Leitsatz (amtlich)
Ein Körperbehinderter i. S. von § 9 Abs. 2 EStG 1971, der im eigenen PKW arbeitstäglich einmal von einem Dritten zur Arbeitsstätte gefahren und nach Beendigung der Arbeitszeit von dort abgeholt wird, kann auch die Aufwendungen als Werbungskosten geltend machen, die ihm durch die Ab- und Anfahrten des Fahrers - die sogenannten Leerfahrten - entstehen.
Normenkette
LStR 1970 Abschn. 25 Abs. 2 a. E, Abschn. 21 Abs. 11 S. 3; LStDV 1971 § 20 Abs. 3; EStG 1971 § 9 Abs. 2
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist zu 75 v. H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert. Wegen einer Osteomyelitis mit erheblicher Bewegungseinschränkung im linken Hüftgelenk und Teilversteifung des linken Kniegelenks sowie Überlastungsschäden des rechten Knie- und Hüftgelenks könnte der Kläger - der keine Fahrerlaubnis für PKW besitzt - nach Auskunft des Gesundheitsamts eine solche nur dann erwerben, wenn der PKW mit Automatik ausgerüstet und so umgebaut wäre, daß sämtliche Bedienungshebel mit den Armen bedient werden können.
Im Streitjahr 1971 arbeitete der Kläger als Buchdrukker, seine Ehefrau als Krankenschwester (Nachtschwester). Die einfache Entfernung zwischen der Wohnung und der Arbeitsstätte des Klägers beträgt 5 km. Da der Kläger seinen PKW nicht selbst steuern kann, brachte ihn seine Ehefrau morgens mit dem PKW zur Arbeitsstätte und holte ihn abends dort wieder ab.
Bei der Veranlagung zur Einkommensteuer für 1971 erkannte der Beklagte und Revisionskläger (das FA) mit Änderungsbescheid vom 4. Dezember 1972 bei den Einkünften des Klägers insgesamt 803 DM Werbungskosten an; hiervon entfielen 563 DM auf Kosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte (225 x 5 x 0,50 DM).
Nach erfolglosem Einspruch wurden dem Kläger durch das in den Entscheidungen der Finanzgerichte 1975 S. 111 veröffentlichte Urteil des FG die Aufwendungen für die sogenannten "Leerfahrten" der Ehefrau, d. h. für die morgens von der Arbeitsstätte des Ehemannes zurück zur Wohnung und abends in umgekehrter Richtung ausgeführten Fahrten, zusätzlich als Werbungskosten anerkannt. Das FG vertrat die Auffassung, daß jeder Arbeitnehmer, der im eigenen Kraftfahrzeug (Kfz) von seiner Wohnung zur Arbeitsstätte und zurück fahre, an sich nur die in § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG genannten Pauschbeträge als Werbungskosten geltend machen dürfe (d. h. 0,36 DM für jeden km, den die Wohnung von der Arbeitsstätte entfernt liege). Dagegen dürften gemäß § 9 Abs. 2 Nr. 1 EStG Körperbehinderte, deren Erwerbsfähigkeit - wie die des Klägers - mindestens um 70 v. H. gemindert sei, auf Antrag "die tatsächlichen Aufwendungen" vom Arbeitslohn absetzen. Das FA habe diesem Umstand zwar insofern Rechnung getragen, als es für jeden Doppelkilometer nicht den vorgenannten Pauschsatz von 0,36 DM, sondern entsprechend Abschn. 25 Abs. 2 a. E. i. V. m. Abschn. 21 Abs. 11 Satz 3 LStR 1970 den erhöhten Pauschsatz von 0,50 DM berücksichtigt habe. Damit sei jedoch nicht dem Gesetz entsprochen worden, das - wie vorstehend erwähnt - den Körperbehinderten die Berücksichtigung der vollen Fahrtaufwendungen als Werbungskosten zubillige. Hierzu gehörten, da der Kläger von seiner Ehefrau jeweils morgens zur Arbeitsstätte gebracht und abends wieder von dieser abgeholt werde, zwangsläufig auch die Kosten für die sogenannten "Leerfahrten", d. h. die Aufwendungen für die jeweiligen Hin- oder Rückfahrten der Ehefrau ohne Begleitung ihres Ehemannes.
Mit seiner vom FG nach § 115 Abs. 1 Nr. 1 FGO zugelassenen Revision greift das FA die Vorentscheidung mit der Begründung an, daß die Vorschrift des § 9 Abs. 2 EStG den § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG nicht seinem Wesensinhalt nach - nämlich der Anerkennung der Kosten für arbeitstäglich nur eine Hin- und Rückfahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte - verändere. Die Vorschrift lasse für Körperbehinderte vielmehr lediglich zu, daß diese Steuerpflichtigen für Fahrten dieser Art und Anzahl statt der genannten Pauschbeträge ihre tatsächlichen Aufwendungen - wie hier unstreitig vom FA zugelassen - steuerlich berücksichtigen dürften. Das bedeute jedoch nicht, daß ihnen die Aufwendungen für weitere Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte als Werbungskosten zugestanden werden dürften, wie es das FG hier getan habe.
Das FA beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage als unbegründet abzuweisen.
Der Kläger beantragt sinngemäß, die Revision als unbegründet zurückzuweisen, und zwar aus folgenden Gründen:
Das FA werde in seiner Beurteilung dem Sinn der Vorschriften des § 9 Abs. 1 Nr. 4 und § 9 Abs. 2 EStG nicht gerecht, wenn es den Sachverhalt als zwei getrennte Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstelle deute. Es sei vielmehr nur eine Fahrt gegeben, da nach dem Sachverhalt nichtberufliche Gründe ausschieden, die den sogenannten "zweiten" Fahrten den Charakter einer eigenen Fahrt gäben. Durch die Zwangsläufigkeit, die nicht bestritten werde, gehörten die Hin- und Rückfahrten jeweils untrennbar als Einheit zusammen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Nach § 9 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG 1971 kann jeder Arbeitnehmer, der mit einem eigenen PKW zur Arbeitsstätte fährt, für jeden Arbeitstag, an dem das Kfz benutzt wird, einen Pauschbetrag von 0,36 DM für jeden Kilometer, den die Wohnung von der Arbeitsstätte entfernt liegt, als Werbungskosten bei seinen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend machen. Dabei ist es gleichgültig, ob der Arbeitnehmer die Strecke einmal oder mehrmals am Tage - z. B. zur Einnahme des Mittagessens - zurücklegt. Denn die Kilometerpauschbeträge dürfen nur einmal je Arbeitstag angesetzt werden (so schon die Urteile des BFH vom 7. Dezember 1962 VI 98/61 S, BFHE 76, 363, BStBl III 1963, 134, und vom 13. Dezember 1962 IV 10/61 S, BFHE 76, 255, BStBl III 1963, 91).
Von dieser Beschränkung der Abzugsmöglichkeit auf bestimmte Pauschbeträge sind jedoch nach § 9 Abs. 2 Nr. 1 EStG 1971 Körperbehinderte ausgenommen, deren Minderung der Erwerbsfähigkeit - wie beim Kläger - mindestens 70 v. H. beträgt. Körperbehinderte dieses Grades dürfen danach - abweichend von dem vorerwähnten § 9 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG 1971 - für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte auf Antrag "die tatsächlichen Aufwendungen" abziehen. Der Senat vermag dem FA angesichts dieser eindeutigen Gesetzesfassung nicht darin zu folgen, daß von der Abziehbarkeit der tatsächlichen Aufwendungen eines Körperbehinderten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte die "Leerfahrten" ausgenommen seien, die dadurch entstehen, daß der Steuerpflichtige sein Kfz nicht selbst steuert, sondern sich durch einen anderen (hier: die Ehefrau) zur Arbeitsstelle fahren und dort jeweils nach Beendigung der Arbeitszeit abholen läßt. Der Sachverhalt liegt hier anders als in den Fällen der - zusätzlichen - mittäglichen Heimfahrten, deren Kosten der Senat auch bei Körperbehinderten in ständiger Rechtsprechung nicht als Werbungskosten anerkannt hat (so zuletzt Beschluß vom 2. April 1976 VI B 85/75, BFHE 118, 465, BStBl II 1976, 452, mit Hinweisen auf die einschlägigen Urteile vom 10. April 1970 VI R 250/68, BFHE 99, 359, BStBl II 1970, 680, und vom 4. Juli 1975 VI R 30/73, BFHE 116, 356, BStBl II 1975, 738). Denn im Gegensatz zu diesen Fällen sind hier keine Zweitfahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte gegeben. Vielmehr ist der Kläger arbeitstäglich jeweils nur einmal zur Arbeitsstätte gefahren und von dort nach Beendigung der Arbeitszeit - auch wiederum nur einmal - zurückgefahren. Um dieses Ziel zu erreichen, war es jedoch notwendig, daß die Ehefrau den Kläger morgens mit dem PKW zur Arbeitsstätte brachte und abends von dort wieder abholte. Die dadurch zwangsläufig entstehenden Ab- und Anfahrten der Fahrerin ohne Begleitung ihres Ehemannes gehören damit zu den tatsächlichen Aufwendungen i. S. des § 9 Abs. 2 EStG.
Diese Gesetzesauslegung widerspricht nicht Abschn. 25 Abs. 2 a. E. LStR 1970. Denn dieser Teil der Richtlinien befaßt sich nicht mit dem vorliegenden Problem. Im übrigen weist das FA in seiner Revisionsbegründung selbst ausdrücklich darauf hin, daß die hier für zutreffend erachtete Rechtsauslegung schon seit langem auf Blinde angewandt wird, die von einem Dritten (z. B. der Ehefrau) mit dem eigenen Kfz zur Arbeitsstätte gebracht und von dort abgeholt werden. Der Senat hat keine Bedenken, diese Rechtsgrundsätze auch auf einen schwer gehbehinderten Arbeitnehmer, wie den Kläger, anzuwenden, zumal die gesamte Entwicklungsgeschichte der Vorschrift des § 9 Abs. 2 EStG 1971 hierfür spricht. Denn der hier in seiner Auslegung streitige Absatz 2 des § 9 EStG ist erstmals durch Art. 1 des Steueränderungsgesetzes 1966 vom 23. Dezember 1966 (BGBl I 1966, 702, BStBl I 1967, 2) in das Einkommensteuergesetz eingefügt worden. Diese Regelung stand im Zusammenhang mit der gleichzeitig vom Gesetzgeber beschlossenen Herabsetzung der Pauschbeträge je Kilometer Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte von 0,50 DM auf 0,36 DM für Fahrten von Arbeitnehmern zur Arbeitsstätte im eigenen Kfz. Dadurch war kein uneingeschränkter Aufwendungsersatz für derartige Fahrten mehr gewährleistet. Der Gesetzgeber wollte jedoch die Körperbehinderten nicht schlechter stellen, als das die bis dahin geltenden Lohnsteuer-Richtlinien in Abschn. 25 Abs. 2 (so zuerst Lohnsteuer-Richtlinien 1955, BStBl I 1955, 489) getan hatten, die trotz bereits bestehender Pauschbeträge (erstmals durch § 20 Abs. 2 Nr. 2 der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung 1955, BStBl I 1955, 462) den Schwerbeschädigten die Geltendmachung der "tatsächlichen Aufwendungen" für diese Fahrten zugestanden hatten. Die amtliche Begründung zu dem Steueränderungsgesetz 1966 (vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache vom 2. November 1966 V/1068, S. 25) hebt demzufolge hervor, daß hinsichtlich der Körperbehinderten die vorstehend erörterte Ausnahme geboten war, "um wegen der Art der Behinderung dieser Personen der Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit Rechnung zu tragen". Dem dadurch zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers ist der Senat bei seiner Entscheidung gefolgt.
Gegen die vom Kläger beantragten und vom FG als Werbungskosten anerkannten, tatsächlichen Aufwendungen für die "Leerfahrten" sind der Höhe nach keine Einwendungen vom FA erhoben worden. Es bestehen in dieser Hinsicht auch deshalb keine Bedenken, weil diese Aufwendungen sich im Rahmen der Pauschsätze nach Abschn. 25 Abs. 2 a. E. i. V. m. Abschn. 21 Abs. 11 Satz 3 LStR 1970 halten.
Fundstellen
Haufe-Index 72690 |
BStBl II 1978, 260 |
BFHE 1978, 61 |
NJW 1978, 855 |