Rz. 16
Aufgrund der Entscheidung des EuGH v. 11.12.2003 zur Unzulässigkeit des fehlenden Schuldenabzugs bei beschränkter Steuerpflicht in den Niederlanden ist auch bei Erbschaftsteuer und Schenkungsteuer der Grundsatz der Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 56 Abs. 1 EG, jetzt Art. 63 AEUV) und Niederlassungsfreiheit (Art. 43, 48 EG, jetzt Art. 49 ff. AEUV) zu beachten, so dass die deutschen FG stets prüfen müssen, ob Gemeinschaftsrecht verletzt wird, wenn eine grenzüberschreitende Übertragung von Vermögen zu einer höheren Belastung mit Erbschaftsteuer oder Schenkungsteuer führt als eine Übertragung von ausschließlich inländischen Vermögen, wobei auch eine künftige Belastung genügt.
Dies gilt auch grundsätzlich im Verhältnis zu Drittstaaten, anders als bei der Niederlassungsfreiheit (s. Einf. ErbStG Rz. 94). Auch bei Erwerben von Todes wegen handelt es sich um Kapitalverkehr. Bislang hat der EuGH nicht abschließend entschieden, wie sich die beiden Grundfreiheiten zum Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht verhalten (s.a. Einf. ErbStG Rz. 94). Mithin wird die Kapitalverkehrsfreiheit, die als einzige unionsrechtliche Grundfreiheit auch im Verhältnis zu Drittstaaten gilt, auch auf dem Gebiet des Erbschaftsteuerrechts durch die vorrangig zur Anwendung gelangende Niederlassungsfreiheit verdrängt. Ausschlaggebend für diese Meinung ist das Urteil des EuGH v.19.7.2012. Danach verstößt der Ausschluss des Erwerbs einer Beteiligung an einer Drittstaaten-Kapitalgesellschaft von den Betriebsvermögensbegünstigungen nicht gegen die unionsrechtliche Kapitalverkehrsfreiheit, sie berührt vorwiegend die Ausübung der Niederlassungsfreiheit.
Rz. 17
Mit Urteil vom 8.6.2016, wonach das Antragsrecht für beschränkt Steuerpflichtige nach § 2 Abs. 3 ErbStG a.F. unionsrechtwidrig ist (s. Rz. 15), hat der EuGH klargestellt, dass Gebietsansässige und Gebietsfremde hinsichtlich der Besteuerungsgrundlagen objektiv vergleichbar sind. Eine die europarechtlichen Verkehrsfreiheiten einschränkende Regelung kann auch dann unionsrechtswidrig sein, wenn ihre Anwendung nur fakultativ ist.
Die unterschiedliche Bewertung von ausländischen Grundstücken mit dem gemeinen Wert (s. § 12 Abs. 6 ErbStG und § 31 BewG) und inländischen Grundstücken mit dem i.d.R. niedrigeren Steuerwert verstieß gegen EU-Recht, soweit es sich nicht um Erwerbe vor 1996 handelt (s. § 31 BewG Rz. 6). Der BFH hatte mit Beschluss v. 11.4.2006 dem EuGH zur Vorabentscheidung die Rechtsfrage vorgelegt, ob es mit der Kapitalverkehrsfreiheit vereinbar ist, dass für Zwecke der Erbschaftsteuer
- in einem anderen Mitgliedstaat belegenes (ausländisches) land- und forstwirtschaftliches Vermögen mit dem gemeinen Wert (Verkehrswert) zu bewerten ist, während für inländisches land- und forstwirtschaftliches Vermögen ein besonderes Bewertungsverfahren gilt, dessen Ergebnisse durchschnittlich nur 10 % der gemeinen Werte erreichen, und
- der Erwerb inländischen land- und forstwirtschaftlichen Vermögens in Höhe eines besonderen Freibetrags außer Ansatz und der verbliebene Wert lediglich zu 60 % (jetzt 65 %) anzusetzen ist.
- Nach dem Urteil des EuGH vom 17.1.2008 stellt es eine unzulässige Beschränkung des Kapitalverkehrs dar, wenn die Gewährung von Steuervergünstigungen auf dem Gebiet der Erbschaftsteuer davon abhängig gemacht wird, dass der von Todes erworbene Vermögensgegenstand im Inland belegen ist.
Bis dahin hatte die Finanzverwaltung bereits die Möglichkeit nach R 39 Abs. 1 ErbStR a.F. gehabt, ausländisches Betriebsvermögen wie inländisches Betriebsvermögen zu bewerten. Nach § 12 Abs. 1 ErbStG i.V.m. § 9 BewG werden nunmehr auch inländische Grundstücke mit dem gemeinen Wert bewertet (s. § 157 BewG Rz. 95 ff.). Die Finanzverwaltung hatte angeordnet, die Entscheidung des EuGH vom 17.1.2008 nicht nur auf alle offenen Fälle anzuwenden, sondern auch auf in anderen Mitgliedstaaten belegenes Betriebsvermögen und Grundvermögen sowie auf Anteile an nicht börsennotierten Kapitalgesellschaften mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten.
Der Gesetzgeber hatte bereits durch § 13b ErbStG a.F. die Begünstigungen auch auf Betriebsvermögen erstreckt, das einer Betriebsstätte in einem Mitgliedstaat der EU oder in einem Staat des europäischen Wirtschaftsraums dient, sowie auf Beteiligungen an Kapitalgesellschaften, die Sitz- oder Geschäftsleitung nicht nur im Inland, sondern in einem Mitgliedstaat der EU oder in einem Staat des europäischen Wirtschaftsraums haben.
Ebenso hatte der Gesetzgeber durch § 13 Abs. 1 Nr. 4a bis c ErbStG a.F. die Befreiung von Familienwohnheimen (bei Schenkung und bei Erwerb von Todes wegen) auf in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraums belegene Familienheime erweitert (s. § 181 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 BewG ).
Rz. 18
Nicht jede Differenzierung ist jedoch gemeinschaftswidrig. Nach Art. 65 Abs. 1a AEUV berührt Art. 63 AEUV nicht das Recht der Mitgliedstaaten, die einschlägigen Vorschriften ihr...