Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen
Leitsatz (NV)
1. Liegen Umstände vor, die zu Zweifeln führen, ob die Rechtsmittelfrist eingehalten worden ist, so beginnt die Wiedereinsetzungsfrist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO spätestens in dem Zeitpunkt, in dem durch Nachfrage Gewißheit über die Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels hätte erlangt werden können.
2. Für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen genügt nicht allein die Kenntnis des Gerichts von Streikmaßnahmen bei der Deutschen Bundespost, die während der versäumten Rechtsmittelfrist zu Verzögerungen der Postlaufzeiten geführt haben. Denn hieraus allein ergibt sich jedenfalls nicht ohne weiteres ein fehlendes Verschulden des Prozeßbevollmächtigten an der Fristversäumung.
Normenkette
FGO § 56 Abs. 1-2
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) begehrte mit ihrer Klage vor dem Finanzgericht (FG) die Herabsetzung von Grunderwerbsteuer. Gegen das ihr ausweislich der Postzustellungsurkunde am 3. April 1992 zugestellte und im wesentlichen klageabweisende Urteil des FG legte die Klägerin mit Schriftsatz vom 27. April 1992 durch ihre Prozeßbevollmächtigten Revision ein. Die durch Einschreiben mit Rückschein übersandte Revisionsschrift ging erst am 6. Mai 1992 beim FG ein. Der Rückschein der Deutschen Bundespost ging den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin am 11. Mai 1992 zu. Auf die Mitteilung der Geschäftsstelle des Senats vom 10. Juni 1992 über den verspäteten Eingang der Revision beantragten die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin mit Schreiben vom 18. Juni 1992 -- eingegangen beim Bundesfinanzhof (BFH) am 23. Juni 1992 -- Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung trugen sie vor, daß die Revisionsschrift am 30. April 1992 per Einschreiben/Rückschein zur Post aufgegeben worden sei. Bei ordnungsgemäßem Postgang innerhalb von Berlin wäre das Einschreiben spätestens fristgerecht am 4. Mai 1992 -- einem Montag -- beim FG eingegangen. In der Zeit vom 28. April bis 8. Mai 1992 habe -- bestätigt durch ein Schreiben der Oberpostdirektion Berlin vom 19. Juni 1992 -- ein arbeitskampfbedingter Streik im zentralen Briefpostamt Berlin stattgefunden, der zu Laufzeitverzögerungen geführt habe. Zur Wahrung des rechtlichen Gehörs wurde die Klägerin mit Verfügung der Vorsitzenden des Senats vom 11. August 1992 darauf hingewiesen, daß der Umstand der verspäteten Einlegung der Revision am 6. Mai 1992 ihren Prozeßbevollmächtigten bereits am 11. Mai 1992 mit Eingang des das Zustellungsdatum der Revision ausweisenden Rückscheins mit der Folge bekanntgeworden sei, daß die Frist des § 56 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) damit zu laufen begonnen habe. Im Antwortschreiben vom 19. August 1992 trugen die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin vor, daß ein Steuerpflichtiger es in der Regel nicht zu vertreten habe, wenn sich die Beförderung eines ordnungsgemäß adressierten Briefes gegenüber der üblichen Laufzeit verzögere. Wer im Vertrauen auf eine von der Post herausgegebene Übersicht wichtiger Brief laufzeiten eine Rechtsmittelschrift so rechtzeitig zur Post gebe, daß sie nach dieser Übersicht noch die erste Briefzustellung des letzten Fristtages am Bestimmungsort erreiche, habe die Rechtsmittelfrist nicht schuldhaft versäumt, wenn das Rechtsmittel wider Erwarten erst nach dem Fristablauf beim Gericht eingehe. Zudem sei der verspätete Eingang der Revision der Klägerin erst mit Gerichtsschreiben vom 10. Juli 1992 mitgeteilt worden, worauf der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand innerhalb der Frist des § 56 Abs. 2 FGO erfolgt sei.
Nach Ansicht des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt -- FA --) ist der Klägerin ein Verschulden an der Versäumung der Revisionsfrist nicht nachzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unzulässig, da sie nicht innerhalb der in § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO vorgesehenen Monatsfrist eingelegt wurde und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 56 FGO) nicht gewährt werden kann.
1. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (§ 56 Abs. 2 Satz 1 FGO). Ist -- wie im vorliegenden Fall -- die versäumte Rechtshandlung innerhalb bzw. vor Ablauf der Antragsfrist nachgeholt worden (§ 56 Abs. 2 Satz 4 FGO), sind nach Wegfall des Hindernisses innerhalb der Frist die Tatsachen zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags vorzutragen (BFH-Beschluß vom 1. Juni 1992 V B 57/92, BFH/NV 1993, 249 m. w. N.), es sei denn, die Tatsachen, aus denen sich das fehlende Verschulden für die Fristversäumnis ergibt, sind gerichtsbekannt bzw. offen- oder aktenkundig (BFH-Urteil vom 24. August 1990 VI R 178/85, BFH/NV 1991, 140; Beschluß vom 24. Februar 1993 VI R 35/92, BFH/NV 1993, 615; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 3. Aufl., § 56 Anm. 58 m. w. N.).
Unter Wegfall des Hindernisses ist der Zeitpunkt zu verstehen, zu dem der Beteiligte bzw. sein Prozeßbevollmächtigter Kenntnis von der Fristversäumung erhalten hat oder bei ordnungsgemäßer Verfolgung der Rechtssache hätte haben können. Liegen also Umstände vor, die zu Zweifeln führen, ob die Rechtsmittelfrist eingehalten worden ist, oder hätten aufgrund solcher Umstände Zweifel kommen müssen, so beginnt die Wiedereinsetzungsfrist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO spätestens in dem Zeitpunkt, in dem durch Nachfrage Gewißheit über die Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels hätte erlangt werden können (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfG -- vom 11. Januar 1991 1 BvR 1435/89, Neue Juristische Wochenschrift -- NJW -- 1992, 38; BFH-Urteil vom 16. Dezember 1988 III R 13/85, BFHE 155, 282, BStBl II 1989, 328 m. w. N.). Da der Beginn der Antragsfrist keine positive Kenntnis von der Fristversäumnis voraussetzt, bedarf es auch grundsätzlich keines ausdrücklichen Hinweises des Gerichts auf den verspäteten Rechtsmitteleingang (BFH in BFHE 155, 282, BStBl II 1989, 328).
Im Streitfall wurde die Frist für die Begründung der Wiedereinsetzung nicht gewahrt. Die Zweiwochenfrist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO begann bereits mit dem Zugang des Rückscheins am 11. Mai 1992 bei den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin. Denn mit der Angabe des Zeitpunkts des Eingangs der Revisionsschrift bei Gericht auf dem Rückschein wurden den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin Umstände bekannt, die Zweifel an der Einhaltung der Revisionsfrist begründen mußten. Die Mitteilung des Gerichts vom 10. Juni 1992 über den verspäteten Eingang der Revisionsschrift ist für den Zeitpunkt des Beginns der Frist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO ohne Bedeutung. Die nach Ablauf der Antragsfrist vorgetragenen Wiedereinsetzungsgründe sind unbeachtlich.
2. Von der fristgemäßen Darlegung der Versäumungsgründe konnte im Streitfall auch nicht im Hinblick auf den Poststreik im Apri/Mai 1992 abgesehen werden.
Zwar bedarf es -- wie dargelegt -- der Angabe von Wiedereinsetzungsgründen ausnahmsweise dann nicht, wenn die Tatsachen, aus denen sich das fehlende Verschulden für die Fristversäumnis ergibt, gerichtsbekannt bzw. offen- oder aktenkundig sind. In diesem Fall kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden.
Indes genügt für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen nicht allein die Kenntnis des Gerichts von Streikmaßnahmen bei der Deutschen Bundespost, die während der Rechtsmittelfrist zu Verzögerungen der Postlaufzeiten geführt haben. Denn hieraus allein ergibt sich jedenfalls nicht ohne weiteres ein fehlendes Verschulden des Prozeßbevollmächtigten der Klägerin an der Fristversäumung.
Zwar hat das BVerfG wiederholt entschieden, daß im Rahmen der verfahrensrecht lichen Vorschriften über die Wiederein setzung in den vorigen Stand dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Bundespost nicht als Verschulden angerechnet werden dürfen. Für die Beförderung von Briefen hat die Deutsche Bundespost das gesetzliche Monopol. Der Bürger kann darauf vertrauen, daß die von dieser nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten auch eingehalten werden. Versagen diese Vorkehrungen, so darf das dem Bürger, der darauf keinen Einfluß hat, im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht als Verschulden zur Last gelegt werden. Differenzierungen danach, ob die Verzögerung auf einer zeitweise besonders starken Beanspruchung der Leistungsfähigkeit der Post, etwa vor Feiertagen, oder auf einer verminderten Dienstleistung der Post, etwa an Wochen enden, beruht, sind unzulässig. Von Verfassungs wegen ist es erforderlich, alle Fälle, in denen sich der Bürger zur Durchsetzung seines Rechts den Diensten der Deutschen Bundespost anvertraut, gleich zu behandeln (BVerfG-Beschluß vom 11. Juni 1993 1 BvR 1240/92, NJW 1994, 244 m. w. N.).
Diese Rechtsprechung des BVerfG geht jedoch davon aus, daß kein zwingender Anlaß für den Rechtsmittelführer bzw. dessen Prozeßbevollmächtigten besteht, an dem grundsätzlich gerechtfertigten Vertrauen, die Deutsche Bundespost werde die von ihr bekanntgegebenen normalen Postlaufzeiten einhalten, infolge besonderer Umstände zu zweifeln. Anders als bei Verzögerungen der Postlaufzeiten, etwa wegen einer vorübergehend besonders starken Beanspruchung des Postdienstes oder wegen auftretender personeller Engpässe, die ein Postbenutzer nicht voraussehen kann, wird die Öffentlichkeit über Störungen des Postverkehrs infolge arbeitskampfbedingter Streikmaßnahmen unverzüglich und umfassend unterrichtet. Die Bürger sind dadurch in die Lage versetzt, sich rechtzeitig auf die streikbedingten Beeinträchtigungen des Postverkehrs einzustellen und ggf. zur Fristwahrung bei Einreichung fristgebundener Schriftsätze besondere Vorkehrungen zu treffen.
Im Streitfall haben bereits zwei Tage bevor die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin die Revisionsschrift am 30. April 1992 zur Post gegeben haben, Streikmaßnahmen in dem zentralen Briefpostamt in Berlin begonnen. Die dem Gericht bekannten Tatsachen reichen daher nicht aus, eine unverschuldete Versäumnis der Revisionsfrist anzunehmen. Denn dem Gericht sind keine Tatsachen bekannt, die ergäben, daß die Klägerin trotz der in der Öffentlichkeit bekannten streikbedingten Verzögerungen bei der Briefzustellung ohne Verschulden die Revisionsschrift erst kurz vor Ablauf der Rechtsmittelfrist auf dem üblichen Postweg einreichen und auf den rechtzeitigen Eingang bei Gericht vertrauen durfte.
Fundstellen