Entscheidungsstichwort (Thema)

Zollschuld, Entstehung einer Zollschuld infolge des vorschriftswidrigen Verbringens von Waren, Kaufvermittler als Zollschuldner

 

Leitsatz (amtlich)

Art. 202 Abs. 3 zweiter Gedankenstrich der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften ist in dem Sinne auszulegen, dass eine Person als Schuldner der aufgrund des vorschriftswidrigen Verbringens von Waren in das Zollgebiet der Europäischen Union entstandenen Zollschuld anzusehen ist, wenn sie, ohne an diesem Verbringen unmittelbar mitzuwirken, daran als Vermittlerin beim Abschluss der Kaufverträge für die betreffenden Waren beteiligt war, sofern diese Person wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass dieses Verbringen vorschriftswidrig sein würde, was vom vorlegenden Gericht zu beurteilen ist.

 

Normenkette

EWGV 2913/92 Art. 202 Abs. 3

 

Beteiligte

Jestel

Oliver Jestel

Hauptzollamt Aachen

 

Verfahrensgang

BFH (Beschluss vom 03.09.2010; Aktenzeichen VII R 23/10; BFH/NV 2010, 2313)

 

Tatbestand

Zollkodex der Gemeinschaften ‐ Art. 202 Abs. 3 zweiter Gedankenstrich ‐ Entstehung einer Zollschuld infolge des vorschriftswidrigen Verbringens von Waren ‐ Begriff des ‚Zollschuldners‘ ‐ Beteiligung am vorschriftswidrigen Verbringen ‐ Person, die beim Abschluss der Kaufverträge über die vorschriftswidrig verbrachten Waren als Vermittler tätig war“

In der Rechtssache C-454/10

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 3. September 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 17. September 2010, in dem Verfahren

Oliver Jestel

gegen

Hauptzollamt Aachen

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues sowie der Richter U. Lõhmus (Berichterstatter), A. Rosas, A. Ó Caoimh und A. Arabadjiev,

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

‐ der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und K. Havlíčková als Bevollmächtigte,

‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann und L. Bouyon als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Juli 2011

folgendes

Urteil

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 202 Abs. 3 zweiter Gedankenstrich der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. L 302, S. 1, im Folgenden: Zollkodex).

Rz. 2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Jestel und dem Hauptzollamt Aachen (im Folgenden: Hauptzollamt) über die Zahlung einer Zollschuld, die durch das vorschriftswidrige Verbringen von Waren in das Zollgebiet der Europäischen Union entstanden sein soll.

Rechtlicher Rahmen

Rz. 3

In Art. 202 des Zollkodex heißt es:

„(1) Eine Einfuhrzollschuld entsteht,

a) wenn eine einfuhrabgabenpflichtige Ware vorschriftswidrig in das Zollgebiet der Gemeinschaft verbracht wird …

Im Sinne dieses Artikels ist vorschriftswidriges Verbringen jedes Verbringen unter Nichtbeachtung der Artikel 38 bis 41 und 177 zweiter Gedankenstrich.

(2) Die Zollschuld entsteht in dem Zeitpunkt, in dem die Ware vorschriftswidrig in dieses Zollgebiet verbracht wird.

(3) Zollschuldner sind:

‐ die Person, welche die Ware vorschriftswidrig in dieses Zollgebiet verbracht hat;

‐ die Personen, die an diesem Verbringen beteiligt waren, obwohl sie wussten oder vernünftigerweise hätten wissen müssen, dass sie damit vorschriftswidrig handeln;

‐ die Personen, welche die betreffende Ware erworben oder im Besitz gehabt haben, obwohl sie in dem Zeitpunkt des Erwerbs oder Erhalts der Ware wussten oder vernünftigerweise hätten wissen müssen, dass diese vorschriftswidrig in das Zollgebiet verbracht worden war.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Rz. 4

Aus dem Vorlagebeschluss und der dem Gerichtshof vorgelegten Akte ergibt sich, dass Herr Jestel zwischen April 2004 und Mai 2006 über die Internetplattform eBay, auf der er zwei Online-Shops unterhielt, Waren aus China in Auktionen einstellte. Er war als Vermittler für den Abschluss der Kaufverträge über diese Waren tätig und vereinnahmte das Entgelt für den Verkauf. Der chinesische Lieferant der fraglichen Waren setzte die Preise der Waren fest und besorgte deren Lieferung. Die Waren wurden nämlich von dem Lieferanten auf dem Postweg direkt an die in Deutschland ansässigen Käufer geschickt.

Rz. 5

Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Waren wurden ‐ offenbar aufgrund falscher Angaben des Lieferanten über den Inhalt und den Wert der Lieferung ‐ an diese Käufer geliefert, ohne dass sie gestellt und die Einfuhrabgaben entrichtet worden wären.

Rz. 6

Das Hauptzollamt erließ einen an Herrn Jestel gerichteten Abgabenbescheid über rund 10 000 Euro Zoll und rund 21 000 Euro Einfuhrumsatzsteuer. Es machte u. a. geltend, dass Herr Jestel im Sinne von Art. 202 Abs. 3 zweiter Gedankenstrich des Zoll...

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