Rz. 29
Das BVerfG entscheidet über Verfassungsbeschwerden, die von "jedermann" mit der Behauptung erhoben werden können, in einem seiner Grundrechte oder gleichgestellten Rechte verletzt zu sein. Dem BVerfG steht jedoch – im Gegensatz zu den Fachgerichten – nur eine eingeschränkte Überprüfung zu. Denn die Verfassungsbeschwerde bedarf der Annahme durch den sog. Dreierausschuss (Kammer) des BVerfG. Die Verfassungsbeschwerde ist aber nur zur Entscheidung anzunehmen,
- soweit ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt oder
- wenn es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte (Grundrechte usw.) angezeigt ist; dies kann auch der Fall sein, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil entsteht.
Nach der Rspr. des BVerfG ist die Annahme jedoch allgemein – also nicht nur im Fall eines besonders schweren Nachteils – nicht angezeigt, wenn die geltend gemachte Rechtsverletzung kein besonderes Gewicht hat oder den Beschwerdeführer nicht in existenzieller Weise betrifft. Auch bei bestehender Grundrechtsverletzung greift die Verfassungsbeschwerde daher nicht durch, wenn diese besonderen Voraussetzungen (grundsätzliche Bedeutung oder schwerwiegende Grundrechtsverletzung/existenzielle Betroffenheit) nicht gegeben sind. Danach reicht für eine Verfassungsbeschwerde eine schlichte Grundrechtsverletzung nicht aus. Entgegen Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG verlangt das BVerfG eine qualifizierte Grundrechtsverletzung.
Rz. 30
Die sonach nur beschränkte Prüfungskompetenz des BVerfG war der Grund für die Anerkennung der Gegenvorstellung bzw. der außerordentlichen Beschwerde und letztlich für die gesetzliche Regelung der Anhörungsrüge (Rz. 1ff.). Denn im Gegensatz zur Verfassungsbeschwerde ist die fachgerichtliche Prüfungskompetenz auf die Anhörungsrüge nicht eingeschränkt. Die fachgerichtliche Prüfung beschränkt sich nicht auf besonders gewichtige Fehler oder Situationen existenzieller Betroffenheit, sondern erfasst Rechtsbeeinträchtigungen jeglicher Art. Die Anhörungsrüge erfasst daher nicht nur schwerwiegende Gehörsverletzungen, sondern Verletzungen des rechtlichen Gehörs in jeder Weise. Lediglich bei der Gegenvorstellung ist eine Beschränkung auf schwerwiegende Rechtsverletzungen geboten (Rz. 22).
Rz. 31
Die Verfassungsbeschwerde ist gegenüber den Rechtsschutzmöglichkeiten der Fachgerichte nur subsidiär gegeben, d. h., sie kann grundsätzlich erst erhoben werden, wenn der Rechtsweg zu den Fachgerichten erschöpft ist. Der Beschwerdeführer muss alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen.
- Zum einen müssen die gegebenen Rechtsschutzmöglichkeiten ergriffen werden – formelle Subsidiarität.
- Zum anderen muss – zum Zweck einer ordnungsgemäßen fachgerichtlichen Vorprüfung – der Verfassungsverstoß bereits vor dem Fachgericht (FG, BFH) dargelegt werden – materielle Subsidiarität.
Macht der Beschwerdeführer davon nicht in ordnungsgemäßer Weise Gebrauch, scheitert die Verfassungsbeschwerde an § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG, z. B. wenn der Beschwerdeführer gegen das Urteil des FG Nichtzulassungsbeschwerde erhoben hat, diese aber vom BFH als (offensichtlich) unzulässig verworfen wurde. Die Rechtswegerschöpfung kann allerdings unzumutbar sein, wenn eine gefestigte Rechtsprechung vorliegt und keine neue Erkenntnis zu erwarten ist. Vor der gesetzlichen Ausgestaltung der Anhörungsrüge war wegen der fehlenden rechtlichen Ausformung ungeklärt und streitig, ob der Beschwerdeführer vor der Erhebung der Verfassungsbeschwerde entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip zunächst von der Möglichkeit einer (schon damals anerkannten) Gegenvorstellung Gebrauch machen muss.
Rz. 32
Da die Anhörungsrüge inzwischen gesetzlich geregelt ist, ist es nicht mehr unzumutbar, bei der Rüge der Gehörsverletzung den Beschwerdeführer zunächst auf die Erhebung der Anhörungsrüge zu verweisen. Die Schaffung der Anhörungsrüge verfolgte gerade den Zweck, das BVerfG von Verfassungsbeschwerden zu entlasten. Die Frist für die Verfassungsbeschwerde ist daher nur gewahrt bzw. dem Gebot der Subsidiarität ist nur genügt, wenn der Betroffene von der Möglichkeit der Anhörungsrüge in zulässiger Weise Gebrauch gemacht hat. War diese offensichtlich unzulässig, was das BVerfG eigenständig zu prüfen hat, wird durch die Erhebung der Anhörungsrüge die Frist für die Verfassungsbeschwerde nicht gewahrt. Ohne Erhebung einer gegebenen Anhörungsrüge ist der Rechtsweg nicht erschöpft.
Erst nach Zurückweisung der Anhörungsrüge durch das Ausgangsgericht ist die Verfassungsbeschwerde eröffnet. Sie ist jedoch unbegründet, soweit der Gehörsverstoß durch das Ausgangsgericht im Anhörungsrügeverfahren geheilt wurde.
Rz. 33
Anders ist es bei sonstigen, d. h. nicht die Verletzun...