Entscheidungsstichwort (Thema)
Änderung eines Haftungsbescheides nach Ablauf der Festsetzungsfrist
Leitsatz (NV)
Der Rechtsfrage, ob ein Haftungsbescheid auch nach Ablauf der vierjährigen Festsetzungsfrist (§ 191 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 169 Abs. 1 AO 1977) geändert werden kann, kommt grundsätzliche Bedeutung zu.
Normenkette
AO 1977 § 191 Abs. 3 S. 1, § 169 Abs. 1; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) auf Rücknahme eines Haftungsbescheides, mit dem die Klägerin als Geschäftsführerin einer inzwischen aufgelösten GmbH vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt -- FA --) wegen nicht entrichteter Umsatz- und Vermögensteuer sowie wegen eines nicht entrichteten Verspätungszuschlages zur Umsatzsteuer als Haftungsschuldnerin nach den §§ 34 und 69 der Abgabenordnung (AO 1977) in Anspruch genommen worden ist, als unbegründet abgewiesen. Das FG urteilte, ein Anspruch der Klägerin auf Rücknahme des Haftungsbescheides bestehe deshalb nicht, weil der Haftungsbescheid gemäß § 191 Abs. 3 i. V. m. § 169 Abs. 1 AO 1977 nur innerhalb der -- im Streitfall bereits abgelaufenen -- Festsetzungsfrist von vier Jahren hätte geändert werden können.
Mit ihrer Beschwerde gegen das Urteil des FG begehrt die Klägerin die Zulassung der Revision wegen Verfahrensmängeln (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --) und wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde der Klägerin ist begründet. Der Rechtsfrage, ob ein Haftungsbescheid auch nach Ablauf der vierjährigen Festsetzungsfrist (§ 191 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 169 Abs. 1 AO 1977) geändert werden kann, kommt eine grundsätzliche Bedeutung zu, die die Klägerin gemäß § 115 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 auch dargelegt hat.
Zu Recht weist die Klägerin darauf hin, daß die entscheidungserhebliche Rechtsfrage höchstrichterlich noch nicht abschließend geklärt ist und daß im Schrifttum hierzu unterschiedliche Meinungen vertreten werden. Einige Autoren gehen vom reinen Wortlaut der Verweisungsvorschrift des § 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 aus ("Erlaß") und folgern aus ihm, daß Haftungsbescheide auch nach Ablauf der Festsetzungsfrist geändert werden können (Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 191 AO 1977 Rdnr. 97; Kühn/Hofmann, Kommentar zur Abgabenordnung, 17. Aufl., § 191 Anm. 3 d; Tipke/Kruse, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 191 AO 1977 Tz. 25, und Dumke in Schwarz, Kommentar zur Abgabenordnung, § 191 Rdnr. 30). Für eine Ablehnung der Anwendbarkeit von § 169 Abs. 1 AO 1977 i. V. m. § 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 auf die Fälle der Änderung, Aufhebung und Rücknahme könnte der Umstand sprechen, daß Haftungsbescheide Steuerbescheiden nicht gleichgestellt sind und der Erlaß eines Haftungsbescheides im Ermessen der Finanzbehörde steht.
Demgegenüber dehnt die in der Literatur vertretene Gegenmeinung den Anwendungsbereich des § 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 über dessen Wortlaut aus und bezieht die Verweisung auf die Festsetzungsfrist auch auf die Aufhebung und Änderung von Haftungsbescheiden. Danach können Haftungsbescheide nur bis zum Ablauf der Festsetzungsfrist erlassen, aufgehoben oder geändert werden (vgl. Halaczinsky, Die Haftung im Steuerrecht, 2. Aufl., Rdnr. 533, derselbe in Koch/Scholtz, Kommentar zur Abgabenordnung, 5. Aufl., § 191 Rdnr. 20). Hinsichtlich des Widerrufs eines rechtmäßigen Haftungsbescheides gemäß § 131 Abs. 1 AO 1977 weist auch Mösbauer darauf hin, daß Haftungsbescheide unter entsprechender Anwendung des § 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 i. V. m. § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 nur innerhalb der Festsetzungsfrist widerrufen werden könnten. Diese Beschränkung auf die Festsetzungsfrist müsse auch im Hinblick darauf gelten, daß § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 nach § 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 nach dem reinen Gesetzeswortlaut nur "auf den Erlaß von Haftungsbescheiden" entsprechend anwendbar sein sollte (vgl. Mösbauer, Zur Rechtswirksamkeit von Steuerhaftungsbescheiden, Deutsche Steuer-Zeitung 1984, 371, 376).
Im Streitfall hat sich das FG unter Berufung auf die Begründung zum Entwurf der Abgabenordnung zu § 172 AO 1977 der Gegenmeinung angeschlossen und der Klägerin einen Anspruch auf Rücknahme des Haftungsbescheides wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist versagt. Das Urteil beruht damit auf dem zu § 191 Abs. 3 AO 1977 gefundenen Auslegungsergebnis, das im Rahmen der Revision zu überprüfen sein wird.
Da bereits die grundsätzliche Bedeutung der von der Klägerin dargelegten Rechtsfrage die Zulassung der Revision rechtfertigt, ist ein Eingehen auf die von der Klägerin zusätzlich gerügten Verfahrensmängel entbehrlich.
Soweit die Beschwerde der Klägerin die abgewiesene Klage auf Aufhebung des Haftungsbescheides betrifft, ergeht dieser Beschluß nach Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs ohne Begründung.
Fundstellen
Haufe-Index 423687 |
BFH/NV 1997, 92 |