Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in die versäumte Beschwerdefrist; zur schlüssigen Darlegung von Verfahrensmängeln
Leitsatz (NV)
1. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn die Beschwerdeschrift per Telefax in weitgehend unleserlicher Form eingeht.
2. Eine Verletzung des Rechts auf Gehör kann vorliegen, wenn ein bisher nicht erörterter Gesichtspunkt zur Grundlage der Entscheidung gemacht wird, der dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht hat rechnen müssen (Überraschungsentscheidung).
3. Zur schlüssigen Darlegung der Verletzung der Sachaufklärungspflicht.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 56 Abs. 1-2, § 76 Abs. 1, § 96 Abs. 2; ZK Art. 205; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 116 Abs. 3 S. 3
Verfahrensgang
FG Hamburg (Urteil vom 10.11.2004; Aktenzeichen IV 66/01) |
Tatbestand
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) unterhielt im Freihafen ein Freizonenlager und handelte mit Waren für die Belieferung von Seeschiffen. Anlässlich einer bei der Klägerin durchgeführten Außenprüfung beanstandete der Prüfer unzureichende Angaben in den Lieferzetteln für Schiffsbedarf und das Fehlen sog. Vorabmitteilungen der Klägerin an das Zollamt, mit denen die Lieferung hoch steuerbarer Waren auf Schiffe spätestens 30 Minuten vorher anzuzeigen ist. In Übereinstimmung mit dem Prüfungsbericht war das Hauptzollamt X, dessen Zuständigkeit auf den Beklagten und Beschwerdegegner (Hauptzollamt --HZA--) übergegangen ist, der Ansicht, dass für sechs von der Klägerin durchgeführte Warenlieferungen an unter chinesischer Flagge fahrende Seeschiffe die ordnungsgemäße Belieferung nicht nachgewiesen sei, und setzte mit Steuerbescheid die Einfuhrabgaben (Zoll, Tabaksteuer und Branntweinsteuer) gegen die Klägerin fest.
Der hiergegen erhobene Einspruch und die Klage blieben ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) urteilte, dass die Einfuhrabgabenschuld nach Art. 205 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 (Zollkodex --ZK--) des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 302/1) entstanden und die Klägerin nach Art. 205 Abs. 3 Unterabs. 2 ZK Schuldner der Abgaben sei. Die betreffenden im Prüfungsbericht aufgeführten Waren seien im Freizonenlager der Klägerin nicht mehr vorhanden gewesen und damit i.S. des Art. 205 Abs. 1 ZK verschwunden, ohne dass die Klägerin eine zufrieden stellende Erklärung für das Verschwinden der Waren habe geben können. Es habe sich nicht feststellen lassen, dass die Waren als Schiffsbedarf an bezugsberechtigte Schiffsführer geliefert worden seien, denn die entsprechenden Lieferzettel enthielten keine Angaben darüber, welche Person die Waren bezogen habe. Die Annahme, dass die Waren nicht ordnungsgemäß verwendet worden seien, werde bekräftigt durch den Umstand, dass sowohl die Vorabmitteilungen als auch die dritte Ausfertigung des jeweiligen Lieferzettels nicht bei der Zollstelle eingegangen seien. Im Einzelfall könne dies mit einem Versehen oder einem Fehler bei der Übermittlung zu erklären sein; wiederholten sich jedoch wie im Streitfall solche Vorfälle, führe dies zur Überzeugung des Senats zu der Annahme der nicht ordnungsgemäßen Verwendung der Waren.
Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin, welche sich auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und des Verfahrensmangels (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 und 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) stützt.
Entscheidungsgründe
II. 1. Die Beschwerde war nicht bereits wegen Versäumung der für die Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde vorgeschriebenen einmonatigen Frist (§ 116 Abs. 2 Satz 1 FGO) als unzulässig zu verwerfen. Die am 10. Januar 2005, dem letzten Tag der Beschwerdefrist, per Telefax eingegangene Beschwerdeschrift war zwar im Wesentlichen unleserlich und ließ insbesondere den Beschwerdeführer und das angefochtene Urteil (vgl. § 116 Abs. 2 Satz 2 FGO) nicht erkennen, weil zwar das angegebene Aktenzeichen der angefochtenen Entscheidung, jedoch nicht die Bezeichnung des FG und das angegebene Datum der Entscheidung lesbar waren (vgl. zu diesen Erfordernissen Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 116 Rz. 11). Das am 14. Januar 2005 nachgereichte Original der Beschwerdeschrift ist allerdings ohne weiteres lesbar und lässt nichts erkennen, was der Klägerin hätte Anlass zu der Befürchtung geben müssen, dass es bei einer Übermittlung per Telefax in einer weitgehend unleserlichen Form ankommen würde, so dass der Klägerin wegen der Versäumung der Beschwerdefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist (§ 56 Abs. 1, Abs. 2 Satz 4 FGO).
2. Die Beschwerde hat jedoch keinen Erfolg, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe z.T. nicht schlüssig dargelegt sind, wie es § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO erfordert, jedenfalls aber nicht vorliegen.
a) Die von der Beschwerde gerügte Verletzung des Rechts auf Gehör liegt nicht vor. Rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) wird den Beteiligten dadurch gewährt, dass sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem Sachverhalt zu äußern, der einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden soll. Das rechtliche Gehör bezieht sich vor allem auf Tatsachen und Beweisergebnisse; darüber hinaus darf das FG seine Entscheidung auf einen rechtlichen Gesichtspunkt nur stützen, wenn die Beteiligten zuvor Gelegenheit hatten, dazu Stellung zu nehmen (§ 155 FGO i.V.m. § 139 Abs. 2 der Zivilprozessordnung). Deshalb kann eine Verletzung des Rechts auf Gehör vorliegen, wenn das Gericht die Beteiligten nicht auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt hinweist, den es seiner Entscheidung zugrunde legen will. Dies kann z.B. der Fall sein, wenn ein bisher nicht erörterter Gesichtspunkt zur Grundlage der Entscheidung gemacht wird, der dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht hat rechnen müssen (Senatsbeschluss vom 15. Juni 2001 VII B 45/01, BFH/NV 2001, 1580; Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 14. November 2002 XI B 69/02, BFH/NV 2003, 293; vom 1. Juli 2003 III B 94/02, BFH/NV 2003, 1591, jeweils m.w.N.).
Eine solche sog. Überraschungsentscheidung stellt das angefochtene Urteil nicht dar. Es ist weder von der Beschwerde dargelegt noch sonst erkennbar, dass das FG einen nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage der Entscheidung gemacht hat. Es lag im Streitfall auf der Hand, dass es für die Entscheidung darauf ankommen würde, ob die --vom HZA als unzureichend bemängelten-- Angaben in den Lieferzetteln als Nachweis dafür ausreichen würden, dass die streitigen Waren als Schiffsbedarf an bezugsberechtigte Schiffsführer geliefert worden waren. Aufgrund welcher konkreter Tatsachen die Klägerin den Eindruck hatte, dass die entsprechende Würdigung des FG zu ihren Gunsten ausfallen werde, gibt die Beschwerde nicht an und ist auch aus den Sitzungsprotokollen nicht erkennbar. Im Übrigen wird nicht dargelegt, was die Klägerin im finanzgerichtlichen Verfahren noch vorgetragen hätte, wenn sie diesen angeblichen Eindruck einer voraussichtlich für sie günstigen Entscheidung nicht gehabt hätte.
b) Warum --wie es die Beschwerde meint-- ein Verfahrensmangel, auf dem die Entscheidung beruhen kann, darin zu sehen ist, dass eine präsente Zeugin vorzeitig in den Sitzungssaal gebeten wurde, wird nicht näher begründet und erschließt sich auch nicht in sonstiger Weise, zumal es zu einer Zeugenvernehmung nicht gekommen ist.
c) Die seitens der Beschwerde gerügte Verletzung der dem FG obliegenden Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) ist nicht schlüssig dargelegt.
Weder aus der Beschwerdebegründung noch aus dem Protokoll über die mündliche Verhandlung vor dem FG ergeben sich Hinweise, dass die Klägerin Beweisanträge gestellt oder das Übergehen zuvor schriftsätzlich gestellter Beweisanträge gerügt hat. Vielmehr hat sie den Klageantrag gestellt und nach der Erörterung der Sach- und Rechtslage rügelos zur Sache verhandelt.
Die schlüssige Darlegung des Verfahrensmangels einer Verletzung der dem FG von Amts wegen obliegenden Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) erfordert Angaben, welche Tatsachen das FG mit welchen Beweismitteln noch hätte aufklären sollen und weshalb sich dem FG eine Aufklärung unter Berücksichtigung seines --insoweit maßgeblichen-- Rechtsstandpunktes hätte aufdrängen müssen, obwohl der Kläger selbst keinen entsprechenden Beweisantrag gestellt hat; schließlich, welches genaue Ergebnis die Beweiserhebung hätte erwarten lassen und inwiefern dieses zu einer für den Kläger günstigeren Entscheidung hätte führen können (vgl. Senatsurteil vom 5. Oktober 1999 VII R 152/97, BFHE 191, 140, BStBl II 2000, 93).
Diesen Darlegungserfordernissen wird die Beschwerde nicht gerecht.
Auf die Frage, wann welches Schiff mit welchem Fahrtziel den Freihafen verlassen hat, konnte es nach dem Rechtsstandpunkt des FG nicht ankommen, weil sich die nach Ansicht des FG allein maßgebliche Abgabe der streitigen Waren an die jeweiligen Schiffsführer nicht hatte feststellen lassen.
Soweit es die Beschwerde für aufklärungsbedürftig hält, weshalb statt der Vorabmitteilungen nur weiße Seiten per Telefax bei der Zollstelle eingegangen sind und weshalb der Absender hierauf nicht hingewiesen worden ist, fehlt es an Angaben der Beschwerde, welche konkreten Tatsachen mit welchen Beweismitteln insoweit noch hätten aufgeklärt werden müssen, welches Ergebnis die Beweiserhebung hätte erwarten lassen und inwiefern dieses zu einer für die Klägerin günstigeren Entscheidung hätte führen können.
Mit dem Beschwerdevorbringen, dass das HZA der Klägerin eine nur unvollständige Akteneinsicht gewährt habe, wird ein Verfahrensfehler des FG nicht dargelegt.
Soweit die Beschwerde rügt, dass das FG --nach Ansicht der Beschwerde teilweise vorhandene-- Handzeichen bzw. Unterschriften auf den Lieferzetteln unbeachtet gelassen habe, legt sie ebenfalls keinen Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO dar, weil die Grundsätze der Beweiswürdigung dem materiellen Recht zuzuordnen sind (vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz. 82 f.).
Dass wegen der Gestaltung der angebrachten Stempel (ausgefranster Rand) eine Fälschung zu vermuten sei, ist ein tatsächlicher Gesichtspunkt, auf den das FG seine Entscheidung nicht gestützt hat.
d) Hinsichtlich des von der Beschwerde geltend gemachten Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO), fehlen jegliche Ausführungen zur Klärungsbedürftigkeit einer konkreten Rechtsfrage und zu ihrer über den Einzelfall hinausgehenden Bedeutung. Anders als das FG hält die Beschwerde als Nachweis für den Warenempfang den Schiffsstempel auf den Lieferzetteln für ausreichend, womit sie sich jedoch lediglich gegen die Tatsachenwürdigung und die materielle Richtigkeit der Entscheidung des FG wendet, was jedoch nicht zur Zulassung der Revision führen kann, weil damit kein Zulassungsgrund gemäß § 115 Abs. 2 FGO dargetan wird.
Fundstellen
Haufe-Index 1434790 |
BFH/NV 2005, 2026 |