vorläufig nicht rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Verwirkung der Steuerfestsetzung bei Grundlagenbescheiden
Leitsatz (redaktionell)
- Verwirkung setzt voraus, dass sich der Verpflichtete nach dem gesamten Verhalten des Berechtigten bei objektiver Betrachtung darauf verlassen durfte und hat, dass dieser das bevorstehende Recht in Zukunft nicht geltend machen werde. Danach gehört zum Tatbestand der Verwirkung sowohl ein Zeitmoment als auch ein Umstandsmoment.
- Das Rechtsinstitut der Verwirkung kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht.
- Bei Erlass eines Grundlagenbescheides scheidet eine Verwirkung der Steuerfestsetzung aus.
Normenkette
UStG § 4 Nr. 21a) bb), Nr. 20a
Streitjahr(e)
1972, 1992
Nachgehend
Tatbestand
Die Klägerin betrieb eine Ballettschule. In ihren Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre 1972 - 1992 unterwarf sie die Umsätze dem Regelsteuersatz. Bescheinigungen der zuständigen Landesbehörde im Sinne des in den Streitjahren geltenden § 4 Nr. 21 a) bb) UStG über die Vorbereitung auf einen Beruf und eine Vergleichsbescheinigung nach § 4 Nr. 20a UStG lagen nicht vor. Die Umsatzsteuern wurden bestandskräftig festgesetzt.
Unter dem Datum vom 30.09.2004 erteilte die Bezirksregierung Hannover als zuständige Landesbehörde der Klägerin auf Antrag eine Bescheinigung im Sinne des § 4 Nr. 21 a) bb) UStG 1999 über die Vorbereitung auf einen Beruf. Am 14.09.2006 stellte die Klägerin einen Antrag auf Änderung der bestandskräftigen Umsatzsteuerbescheide u.a. für die Streitjahre 1972 - 1992 mit dem Ziel, die Umsätze entsprechend der Bescheinigung als steuerfreie Umsätze zu berücksichtigen. Unter dem Datum vom 21.01.2008 erteilte das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur als zuständige Landesbehörde der Klägerin auf Antrag eine Bescheinigung im Sinne des § 4 Nr. 20 a) bb) UStG mit Wirkung ab 01.01.1973, dass die Theater- und Schulaufführungen ihrer Ballettschule die gleichen kulturellen Aufgaben wie die in § 4 Nr. 20a UStG bezeichneten öffentlichen Einrichtungen erfüllen. Die Klägerin übersandte dem Beklagten die Bescheinigung mit Schriftsatz vom 18.02.2008 und beantragte auch insofern eine steuerfreie Berücksichtigung der Umsätze. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 31.03.2009 mit der Begründung fehlender verfahrensrechtlicher Änderungsvorschriften ab. Der dagegen eingelegte Einspruch war erfolglos. Hiergegen richtet sich die Klage.
Die Klägerin ist der Auffassung, die Umsatzsteuerbescheide seien gem. § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern, weil es sich bei den Bescheinigungen um von der jeweils zuständigen Landesbehörde ausgestellte Grundlagenbescheide handele. Dies habe der Bundesfinanzhof in einem vergleichbaren Verfahren bestätigt. Damit seien die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 21 a) bb) UStG und § 4 Nr. 20a UStG gegeben. Das werde auch vom Beklagten nicht bestritten. Gründe für eine Verwirkung lägen nicht vor. Auf die verbleibenden Umsätze sei § 19 UStG anzuwenden. Mit der Abgabe der Umsatzsteuererklärungen sei keine Option zur Steuerpflicht eingetreten. Dies entspreche der Rechtsprechung und sei bundesweite Praxis der Verwaltung.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Umsatzsteuer für die Jahre 1972, 1973, 1975 bis 1977 und 1981 bis 1985 jeweils auf 0 DM und die Umsatzsteuer 1974 auf 54,95 DM, die Umsatzsteuer 1978 auf 148,20 DM, die Umsatzsteuer 1980 auf 713,27 DM, die Umsatzsteuer 1986 auf 49,12 DM, die Umsatzsteuer 1987 auf 122,43 DM, die Umsatzsteuer 1988 auf 4,81 DM, die Umsatzsteuer 1989 auf 56,75 DM, die Umsatzsteuer 1990 auf 982,46 DM, die Umsatzsteuer 1991 auf 1.414,95 DM und die Umsatzsteuer 1992 auf 3.156,21 DM festzusetzen sowie
die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte ist der Auffassung, dass eine Änderung des Umsatzsteuerbescheides nicht möglich sei. Zwar sei in § 4 Nr. 21 a bb) UStG vorgesehen, dass die zuständige Landesbehörde die ordnungsgemäße Vorbereitung auf einen Beruf bescheinige. Ferner liege eine Vergleichsbescheinigung nach § 4 Nr. 20a UStG vor, was zur Steuerfreiheit der von den Bescheinigungen umfassten Umsätze führe. Die Bescheinigungen seien insoweit auch für die Finanzbehörden bindend. Es sei jedoch Verwirkung eingetreten. Verwirkung läge vor, wenn unter Berücksichtigung der Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO die im Falle einer Steuerhinterziehung nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO auf zehn Jahre verlängerte Festsetzungsfrist abgelaufen sei. Dieser Gedanke des Rechtsfriedens vor der materiellen Rechtsrichtigkeit müsse auch für das vorliegende Verfahren Gültigkeit haben.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet. Die Umsätze der Klägerin sind in den Streitjahren unstreitig in dem beantragten Umfang gem. § 4 Nr. 20a UStG und § 4 Nr. 21 a) bb) UStG umsatzsteuerbefreit. Die angefochtenen Umsatzsteuerbescheide 1972 bis 1992 sind aufgrund der Bescheinigung der Bezirksregierung Hannove...