Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Nichtigkeit eines Kapitalertragsteuerbescheides
Leitsatz (NV)
1. Eine Fehlerhäufung allein macht einen Bescheid noch nicht nichtig.
2. Ein Bescheid, in dem das Finanzamt Kapitalertragsteuer gegenüber dem Schuldner der Kapitalerträge festsetzt, ist nicht nichtig.
3. Eine Steuerschuld ist nicht allein des wegen aus sachlichen Gründen zu erlassen, weil ein bestandskräftig gewordener Steuerbescheid aus mehreren Gründen rechtswidrig ist. Dasselbe gilt, wenn die Steuer wegen Verjährung nicht mehr hätte festgesetzt werden dürfen.
Normenkette
AO 1977 § 125 Abs. 1, § 227
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches FG |
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist Rechtsnachfolgerin der A-GmbH, die in den Streitjahren 1979 bis 1986 unter der Firma D-GmbH firmierte. Die D- GmbH war zu 100 % Tochtergesellschaft der Firma B, USA.
Aufgrund von Prüfungsanordnungen, in denen zwar u. a. die Körperschaftsteuer 1979 bis 1986, nicht aber die Kapitalertragsteuer als Prüfungsgegenstand bezeichnet war, fand bei der D-GmbH im Jahr 1988 eine Außenprüfung statt. Der Prüfer stellte für den gesamten Prüfungszeitraum verdeckte Gewinnausschüttungen fest. Er wies im Betriebsprüfungsbericht auf die Kapitalertragsteuerpflicht der verdeckten Gewinnausschüttungen und die Pflicht zur Abgabe entsprechender Kapitalertragsteueranmeldungen hin. Da die D-GmbH trotz dieses Hinweises in der Folgezeit keine Kapital ertragsteuer für 1979 bis 1986 anmeldete, erließ das seinerzeit zuständige Finanzamt am 14. September 1990 folgenden Bescheid:
"Firma D-GmbH
...
Betreff:
Kapitalertragsteuerbescheid 9/1990
Die Kapitalertragsteuer wird entsprechend den Feststellungen der Außenprüfung für die verdeckten Gewinnausschüttungen 1979 bis 1986 auf DM ... festgesetzt.
Ich bitte Sie, diesen Betrag bis spätestens ... zu entrichten.
Rechtsbehelfsbelehrung
Sie können gegen die Steuerfestsetzung Einspruch einlegen. ... Auch wenn Sie einen Rechtsbehelf einlegen, müssen Sie die festgestzten Beträge fristgemäß zahlen ... "
Die D-GmbH legte gegen diesen Bescheid keinen Einspruch ein. Die Kapitalertragsteuer wurde bezahlt.
Nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist beantragte die D-GmbH, die Kapitalertragsteuer für 1979 bis 1982 zu erstatten. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) lehnte dies ab. Die Beschwerde blieb erfolglos.
Die Klage, mit der zunächst nur der Erlaß der Kapitalertragsteuer 1979 bis 1982, im späteren Verlauf aber auch die Feststellung der Nichtigkeit des Kapitalertragsteuerbescheides und hilfsweise der Erlaß der Kapitalertragsteuer 1979 bis 1986 begehrt wurde, hatte ebenfalls keinen Erfolg.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin Verletzung der §§ 125, 227, 5 der Abgabenordnung (AO 1977) und beantragt, das Urteil des Finanzgerichts (FG) vom 16. März 1994 aufzuheben und die Nichtigkeit des Kapitalertragsteuerbescheides 9/1990 vom 14. September 1990 festzustellen, hilf weise, unter Aufhebung des Bescheides des Finanzamts vom 22. Januar 1991 und der Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion (OFD) vom 23. Dezember 1992 die Verpflichtung zum Erlaß der Kapitalertragsteuer für 1979 bis 1982 auszusprechen, hilfsweise, die Sache dem FA zur erneuten Ermessensentscheidung zurückzugeben.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist als unbegründet zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Der Bescheid vom 14. September 1990 ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig. Die Ablehnung eines Erlasses hält sich im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung.
1. Gemäß § 125 Abs. 1 AO 1977 ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist.
a) Fehlerhäufung alleine macht einen Verwaltungsakt nicht nichtig (vgl. z. B. zur Häufung von Schätzungsfehlern Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 1. Oktober 1992 IV R 34/90, BFHE 169, 503, BStBl II 1993, 259). Wie dem Wortlaut des § 125 Abs. 1 AO 1977 zu entnehmen ist, genügt zur Annahme eines nichtigen Verwaltungsakts nicht das Vorliegen eines schwerwiegenden Fehlers. Dieser muß zugleich im Sinne der sog. Evidenztheorie offenkundig sein. Dies gilt auch bei Fehlerhäufung.
b) Ein Verwaltungsakt leidet an einem schwerwiegenden und offensichtlichen Mangel, wenn er nicht erkennen läßt, an wen er sich richtet und was er vom Adressaten fordert (vgl. z. B. Beschluß des Großen Senats vom 21. Oktober 1985 GrS 4/84, BFHE 145, 110, BStBl II 1986, 230 m. w. N.; BFH-Urteil vom 22. November 1988 VII R 173/85, BFHE 155, 24, BStBl II 1989, 220 m. w. N.). Die Offenkundigkeit des Fehlers folgt aus der Unbestimmtheit des Verwaltungsakts. Der Bescheid vom 14. September 1990 enthält solche Mängel nicht.
aa) Aus dem Bescheid vom 14. September 1990 läßt sich eindeutig die D-GmbH als Bescheidsadressat entnehmen. Er richtet sich in seinem Anschriftenfeld ausdrücklich und eindeutig an die D-GmbH. Die spätere Erkenntnis der Finanzbehörden, daß sie einen Kapitalertragsteuernachforderungsbescheid an die Muttergsellschaft hätten richten müssen, hat auf den offenkundigen Inhalt des Bescheides keinen Einfluß. Ist der Bescheidsadressat eindeutig bestimmt, so ist ein Bescheid nicht allein deswegen nichtig, weil er sich anstelle der Muttergesellschaft an die Tochter gesellschaft richtet.
bb) Unwirksam kann ferner ein Bescheid sein, der nicht erkennen läßt, ob der Adressat als Schuldner oder als Haftender in Anspruch genommen wird (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 15. März 1985 VI R 30/81, BFHE 143, 226, BStBl II 1985, 581). Derartige Zweifel läßt der Verwaltungsakt vom 14. September 1990 nicht entstehen. Aus den Formulierungen "Betr.: Kapitalertragsteuerbescheid 9/1990", "Die Kapitalertragsteuer wird ... auf ... festgesetzt", "Sie können gegen die Steuerfestsetzung Einspruch einlegen," folgt eindeutig, daß die Finanzbehörde Kapitalertragsteuer festsetzte. Der Bescheid enthält keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß seinerzeit die Finanzverwaltung etwas anderes gewollt haben könnte. Die Tatsache, daß gegenüber der D-GmbH richtigerweise ein Haftungsbescheid gemäß § 44 Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) hätte ergehen müssen, berührt die Rechtmäßigkeit, nicht aber die Bestimmtheit des erlassenen Bescheides. Auch bestehen keine Zweifel, daß sich der Bescheid nicht an die Klägerin als bloße Bekanntgabeempfängerin für ihre Muttergesellschaft richtete. Dies läßt sich eindeutig aus der Aufforderung: "Ich bitte Sie diesen Betrag bis ... zu zahlen" entnehmen. Der Sachverhalt ist mit der im BFH-Urteil vom 17. Juli 1986 V R 96/85 (BFHE 147, 211, BStBl II 1986, 834) nicht vergleichbar.
c) Ein nichtiger Bescheid i. S. des § 125 Abs. 1 AO 1977 kann nach Auffassung des Senats auch vorliegen, wenn das FA einen Bescheid erläßt, den es offenkundig seiner Art oder seinem Inhalt nach nicht geben kann. Kapitalertragsteuerbescheide sind aber in Form von Nachforderungsbescheiden gegenüber dem Gläubiger der Kapitalerträge (vgl. § 44 Abs. 5 Satz 2 EStG) und zum Zweck einer von der Kapitalertragsteueranmeldung (vgl. § 168 AO 1977) abweichenden Festsetzung auch gegenüber dem Schuldner der Kapitalerträge rechtlich zulässig und damit möglich. Der Bescheid ist nicht schon allein deswegen nichtig, weil die gesetzliche Grundlage für den Erlaß eines Erstbescheides in Sachen Kapitalertragsteuer gegenüber der D-GmbH fehlte (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 1. Oktober 1981 IV B 13/81, BFHE 134, 223, BStBl II 1982, 133).
d) Die Ausführungen der Klägerin im übrigen, insbesondere zu fehlenden Ausführungen des Auswahlermessens, vermögen ggf. die Rechtswidrigkeit, nicht aber die Nichtigkeit eines Haftungsbescheides zu begründen. Ferner besteht weder ein offenkundiges Verwertungsverbot der Betriebsprüfungsfeststellungen noch ist offenkundig, daß die Kapitalertragsteuer für 1979 bis 1982 am 14. September 1990 verjährt war (vgl. z. B. § 169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977). Es verbleibt damit bei dem Grundsatz, daß ein Akt staatlicher Gewalt die Vermutung der Gültigkeit für sich hat (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Januar 1989 1 BvR 1453/88, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Abgabenordnung, § 125, Rechtsspruch 23).
2. Gemäß § 227 Abs. 1 AO 1977 können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen werden, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden. Da die Entscheidung hierüber eine Ermessensentscheidung ist (vgl. Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603), können die Gerichte nur prüfen, ob die Ablehnung des Erlasses die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschreitet oder ob die Finanzbehörde von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 102 FGO). Wenn die OFD im Streitfall den Erlaß der Kapitalertragsteuer aus sachlichen Gründen mit der Begründung ablehnt, daß die Rechtswidrigkeit des Bescheides alleine keinen Erlaß rechtfertige und der D-GmbH die Anfechtung des Bescheides möglich und zumutbar gewesen sei, so entsprechen diese Ermessenserwägungen höchstrichterlicher Rechtsprechung.
Eine sachliche Unbilligkeit liegt vor, wenn die Besteuerung eines Sachverhalts, der unter einen gesetzlichen Besteuerungstatbestand fällt, im Einzelfall mit dem Sinn und Zweck des Gesetzes nicht vereinbar ist (vgl. z. B. BFH-Urteile vom 29. August 1991 V R 78/86, BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906 m. w. N.; vom 21. Januar 1992 VIII R 51/88, BFHE 168, 500, BStBl II 1993, 3). Unter denselben Voraussetzungen kann die Entrichtung einer festgesetzten Steuer sachlich unbillig sein. Liegt ein bestandskräftiger Steuerbescheid vor, der rechtswidrig ist, so entspricht es im allgemeinen den Wertungen des Gesetzes, daß die festgesetzte Steuer zu bezahlen ist. Die Einziehung bestandskräftig festgesetzter Steuern kann aber sachlich unbillig sein, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig rechtswidrig ist und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit des Bescheides zu wehren (vgl. z. B. BFH-Urteile in BFHE 168, 500, BStBl II 1993, 3; vom 31. Oktober 1990 I R 3/86, BFHE 163, 478, BStBl II 1991, 610). Offensichtlichkeit und Eindeutigkeit des Fehlers genügen allein für einen Erlaß nicht (vgl. BFH-Urteil vom 30. April 1981 VI R 169/78, BFHE 133, 255, BStBl II 1981, 611 m. w. N.). Die Behauptung der Klägerin, die Finanzbehörden und das FG hätten zu Unrecht nicht sämtliche Rechtsmängel im Rahmen der Ermessensentscheidung berücksichtigt, vermag daher einen Ermessensfehlgebrauch so lange nicht zu begründen, als die Zumutbarkeit der Anfechtung feststeht. Für eine Steuer, die nach Ablauf der Festsetzungsfrist unter Verstoß gegen § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 festgesetzt wird, gilt nichts besonderes. Die Festsetzung einer verjährten Steuer unterscheidet sich inhaltlich nicht von einer zu hoch festgesetzten.
Im Streitfall tritt die Besonderheit hinzu, daß der Bescheid vom 14. September 1990 zwar eine Reihe formeller und materieller Mängel aufweist, die festgestzte Steuerschuld aber -- unstreitig -- materiell genau dem entspricht, was die Klägerin bei pflichtgemäßer und fristgerechter Anmeldung und Abführung der Kapitalertragsteuer (§ 45 Abs. 1 EStG) aufgrund eines -- unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden -- Steuerbescheides (§ 168 AO 1977) hätte zahlen müssen. Unter diesen Umständen läuft die Entrichtung der Kapitalertragsteuer nicht den Wertungen des Gesetzes zuwider.
Da die Ablehnung des Erlasses im Streitfall keinen Ermessensfehlgebrauch darstellt, kann die Frage, ob eine Erstattung auf die nicht vom Bundesamt der Finanzen dem Gläubiger der Kapitalerträge erstatteten Beträge (§ 50 d Abs. 1 Satz 2 EStG, Art. VI des Doppelbesteuerungsabkommens USA 1954/65) beschränkt bleiben müßte, offenbleiben.
Die Voraussetzungen für einen Erlaß aus persönlichen Gründen liegen unstreitig nicht vor.
Fundstellen
Haufe-Index 420636 |
BFH/NV 1995, 1036 |