Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Mehrwertsteuer. Recht auf Vorsteuerabzug. Verweigerung. Betrug. Beweisführung. Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte. Recht auf Anhörung. Akteneinsicht. Effektive gerichtliche Kontrolle. Grundsatz der Waffengleichheit. Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens. Nationale Regelung oder Praxis, wonach die Steuerverwaltung bei der Prüfung des von einem Steuerpflichtigen geltend gemachten Rechts auf Vorsteuerabzug an die Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Wertungen gebunden ist, die sie im Rahmen konnexer Verwaltungsverfahren vorgenommen hat, an denen der betreffende Steuerpflichtige nicht beteiligt war
Normenkette
EGRL 112/2006; EUGrdRCh Art. 47
Beteiligte
Glencore Agriculture Hungary |
Glencore Agriculture Hungary Kft |
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága |
Verfahrensgang
Fovarosi Közigazgatasi es Munkaügyi Birosag (Ungarn) (Beschluss vom 14.02.2018; ABl. EU 2018, Nr. C 221/6) |
Tenor
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung oder Praxis, wonach die Steuerverwaltung bei der Überprüfung des von einem Steuerpflichtigen ausgeübten Rechts auf Vorsteuerabzug an die Tatsachenfeststellungen und die rechtlichen Wertungen gebunden ist, die sie bereits im Rahmen konnexer Verwaltungsverfahren gegen Lieferanten des betreffenden Steuerpflichtigen vorgenommen hat und auf die bestandskräftige Entscheidungen gestützt sind, in denen das Vorliegen eines Mehrwertsteuerbetrugs durch diese Lieferanten festgestellt wird, grundsätzlich nicht entgegenstehen; dies gilt unter dem Vorbehalt, dass erstens die Steuerverwaltung durch diese Regelung oder Praxis nicht davon freigestellt wird, dem Steuerpflichtigen die Beweise einschließlich der aus diesen konnexen Verwaltungsverfahren stammenden Beweise zur Kenntnis zu bringen, auf deren Grundlage sie den Erlass einer Entscheidung beabsichtigt, und dem Steuerpflichtigen somit nicht das Recht genommen wird, diese Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Wertungen in dem ihn betreffenden Verfahren wirksam in Frage zu stellen, zweitens der betreffende Steuerpflichtige während dieses Verfahrens zu allen in diesen konnexen Verfahren zusammengetragenen Beweisen, auf die die Steuerverwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt oder die für die Ausübung der Verteidigungsrechte nützlich sein können, Zugang erhalten kann, es sei denn, eine Beschränkung dieses Zugangs ist durch dem Gemeinwohl dienende Ziele gerechtfertigt, und drittens das mit einer Klage gegen die betreffende Entscheidung befasste Gericht die Rechtmäßigkeit der Erlangung und Verwendung dieser Beweise sowie die Feststellungen, die in den gegenüber den Lieferanten des Steuerpflichtigen ergangenen Verwaltungsentscheidungen getroffen wurden, überprüfen kann, wenn sie für den Erfolg der Klage ausschlaggebend sind.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest, Ungarn) mit Entscheidung vom 14. Februar 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 13. März 2018, in dem Verfahren
Glencore Agriculture Hungary Kft.
gegen
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter I. Jarukaitis (Berichterstatter), E. Juhász, M. Ilešič und C. Lycourgos,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. März 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Glencore Agriculture Hungary Kft., vertreten durch Z. Várszegi, D. Kelemen und B. Balog, ügyvédek,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und G. Koós, als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Havas und J. Jokubauskaitė als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Juni 2019
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie), sowie die Auslegung des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte und von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Glencore Agriculture Hungary Kft. (im Folgenden: Glencore) und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Direktion für Rechtsbehelfsangelegenheiten der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) (im Folgenden: Steuerverwaltung) über zwei Bescheide, mit denen u. a. Mehrwertsteuerzahlungen für die Steuerjahre...