Prof. Dr. Volker Wahrendorf
Rz. 20
Die Vorschrift beauftragt und ermächtigt den Gemeinsamen Bundesausschuss zum Erlass von Richtlinien, die die gesetzlichen Kriterien zur Inanspruchnahme und Erbringung von Gesundheitsleistungen verbindlich konkretisieren und damit Standards für die Gesundheitsversorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung setzen sollen (Becker/Kingreen/Hollo, SGB V, § 92 Rz. 1). Der Gemeinsame Bundesausschuss übernimmt damit eine nicht zu unterschätzende Aufgabe der ärztlichen Selbstverwaltung. Damit beinhaltet die Norm die gesetzliche Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschusses zum Erlass von Richtlinien. Ihm fällt diese Aufgabe zu, weil er den Gesetzgeber entlasten soll, was grundsätzlich die Funktion von Richtlinien ist, und weil er sachkundiger entscheiden kann (BT-Drs. 13/7264 S. 66). An der Verfassungsmäßigkeit der Aufgabenübertragung werden keine grundlegenden Zweifel geäußert (BSG, Urteil v. 17.12.2019, B 1 KR 18/19 R; vgl. auch Filges, in: jurisPK-SGB V, § 92 Rz. 51). § 92 wird als hinreichende Legitimationsbasis für den Erlass von verbindlichen Richtlinien angesehen. Die Prinzipien Ärztliche Versorgung und das Wirtschaftlichkeitsgebot sollen in der Vorschrift in Einklang gebracht werden (Satz 1). Bei einer genauen Betrachtung ist trotz der Normenvielfalt der Vorschrift eine gesetzlich eng geführte Steuerung nicht ersichtlich (Becker/Kingreen/Hollo, SGB V, § 92 Rz. 1), eher erfolgen die Änderungen anlassbezogen, ohne ein Grundkonzept erkennen zu lassen. Die vom Gemeinsamen Bundesausschuss zu beschließenden Richtlinien sollen einerseits die ärztliche/zahnärztliche Versorgung (§ 72) sichern, andererseits das Wirtschaftlichkeitsgebot konkretisieren. Bei der Sicherung stehen die Inhalte der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung, die fachlich gebotene Qualität und die ausreichende Zahl der ggf. mit ausreichender fachlicher Qualifikation zur Verfügung stehenden Vertragsärzte/Psychotherapeuten bzw. medizinischen Versorgungszentren und Vertragszahnärzte im Mittelpunkt, bei der Konkretisierung des Wirtschaftlichkeitsgebotes geht es um die Abgrenzung zwischen notwendigen und nicht notwendigen Leistungen sowie um die Häufigkeit der im Einzelfall ausreichenden Leistungen. Dem Bundesausschuss ist damit vom Gesetzgeber das Recht übertragen, durch die Richtlinien den Leistungsanspruch des Versicherten im Hinblick darauf zu konkretisieren, was dieser als notwendig, ausreichend, zweckmäßig, in fachlich gebotener Qualität und wirtschaftlich beanspruchen kann (BSG, Urteile v. 20.3.1996, 6 RKa 62/94, und v. 16.9.1997, 1 RK 28/95 und 1 RK 32/95).
Rz. 21
Richtlinien bedeutet, dass es sich nicht um eine zwingende Rechtsnorm für jeden Einzelfall handelt, sondern mehr um dispositives Recht, das aber nicht ohne Weiteres abbedungen werden kann. Gleichwohl enthalten die Richtlinien, die in der rechtlichen Rangfolge Verfassung, Gesetz, Rechtsverordnung an 4. Stelle noch vor Vertrag und Satzung stehen, dann eine stärkere Bindungswirkung, wenn der Einzelfall im Normbereich liegt; es müssen mithin schon gute Gründe vorliegen, wenn im Einzelfall von den Richtlinien abgewichen werden soll. Je konkreter die Richtlinien den Leistungsinhalt vorgeben (z. B. Einschränkung oder Ausschluss von Leistungen), desto weniger ist für die Adressaten der Richtlinien, in erster Linie die Vertragsärzte/Psychotherapeuten, medizinischen Versorgungszentren, ermächtigten ärztlichen Einrichtungen und Vertragszahnärzte, ein Abweichen möglich. Die Richtlinien sind auch nicht statisch zu sehen. Da die Versorgung dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen muss (§ 70), sind die Richtlinien durch den Gemeinsamen Bundesausschuss anzupassen, falls sich im Laufe der Zeit die medizinischen Erkenntnisse in der Diagnostik oder Therapie bei den zu verordnenden oder zu veranlassenden Leistungen oder hinsichtlich der Qualität der Leistung bzw. Qualifikation des Leistungserbringers ändern.
Rz. 22
Die Formulierung "beschließt" in Abs. 1 Satz 1 und "soll beschließen" in Abs. 1 Satz 2 wirkt praktisch wie eine Mussvorschrift, sodass der Erlass der in Abs. 1 aufgeführten Richtlinien nicht zur Disposition des Gemeinsamen Bundesausschusses steht. Der Gemeinsame Bundesausschuss wird zum "kleinen Gesetzgeber". Der Erlass einer Richtlinie setzt eine entsprechende Rechtsgrundlage voraus, die mit der Aufzählung in Abs. 1 Satz 2 gegeben ist. Das Wort "Insbesondere" macht deutlich, dass unter Zielsetzung des Satzes 1 weitere Richtlinien beschlossen werden können. Der Zwang zum Richtlinienerlass wird auch durch § 94 Abs. 1 Satz 5 deutlich, nach dem das BMG im Wege der Ersatzvornahme eine Richtlinie erlässt, falls der Gemeinsame Bundesausschuss sie nicht zustande bringt. Für die Selbstverwaltung besteht mithin Handlungszwang, will sie ihre Einflussnahme nicht verlieren; andererseits darf nicht übersehen werden, dass eine Ausschaltung der Selbstverwaltung die Durchführung einer vom BMG erlassenen Richtlinie in der Praxis gefährden könnte. Richtlinien, die ...