Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorsteuerabzug, entrichtete oder geschuldete EUSt, keine Voraussetzung der vorherigen Entrichtung der EUSt
Leitsatz (amtlich)
Art. 17 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, das Recht auf Abzug der Einfuhrmehrwertsteuer von der tatsächlichen vorherigen Zahlung dieser Steuer durch den Steuerschuldner abhängig zu machen, wenn dieser auch der zum Abzug Berechtigte ist.
Normenkette
EWGRL 388/77 Art. 17 Abs. 2 Buchst. b
Beteiligte
Ministre du budget, des comptes publics et de la réforme de l État |
Verfahrensgang
Conseil d' Etat (Frankreich) (Urteil vom 30.07.2010; ABl. EU 2010, Nr. C 301/10) |
Tatbestand
„Mehrwertsteuer ‐ Sechste Richtlinie ‐ Art. 17 Abs. 2 Buchst. b ‐ Besteuerung eines aus einem Drittland eingeführten Erzeugnisses ‐ Nationale Regelung ‐ Recht auf Abzug der Einfuhrmehrwertsteuer ‐ Voraussetzung ‐ Tatsächliche Entrichtung der Mehrwertsteuer durch den Steuerpflichtigen“
In der Rechtssache C-414/10
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Frankreich) mit Entscheidung vom 30. Juli 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 19. August 2010, in dem Verfahren
VELECLAIR SA
gegen
Ministre du Budget, des Comptes publics et de la Réforme de l’État,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano sowie der Richter M. Safjan, M. Ilešič, E. Levits und J.-J. Kasel (Berichterstatter),
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Oktober 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der VELECLAIR SA, vertreten durch E. Arcil, avocat,
‐ der französischen Regierung, vertreten durch N. Rouam und G. de Bergues als Bevollmächtigte,
‐ der deutschen Regierung, vertreten durch C. Blaschke und T. Henze als Bevollmächtigte,
‐ der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels als Bevollmächtigte,
‐ der portugiesischen Regierung, vertreten durch S. Jaulino, L. Ines Fernandes und R. Campos Laires als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Recchia, C. Soulay und F. Dintilhac als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 17. November 2011
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der VELECLAIR SA (im Folgenden: Véleclair) und dem Ministre du Budget, des Comptes publics et de la Réforme de l’État (Minister für Haushalt, öffentliche Finanzen und die Reform des Staates) über eine nationale Regelung, die das Recht auf Abzug der Einfuhrmehrwertsteuer von der tatsächlichen Zahlung dieser Steuer abhängig macht.
Rechtlicher Rahmen
Sechste Richtlinie
Rz. 3
Art. 10 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie lautet:
„Im Sinne dieser Richtlinie gilt als
a) Steuertatbestand: der Tatbestand, durch den die gesetzlichen Voraussetzungen für den Steueranspruch verwirklicht werden;
b) Steueranspruch: der Anspruch, den der Fiskus nach dem Gesetz gegenüber dem Steuerschuldner von einem bestimmten Zeitpunkt ab auf die Zahlung der Steuer geltend machen kann, selbst wenn Zahlungsaufschub gewährt werden kann.“
Rz. 4
In Art. 10 Abs. 2 und 3 der Sechsten Richtlinie heißt es weiter:
„(2) Der Steuertatbestand und der Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung des Gegenstands oder die Dienstleistung bewirkt wird.
…
Abweichend von den vorstehenden Bestimmungen können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass der Steueranspruch für bestimmte Umsätze oder für Gruppen von Steuerpflichtigen zu den folgenden Zeitpunkten entsteht:
‐ entweder spätestens bei der Ausstellung der Rechnung oder des an deren Stelle tretenden Dokuments,
‐ oder spätestens bei der Vereinnahmung des Preises,
‐ oder im Falle der Nichtausstellung oder verspäteten Ausstellung der Rechnung oder des an deren Stelle tretenden Dokuments, binnen einer bestimmten Frist nach dem Zeitpunkt des Eintretens des Steuertatbestands.
(3) Der Steuertatbestand und der Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Einfuhr des Gegenstands erfolgt. Unterliegen Gegenstände vom Zeitpunkt ihrer Verbringung in die Gemeinschaft an einer der Regelungen nach Artikel 7 Absatz 3, so treten der Steuertatbestand und der Steueranspruch erst zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Gegenstände diesen Regelungen nicht mehr unterliegen.
Unterliegen die ein...