entfaltung der Persönlichkeit von entscheidender Bedeutung sein können, gehört die Kenntnis der eigenen Abstammung. Der Bezug zu den Vorfahren kann im Bewußtsein des Einzelnen eine Schlüsselstellung für sein Selbstverständnis und seine Stellung in der Gemeinschaft einnehmen. Die Kenntnis der Herkunft kann wichtige Anknüpfungspunkte für das Verständnis des familiären Zusammenhangs und für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit geben. Die Unmöglichkeit, die eigene Abstammung zu klären, kann den Einzelnen erheblich belasten und verunsichern. Daher umfaßt das allgemeine Persönlichkeitsrecht das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung. Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verleiht allerdings keinen Anspruch auf Verschaffung von Kenntnissen über die eigene Abstammung, sondern schützt nur vor der Vorenthaltung erlangbarer Informationen (vgl. BVerfGE 79, 256 ≪268 f.≫).
Die hier zu prüfende Regelung beeinträchtigt dieses Recht. Sie verhindert zwar unmittelbar nur eine Änderung der Statuszuweisung nach Ablauf von zwei Jahren ab Eintritt der Volljährigkeit des Kindes. Da § 1593 BGB jegliche Klärung der Abstammung ausschließt, soweit nicht auf eine Anfechtungsklage hin die Nichtehelichkeit festgestellt worden ist, schränkt die kenntnisunabhängige Frist aber auch das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung ein.
2. Diese Einschränkung ist unverhältnismäßig.
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist nicht schrankenlos gewährleistet. Es kann durch Gesetz unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit beschränkt werden (vgl. BVerfGE 65, 1 ≪44≫; 79, 256 ≪269 f.≫). Eine Regelung ist danach aber nur zulässig, wenn sie zum Schutz eines gewichtigen Gemeinschaftsgutes geeignet und erforderlich ist und wenn der Schutzzweck so schwer wiegt, daß er die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts in ihrem Ausmaß rechtfertigt.
a) Die ab Eintritt der Volljährigkeit laufende Anfechtungsfrist dient der Rechtssicherheit. Diese ist ein wichtiges Gut, dem gerade auch für die Klärung der Verwandtschaftsverhältnisse beträchtliches Gewicht zukommt. Denn es bedeutet für nahezu alle Beteiligten eine erhebliche Belastung, wenn in der Frage, wer rechtlich als Vater des Kindes anzusehen ist, für unbegrenzte Zeit ein Schwebezustand besteht; auch die Allgemeinheit hat ein Interesse daran, daß diese Frage in absehbarer Zeit geklärt wird (vgl. BVerfGE 38, 241 ≪252 f.≫). Dagegen scheidet der Schutz der Ehe der Mutter hier als Regelungszweck von vornherein aus, weil die Anfechtung nach § 1598 BGB nur unter den Voraussetzungen des § 1596 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BGB möglich ist, die Auflösung der Ehe der Mutter oder zumindest deren Scheitern also voraussetzt.
Der Beginn der Anfechtungsfrist mit dem Eintritt der Volljährigkeit unabhängig davon, ob das Kind zu diesem Zeitpunkt von den für seine Nichtehelichkeit sprechenden Umständen Kenntnis hat, ist geeignet, die Rechtssicherheit zu fördern. Zum einen wird der Schwebezustand auf den Zeitraum von zwanzig Jahren seit der Geburt des Kindes begrenzt, während eine kenntnisabhängige Frist noch viele Jahre später zu Änderungen führen kann. Zum anderen ist der Eintritt der Volljährigkeit im Unterschied zur Kenntniserlangung für jedermann erkennbar und von den Gerichten leicht festzustellen.
Ob es erforderlich ist, die Möglichkeit des volljährigen Kindes, seine Abstammung zu klären, aus Gründen der Rechtssicherheit an eine kenntnisunabhängige Frist zu binden, erscheint dagegen schon fraglich. Dem Anliegen, die Verwandtschaftsverhältnisse im Hinblick auf die an sie geknüpften Rechtsfolgen nicht unbegrenzt in der Schwebe zu lassen, könnte der Gesetzgeber weitgehend dadurch Rechnung tragen, daß er dem volljährigen Kind die Klärung seiner Abstammung durch eine Feststellungsklage ohne Auswirkungen auf die Verwandtschaftsverhältnisse ermöglicht.
b) Jedenfalls ist die Einschränkung des Rechts auf Kenntnis der Abstammung durch die in § 1598 zweiter Halbsatz BGB vorgesehene kenntnisunabhängige Frist im engeren Sinne unverhältnismäßig.
aa) Die Regelung hat zur Folge, daß das volljährige Kind das ihm eingeräumte Anfechtungsrecht nur dann ausüben kann, wenn es bereits bei Eintritt der Volljährigkeit von den für seine Nichtehelichkeit sprechenden Umständen Kenntnis hat oder noch innerhalb der Frist davon erfährt. Damit wird das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung erheblich verkürzt.
Das Gewicht dieser Einschränkung ist nicht deshalb gering zu bewerten, weil § 1598 BGB nur die Fälle regelt, in denen der gesetzliche Vertreter des Kindes während dessen Minderjährigkeit nicht rechtzeitig von dem Anfechtungsrecht Gebrauch gemacht hat. Zum einen ist das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung ein höchstpersönliches Recht des Kindes, das ihm nicht schon mit der Begründung versagt werden darf, sein gesetzlicher Vertreter habe es nicht rechtzeitig wahrgenommen. Dem hat der Gesetzgeber insofern Rechnung getragen, als er in § 1598 BGB dem volljährigen Kind ein eigenständiges Anfechtungsrecht eingeräumt hat. Zum anderen kann nicht generell davon ausgegangen werden, daß ein gesetzlicher Vertreter, der das Anfechtungsrecht nicht rechtzeitig ausgeübt hat, sich dabei vom Wohl des Kindes hat leiten lassen oder daß er dem Kind innerhalb der ab Volljährigkeit laufenden Zweijahresfrist die Kenntnis vermittelt, die es für die Anfechtung benötigt. Die Mutter, die in diesen Fällen meist gesetzliche Vertreterin des Kindes ist, kann aus ihrer persönlichen Sicht wichtige Gründe dafür haben, ihre Kenntnis vor dem Kind und vor Dritten geheimzuhalten. Sie wird sich deshalb häufig in einem Interessenkonflikt befinden und ihr Wissen möglicherweise – wenn überhaupt – nur aus besonderem Anlaß preisgeben. Ob ein solcher Anlaß bereits während der gesetzlich vorgesehenen Zweijahresfrist eintritt, hängt vom Zufall ab.
bb) Das Interesse an Rechtssicherheit wiegt nicht so schwer, daß es diese weitgehende Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Kindes rechtfertigen könnte.
Mit der Gewährung eines selbständigen Anfechtungsrechts des volljährigen Kindes hat der Gesetzgeber von vornherein eine gewisse Beeinträchtigung der Rechtssicherheit in Kauf genommen, um dem Kind die persönliche Entscheidung über die Anfechtung zu ermöglichen. Dieses Ziel läßt sich aber nur erreichen, wenn Belange der Rechtssicherheit weitgehend zurückgestellt werden, da das Kind seine persönliche Entscheidung nur treffen kann, wenn es von den maßgeblichen Umständen Kenntnis hat. Der Gesetzgeber hat zudem bei der Ausgestaltung des Anfechtungsrechts in den übrigen Fällen auf die Kenntnis des Anfechtungsberechtigten von den relevanten Umständen abgestellt und die damit verbundene Beeinträchtigung der Rechtssicherheit hingenommen. So beginnt die Frist für die Anfechtung durch den Ehemann der Mutter erst mit dessen Kenntnis von den für die Nichtehelichkeit sprechenden Umständen (§ 1594 Abs. 2 BGB). Ebenso hängt der Lauf der Frist für die Anfechtung durch das Kind oder dessen gesetzlichen Vertreter von der Kenntnis der Anfechtungsgründe ab (§ 1596 Abs. 2 Satz 2 BGB). Schließlich wird sowohl dem zeitweilig geschäftsunfähigen Mann als auch dem zeitweilig geschäftsunfähigen Kind die Möglichkeit eingeräumt, nach Wegfall der Geschäftsunfähigkeit die Ehelichkeit selbst anzufechten (§ 1595 Abs. 2 Satz 2, § 1597 Abs. 4 BGB).
Die genannten Vorschriften werden zwar nur in wenigen Fällen dazu führen, daß es nach mehr als zwei Jahrzehnten seit der Geburt des Kindes noch zu einer Anfechtung kommt, während dieser Fall bei einer kenntnisabhängigen Frist für die Anfechtung durch das volljährig gewordene Kind öfters eintreten könnte. Das rechtfertigt es aber nicht, in diesen Fällen der Rechtssicherheit einseitig den Vorzug vor dem Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung zu geben. Denn auch unabhängig von der Abwägung des Gesetzgebers, die in der Ausgestaltung des Anfechtungsrechts im übrigen zum Ausdruck kommt, wiegt das Interesse an Rechtssicherheit nicht so schwer, daß es eine weitgehende Aushöhlung des Rechts des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung rechtfertigen könnte. Die Rechtssicherheit wird durch eine begrenzte Zahl von Anfechtungsklagen nicht schwerwiegend beeinträchtigt. Der Gesetzgeber hat zudem die Möglichkeit, dem Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung auf eine Weise Rechnung zu tragen, welche die Auswirkungen auf die Rechtssicherheit erheblich vermindert. So kann er dem Kind eine Klärung seiner Abstammung ohne Auswirkungen auf die verwandtschaftlichen Beziehungen ermöglichen. Dabei kann in diesem Zusammenhang offenbleiben, inwieweit sich aus Art. 6 Abs. 1 GG eine Verpflichtung ergibt, für bestimmte Fälle auch die Anfechtung mit statusverändernder Wirkung ohne Bindung an eine kenntnisunabhängige Frist zuzulassen.
II.
Den Bedenken gegen eine kenntnisunabhängige Frist läßt sich nicht durch eine verfassungskonforme Auslegung der zur Prüfung gestellten Vorschrift Rechnung tragen.
1. Die Gerichte sind gehalten, sich um eine verfassungskonforme Auslegung des einfachen Rechts zu bemühen, denn der Respekt vor der gesetzgebenden Gewalt gebietet es, im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen so viel wie möglich von dem aufrechtzuerhalten, was der Gesetzgeber gewollt hat (vgl. BVerfGE 86, 288 ≪320≫ m.w.N.). Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenzen aber dort, wo sie zu dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde (vgl. BVerfGE 54, 277 ≪299 f.≫; 71, 81 ≪105≫). Der Respekt vor dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber verbietet es, im Wege der Auslegung einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz einen entgegengesetzten Sinn zu verleihen oder den normativen Gehalt einer Vorschrift grundlegend neu zu bestimmen. Eine solche Korrektur des Gesetzes würde auch dem Sinn des Art. 100 Abs. 1 GG zuwiderlaufen, der die Autorität des parlamentarischen Gesetzgebers im Verhältnis zur Rechtsprechung wahren soll (vgl. BVerfGE 63, 131 ≪141≫; 86, 71 ≪77≫).
2. Nach diesen Maßstäben ist eine verfassungskonforme Auslegung des § 1598 zweiter Halbsatz BGB in dem Sinne, daß die Anfechtungsfrist für das volljährige Kind erst mit dessen Kenntnis von den für die Anfechtung erheblichen Umständen zu laufen beginnt, nicht möglich. Der Wortlaut der Vorschrift ist eindeutig. Sie regelt abschließend, daß die Anfechtung „nicht mehr zulässig” ist, wenn „seit dem Eintritt der Volljährigkeit” zwei Jahre verstrichen sind. Daß der Lauf der Frist nicht von der Kenntnis, sondern allein vom Eintritt der Volljährigkeit abhängen soll, ergibt sich ferner aus dem Vergleich mit den anderen Vorschriften, die ausdrücklich an die Kenntnis der maßgeblichen Umstände anknüpfen (§ 1594 Abs. 2 Satz 1, § 1596 Abs. 2 Satz 2 BGB). Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift bietet ebenfalls keine Anhaltspunkte dafür, daß der Gesetzgeber die Frist für die Anfechtung durch das volljährig gewordene Kind als kenntnisabhängige Frist ausgestalten wollte oder sich nicht bewußt war, daß er mit der gewählten Formulierung eine kenntnisunabhängige Frist schuf. Die Gesetzesmaterialien lassen vielmehr nur den Schluß zu, daß der Bundestag dem Vorschlag des Bundesrates, dem volljährigen Kind ein Anfechtungsrecht mit kenntnisabhängiger Frist zu gewähren, nur teilweise folgen wollte, weil er eine absolute zeitliche Grenze für erforderlich hielt (vgl. BTDrucks. III/2812, S. 5).
III.
Da § 1598 zweiter Halbsatz BGB schon wegen Unvereinbarkeit mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verfassungswidrig ist, bedarf es nicht mehr der Klärung, ob die Vorschrift auch gegen Art. 6 Abs. 1 oder Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. So kann offen bleiben, ob sich aus der Pflicht zum Schutz der Familie ein Anspruch des volljährigen Kindes auf Lösung des rechtlichen Bandes zum Scheinvater zumindest dann ergeben kann, wenn der biologische Vater auch die soziale Vaterrolle übernommen hat.
D.
Steht eine Norm mit dem Grundgesetz nicht in Einklang, so ist sie grundsätzlich für nichtig zu erklären (§ 82 Abs. 1 i.V.m. § 78 Satz 1 BVerfGG). Etwas anderes gilt jedoch, wenn der verfassungswidrige Teil der Norm nicht klar abgrenzbar ist oder wenn der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten hat, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. § 1598 zweiter Halbsatz BGB ist nur insoweit mit dem Grundgesetz unvereinbar, als die Zweijahresfrist unabhängig von der Kenntnis des Kindes mit dem Eintritt der Volljährigkeit zu laufen beginnt. Dieser Teil der Norm läßt sich nicht isoliert für nichtig erklären. Der Gesetzgeber kann zudem den verfassungsmäßigen Zustand auf verschiedene Weise herstellen. So kann er die Frist für die Anfechtung kenntnisabhängig ausgestalten. Er hat aber auch die Möglichkeit, dem Interesse an Rechtssicherheit dadurch Rechnung zu tragen, daß er das Anfechtungsrecht des volljährigen Kindes weiter einschränkt und diesem zugleich die Möglichkeit eröffnet, seine Abstammung ohne Auswirkungen auf das Verwandtschaftsverhältnis zu klären.
Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die Rechtslage mit der Verfassung in Einklang zu bringen. Dabei wird er auch der früheren Beanstandung (BVerfGE 79, 256) Rechnung tragen müssen. Hierfür ist ihm eine Frist bis zum Ablauf der nächsten Legislaturperiode zu setzen. Wegen des engen Zusammenhangs der erforderlichen Korrekturen mit der – zum Teil ebenfalls aus verfassungsrechtlichen Gründen gebotenen – Reform des Kindschaftsrechts erscheint es gerechtfertigt und geboten, ihm diesen recht großzügig bemessenen Zeitraum zu gewähren, obwohl dies den Betroffenen noch ein jahrelanges Zuwarten abverlangt.
Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung sind gerichtliche Verfahren, in denen die Entscheidung von dem verfassungswidrigen Teil der Vorschrift abhängt, auszusetzen.
E.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beschwerdeführerin schon deshalb zurückgewiesen, weil ihre Klage nach Ablauf von zwei Jahren ab Eintritt der Volljährigkeit erhoben wurde. Die Frage, ob die Beschwerdeführerin von den Umständen, die für ihre Nichtehelichkeit sprechen, schon früher erfahren hatte, ist in der Entscheidung ausdrücklich offengelassen worden.
Unterschriften
Herzog, Henschel, Seidl, Grimm, Söllner, Kühling, Seibert, Jaeger
Fundstellen
Haufe-Index 1134540 |
BVerfGE, 263 |
NJW 1994, 2475 |