Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung der Mitwirkungspflicht bei Erlass eines Bescheides; Entschädigungszusatzleistungen
Leitsatz (NV)
- Eindeutigen Steuererklärungen braucht das FA nicht mit Misstrauen zu begegnen; es kann regelmäßig von deren Richtigkeit und Vollständigkeit ausgehen.
- Aus sozialer Fürsorge in späteren Veranlagungszeiträumen erbrachte Leistungen sind für die Steuerbegünstigung der Entlassungsentschädigung schädlich, wenn sie diese nicht als Zusatz ergänzen, sondern insgesamt betragsmäßig fast erreichen.
Normenkette
AO 1977 § 173; EStG §§ 24, 34
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.
Der Kläger war im Streitjahr bis zum 30. Juni 1993 als Sicherheitsingenieur bei der Fa. A-AG nichtselbständig tätig. Im Zuge der Entlassung erhielt der Kläger eine Abfindung von brutto 88 715 DM. Außerdem verpflichtete sich der Arbeitgeber, dem Kläger bis 31. Juli 1996 gestaffelte Zuzahlungen zum Arbeitslosengeld zu leisten.
Vom 1. Juli 1993 an bezog der Kläger Arbeitslosengeld. In der Anlage N zu seiner Einkommensteuererklärung erklärte er einen Bruttoarbeitslohn von 65 852 DM, "andere Lohnersatzleistungen" in Höhe von 17 948 DM und ermäßigt zu besteuernde Entschädigungen in Höhe von 52 715 DM. In Zeile acht bezeichnete er als Grund für die Nichtbeschäftigung "Arbeitgeberseitig veranlasste Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.6.1993". In einer Erläuterung führte er weiter aus: "A zahlte mir wegen Arbeitsplatzverlusts und entgehender Einnahmen eine Abfindung von 88.715 DM. … Entsprechend Steuervorschriften bleiben davon 36.000 DM steuerfrei. Für die restlichen 52.715 DM beantrage ich gemäß § 34 Abs. 1 EStG den halben Steuersatz." Der Abfindungsvertrag war der Steuererklärung nicht beigefügt.
Die Kläger wurden erklärungsgemäß veranlagt. Eine Lohnsteuer-Außenprüfung kam zu dem Ergebnis, dass die Entschädigung nicht steuerbegünstigt sei, da in späteren Jahren weitere Zuschüsse geleistet worden seien. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ―FA―) änderte daraufhin den Bescheid mit Datum vom 23. November 1998 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) und unterwarf die Abfindung dem regulären Steuersatz. Der Einspruch hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Das FA habe den Bescheid nicht ändern dürfen, da es bei der ursprünglichen Veranlagung seine Sachaufklärungspflicht verletzt habe; die Entscheidung des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2002, 3, veröffentlicht. Gerade bei Entlassungsentschädigungen treffe das FA eine besondere Aufmerksamkeit und Sorgfalt. Es dürfe nicht, wie bei einem "normalen Steuerfall", davon ausgehen, dass die Angaben des Steuerpflichtigen vollständig und richtig seien.
Mit der Revision macht das FA geltend:
Das FA sei zur Änderung des Bescheides berechtigt gewesen; es habe seine Ermittlungspflicht nicht verletzt. Der von dem Kläger dargestellte Sachverhalt sei erschöpfend und zutreffend dargestellt erschienen.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Das FG habe zutreffend festgestellt, dass das FA seine Ermittlungspflicht verletzt habe. Die Kläger ihrerseits hätten ihre Mitwirkungspflichten erfüllt. In einer Verfügung der Oberfinanzdirektion Düsseldorf vom 20. Dezember 1996 werde detailliert beschrieben, welche Unterlagen im Fall einer Abfindungsleistung anzufordern seien. Der Arbeitsvertrag, maßgebliche Versorgungsvereinbarungen sowie das Kündigungsschreiben bzw. der Aufhebungsvertrag seien in jedem Fall anzufordern.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet; sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Zwar war das FA berechtigt, den ursprünglichen Steuerbescheid zu ändern; jedoch kann der Senat auf der Grundlage der vom FG getroffenen Feststellungen nicht entscheiden, ob die Voraussetzungen der §§ 24, 34 des Einkommensteuergesetzes (EStG) gegeben sind.
1. Gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 können Steuerbescheide geändert werden, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Die Änderung eines Bescheides ist nach Treu und Glauben ausgeschlossen, wenn dem FA die nachträglich bekannt gewordene Tatsache bei ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Ermittlungspflicht nicht verborgen geblieben wäre. Allerdings muss der Steuerpflichtige dann seinerseits seine Mitwirkungspflicht erfüllt haben. Haben sowohl der Steuerpflichtige als auch das FA es versäumt, den Sachverhalt aufzuklären, trifft in der Regel den Steuerpflichtigen die Verantwortung, mit der Folge, dass der Steuerbescheid geändert werden kann.
Eindeutigen Steuererklärungen braucht das FA nicht mit Misstrauen zu begegnen; es kann regelmäßig von deren Richtigkeit und Vollständigkeit ausgehen. Nur wenn sich Unklarheiten oder Zweifelsfragen in Bezug auf den verwirklichten Sachverhalt aufdrängen, ist das FA zum Tun verpflichtet. (Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 24. Januar 2002 XI R 2/01, BFHE 197, 526, BFH/NV 2002, 715).
Im Streitfall enthielten die Angaben des Klägers keinen Hinweis auf weitere Zahlungen wegen des Arbeitsplatzverlustes; die Angaben erschienen plausibel und vollständig. Das FA war daher nicht gehalten, von sich aus weitere Ermittlungen anzustellen.
2. Bei einer Entschädigungszahlung, die sich auf zwei oder mehr Veranlagungszeiträume verteilt, ist eine Zusammenballung nicht gegeben; eine Anwendung des § 34 EStG kommt grundsätzlich nicht in Betracht. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz hält der Senat ―wie in dem Urteil vom 14. August 2001 XI R 22/00 (BFHE 196, 500, BStBl II 2002, 180, vgl. auch Urteil vom 24. Januar 2002 XI R 43/99, BFHE 197, 522, BFH/NV 2002, 717) ausgeführt― in solchen Fällen für geboten, in denen ―neben der Hauptentschädigungsleistung― in einem späteren Veranlagungszeitraum aus Gründen der sozialen Fürsorge für eine gewisse Übergangszeit ergänzende Zusatzleistungen gewährt werden. Das sind beispielsweise solche Leistungen, die der (frühere) Arbeitgeber dem Steuerpflichtigen zur Erleichterung des Arbeitsplatz- oder Berufswechsels oder als Anpassung an eine dauerhafte Berufsaufgabe oder Arbeitslosigkeit erbringt.
Aus sozialer Fürsorge in späteren Veranlagungszeiträumen erbrachte Leistungen sind für die Steuerbegünstigung der Entlassungsentschädigung schädlich, wenn sie diese nicht als Zusatz ergänzen, sondern insgesamt betragsmäßig fast erreichen (BFH-Urteil in BFHE 197, 526, BFH/NV 2002, 715).
Im Streitfall ist unklar, welche Zahlungen im Einzelnen der Kläger von seinem früheren Arbeitgeber in den Folgejahren ab 1994 noch erhalten hat und ob es sich bei diesen Zahlungen um ergänzende Zusatzleistungen handelt. Die entsprechenden Feststellungen wird das FG nachzuholen haben.
Fundstellen
Haufe-Index 867190 |
BFH/NV 2003, 19 |
DStRE 2002, 1449 |