0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Die Vorschrift trat mit dem SGB X v. 18.8.1980 (BGBl. I S. 1469) ab 1981 in Kraft und gilt in der Neufassung des SGB X v. 18.1.2001 (BGBl. I S. 130) mit Wirkung zum 1.1.2001.
1 Allgemeines
Rz. 2
Die Vorschrift, die für alle vom SGB erfassten Sachgebiete gilt, entspricht § 32 VwVfG. § 27 gilt nur für das Verwaltungsverfahren im engeren Sinne. Für das Vorverfahren ist die Wiedereinsetzung ebenso wie für das gerichtliche Verfahren in § 67 SGG bzw. § 60 VwGO geregelt (§ 84 Abs. 2 Satz 3 SGG bzw. § 70 Abs. 2 VwGO). § 27 ist nicht als eine gesetzliche Konkretisierung bisher anerkannter Rechtsgrundsätze anzusehen, sondern als eine neue, bisher überwiegend anders beantwortete Regelung, insbesondere zu den materiell-rechtlichen Ausschlussfristen.
Die Vorschrift regelt den Ausgleich zwischen den Prinzipien der Rechtssicherheit und der Effektivität staatlichen Handelns, denen Fristen grundsätzlich dienen, einerseits und den Interessen der materiellen Gerechtigkeit sowie dem effektiven Rechtsschutz und dem Anspruch auf rechtliches Gehör andererseits.
Rz. 2a
Neben den Wiedereinsetzungsregelungen des § 27 kommt bei Fristversäumnis, die auf Behördenfehlern beruht, auch der sozialrechtliche Wiederherstellungsanspruch zur Anwendung; ist die Fristversäumnis auf einen Behördenfehler zurückzuführen, überschneiden sich nämlich die Tatbestände des § 27 und des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs, ohne dass einer ausgeschlossen wäre (BSG, Urteil v. 4.9.2013, B 12 AL 2/12 R, SozR 4-4300 § 28a Nr. 5; BSG, Urteil v. 2.2.2006, B 10 EG 9/05 R, BSGE 96 S. 44 = SozR 4-1300 § 27 Nr. 2).
2 Rechtspraxis
2.1 Voraussetzungen der Wiedereinsetzung
Rz. 3
Durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, auf die der Beteiligte einen Rechtsanspruch hat, wird eine verspätet vorgenommene Handlung als rechtzeitig vorgenommen angesehen. Voraussetzung für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Abs. 1 Satz 1 ist, dass der Betroffene eine gesetzliche Frist versäumt hat, die Fristversäumung auf einer Verhinderung und nicht auf Verschulden beruhte. § 27 gilt nur für gesetzliche Fristen, d. h. solche, die sich aus einer Rechtsnorm (Gesetz, Verordnung, Satzung) ergeben. Sie erfasst Verfahrensfristen und grundsätzlich auch materiell-rechtliche Fristen. Sie ist nach Abs. 5 nur unzulässig, wenn dies ausdrücklich bestimmt ist oder sich durch Auslegung nach dem Zweck der jeweiligen Fristbestimmung und der ihr zugrunde liegenden Interessenabwägung ergibt (BSG, Urteil v. 25.10.1988,12 RK 22/87, BSGE 64 S. 153 = SozR 1300 § 27 Nr. 4; vgl. Rz. 11). Wiedereinsetzung kommt z. B. in Betracht bei der Frist nach § 9 Abs. 2 SGB V (BSG, Urteil v. 14.5.2002, B 12 KR 14/01 R, SozR 3-2500 § 9 Nr. 4; BSG, Urteil v. 28.5.2008, B 12 KR 16/07 R, SozR4-2500 § 9 Nr. 2). Keine Wiedereinsetzung kommt bei § 37 SGB II in Betracht, da § 37 SGB II keine Frist festsetzt, sondern lediglich das Verhältnis zwischen Leistungsbeginn und Antragstellung regelt (BSG, Urteil v. 18.1.2011, B 4 AS 99/10 R, SozR 4-4200 § 37 Nr. 5).
Rz. 3a
Wiedereinsetzung ist nur zu gewähren, wenn die Frist ohne Verschulden versäumt wurde. Dies ist der Fall, wenn die einem gewissenhaft und sachgemäß handelnden Verfahrensbeteiligten gebotene und nach den Umständen des Einzelfalles zumutbare Sorgfalt nicht eingehalten worden ist. Grundsätzlich gilt hier ein subjektiver Maßstab, so dass Geisteszustand, Alter, Bildungsgrad und Geschäftsgewandtheit des Betroffenen berücksichtigt werden können (BSG, Urteil v. 15.8.2000, B 9 VG 1/99 R, SozR 3-3100 § 60 Nr. 3). Die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten des Betroffenen dürfen grundsätzlich nicht überspannt werden (BVerfG, Beschluss v. 3.6.1975, 2 BvR 457/74, BVerfGE 40 S. 46).
Rz. 4
Kein Verschulden liegt z. B. vor, wenn durch langsamen und verzögerten Postlauf die Frist nicht eingehalten wurde; denn gesetzliche Fristen dürfen voll ausgenutzt werden, und auf normale Postbeförderungsdauer können die Beteiligten vertrauen. Im Bundesgebiet bedarf der Beteiligte grundsätzlich darauf vertrauen, dass richtig adressierte und ausreichend frankierte, werktags aufgegebene Postsendungen am folgenden Werktag ausgeliefert werden. Dies gilt selbst dann, wenn – etwa vor Feiertagen – allgemein mit erhöhtem Postaufkommen zu rechnen ist. Dies ergibt sich nicht zuletzt auch aus § 2 Postuniversaldienstleistungsverordnung v. 15.12.1999. Ohne konkrete Anhaltspunkte muss der Beteiligte nicht mit längeren Postlaufzeiten rechnen. Dabei muss der Beteiligte die Leerungszeiten des von ihm benutzten Briefkastens beachten (BGH, Beschluss v. 20.5.2009, IV ZB 2/08).
Wenn eine Behörde ein Postschließfach hat, gelten fristgebundene materiellrechtliche Anträge mit dem Zeitpunkt des Einsortierens in das Postschließfach als eingegangen (BSG, Urteil v. 1.2.1979, 12 RK 33/77, BSGE 48 S. 12 = SozR 2200 § 1227 Nr. 23). Bestehen Zweifel über den Zeitpunkt des Eingangs, so trifft die objektive Beweislast grundsätzlich den Antragsteller,.
Rz. 5
Arbeitsüberlastung stellt keinen Wiedereinsetzungsgrund dar, ebenso wenig Krankheit, wenn der Beteiligte selbst das Nötige noch veranl...