Dr. Nils Häck, Dr. Julian Böhmer
Rz. 180
Bedeutung der Kapitalverkehrsfreiheit in Drittstaaten-Fällen. Die praktische Bedeutung der Wegzugsbesteuerung im Verhältnis zu Drittstaaten (z.B. USA, Großbritannien) ist nicht zu unterschätzen. Das bisher sehr strenge Besteuerungsregime in Drittstaatenkonstellationen ist zwar durch die Verlängerung des Zahlungszeitraums (§ 6 Abs. 4) und die (zeitlich) erweiterte Rückkehrregelung (§ 6 Abs. 3) – jedenfalls in der Theorie – verbessert worden. Es verbleibt aber die Frage, ob bei Verwirklichung eines Tatbestands i.S.v. § 6 Abs. 1 im Zusammenhang mit Drittstaaten, soweit nicht ohnehin spezielle Assoziierungsabkommen bestehen, die einem den EU-/EWR-Fällen entsprechenden Schutz entfalten (zur Schweiz s. unter Rz. 183 ff.), die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV) einen Schutz gegenüber der Wegzugsbesteuerung entfalten kann, der dem gemeinschaftsrechtlichen Schutz in Wegzugsfällen im EU-/EWR-Raum (dazu Rz. 170) entspricht.
Rz. 181
Anwendung der Kapitalverkehrsfreiheit im Einzelnen. In den von § 6 Abs. 1 AStG i.V.m. § 17 EStG angesprochenen Fällen wird die Kapitalverkehrsfreiheit nicht von vornherein durch die Niederlassungsfreiheit "gesperrt", da § 17 EStG abstrakt (Beteiligungsquotenerfordernis i.H.v. 1 %) nicht auf "sicheren Einfluss" vermittelnde "Kontrollbeteiligungen" zielt. Bei der Frage nach dem Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 Abs. 1 AEUV) gegenüber einer Wegzugsbesteuerung nach § 6 Abs. 1 ist v.a. entscheidend, ob die notwendige "Kapitalbewegung" gegeben ist. Ist dies zu bejahen, schützt die Kapitalverkehrsfreiheit im Verhältnis zu § 6 dennoch nicht, wenn die sog. Standstill-Klausel (Art. 64 AEUV) zur Anwendung kommt (dazu Rz. 181.1). Zur Bestimmung des Begriffs des "Kapitalverkehrs" greift der EuGH als Auslegungshilfe auf die Nomenklatur für den Kapitalverkehr gemäß der Kapitalverkehrs-Richtlinie zurück. Position XI. F. des Anhangs zur Kapitalverkehrs-Richtlinie erfasst unter der Überschrift "Kapitalverkehr mit persönlichem Charakter" u.a. "B. Schenkungen und Stiftungen", "D. Erbschaften und Vermächtnisse" sowie den "Vermögenstransfer von Gebietsansässigen im Fall der Auswanderung zum Zeitpunkt ihrer Niederlassung und während ihres Aufenthalts im Ausland". Zudem wird unter Position XII. des Anhangs die "Ein- und Ausfuhr" von Wertpapieren erfasst. Vor diesem Hintergrund ist die Kapitalverkehrsfreiheit sowohl bei physischen Wegzügen als auch bei Schenkungen und Erbfällen betroffen: Zwar geht die h.M. im Hinblick auf die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache van Hilten-van der Heijden (noch) davon aus, dass die reine Verlagerung des Wohnsitzes mangels "Kapitalbewegung" nicht in den Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit falle und diese daher in den von § 6 Abs. 1 Satz 1 und Nr. 3 erfassten Konstellationen physischer Wegzüge keinen Schutz entfalten könne. Zu sehen ist auch, dass der EuGH in der Rechtssache Picart (s. Rz. 188) die Möglichkeit gehabt hätte, die Kapitalverkehrsfreiheit zu aktivieren, dies jedoch nicht getan hat. Richtigerweise entfaltet die Kapitalverkehrsfreiheit aber auch in "echten" Wegzugsfällen mit Drittstaatenbezug (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 3) ihren Schutz, da mit dem Umzug auch die zwangsläufige "Verlagerung" der Beteiligung als "Kapitalbewegung" einher geht. Der Umstand, dass es sich bei der Beteiligung nicht um einen körperlichen Gegenstand handelt, führt zu keinem anderen Ergebnis. Das FG Berlin-Brandenburg ist auf diese Frage in seiner (rechtskräftigen) Entscheidung vom 27.4.2022 nicht eingegangen. Für die in der Praxis zunehmend bedeutsameren Fälle der durch Erbschaften und Schenkungen ausgelösten Wegzugsbesteuerung (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bzw. Nr. 3) besteht im Grundsatz kein Zweifel, dass es sich um "Kapitalbewegungen" handelt und die Kapitalverkehrsfreiheit einschlägig ist. Dies gilt auch für die grenzüberschreitende Schenkung und Vererbung an ausländische Stiftungen. Die Kapitalverkehrsfreiheit kann auch bei grenzüberschreitenden Einlagen in ein ausländisches Betriebsvermögen bzw. den übrigen Fällen des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 mit Anteilen an einer Drittstaaten-Kapitalgesellschaft einschlägig sein.
Rz. 181.1
Anwendung der Standstill-Klausel (Art. 64 AEUV). Ist im Einzelfall von einer "Kapitalbewegung" i.S.v. Art. 63 AEUV auszugehen (s. Rz. 181) stellt sich die die Frage, ob und inwieweit die Standstill-Klausel des Art. 64 Abs. 1 AEUV einer Anwendung der Kapitalverkehrsfreiheit im Rahmen des § 6 entgegensteht. Nach der Fortbestandsgarantie des Art. 64 Abs. 1 AEUV berührt Art. 63 AEUV nicht die Anwendung der am 31.12.1993 bestehenden (beschränkenden) einzelstaatlichen Rechtsvorschriften "im Zusammenhang mit Direktinvestitionen einschließlich Anlagen in Immobilien, mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von den Wertpapieren zu den Kapitalmärkten". Die Ausnahmeregelung ist eng auszulegen u...