Entscheidungsstichwort (Thema)
Grunderwerbsteuer/Kfz-Steuer/sonstige Verkehrsteuern
Leitsatz (amtlich)
Auch auf den Erwerb eines mit einem alten baufälligen Fachwerkhaus bebauten Grundstücks kann die Befreiungsvorschrift des § 1 Ziff. 1 des nordrhein-westfälischen Gesetzes über Grunderwerbsteuerbefreiung für den Wohnungsbau vom 4. März 1952 angewendet werden, wenn das Gebäude zwecks Bebauung des Grundstücks alsbald abgerissen werden soll. Der Senat hält an der durch Urteil II 60/55 U vom 24. August 1955 (BStBl 1955 III S. 282, Slg. Bd. 61 S. 219) vertretenen Auffassung unverändert fest.
Normenkette
GrESWGBY 1/1
Tatbestand
Der Bf. kaufte durch notariell beurkundeten Vertrag vom 12. Juli 1956 ein Grundstück; der Kaufpreis betrug 18.000 DM. Der Bf. ließ das auf dem Grundstück stehende Gebäude abreißen und einen Neubau errichten. Er legte eine Bescheinigung des zuständigen Bauordnungsamtes vom 19. November 1956 vor, wonach das alte Fachwerkhaus sehr stark baufällig und nach den polizeilichen Bestimmungen nicht mehr zum Wohnen und Schlafen von Menschen geeignet war; im Zuge der Bauarbeiten habe sich ergeben, daß auch die letzten Bauteile aus Sicherheitsgründen entfernt werden mußten.
Streitig ist, ob die Steuerbefreiung des § 1 Ziff. 1 oder 3 des nordrhein-westfälischen Gesetzes über Grunderwerbsteuerbefreiung für den Wohnungsbau vom 4. März 1952 (GVBl für Nordrhein-Westfalen 1952 S. 33, BStBl 1952 II S. 46) anwendbar ist oder nicht. Nach dieser Vorschrift ist der Erwerb von Grundstücken zur Errichtung von Gebäuden mit grundsteuerbegünstigten Wohnungen unter gewissen Voraussetzungen von der Besteuerung nach dem GrEStG ausgenommen. Danach muß u. a. das erworbene Grundstück entweder unbebaut oder mit zerstörten Gebäuden bebaut sein (Ziff. 1), oder es muß sich um ein Grundstück mit einem Gebäude handeln, das im Zeitpunkt des Erwerbs zu mehr als 50 v. H. beschädigt ist (Ziff. 3).
Das Finanzamt hat die Anwendbarkeit der bezeichneten Steuerbefreiungsvorschriften verneint und den Bf. zur Grunderwerbsteuer herangezogen.
Einspruch und Berufung wurden als unbegründet zurückgewiesen.
Entscheidungsgründe
Die Rb. führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht.
Dem Finanzgericht ist darin zuzustimmen, daß - entsprechend dem Sprachgebrauch - ein Gebäude nur dann als "beschädigt" im Sinn des § 1 Ziff. 3 a. a. O. angesehen werden kann, wenn es infolge einer außergewöhnlichen Einwirkung - etwa durch Fliegerangriff oder durch Brand - einen Substanzverlust erlitten hat. Eine Einbuße, die durch natürlichen Verschleiß entsteht, ist keine Beschädigung, auch wenn die Einbuße darauf zurückzuführen ist, daß Instandsetzungen schuldhaft unterlassen wurden. Außerdem kann aus der Vorschrift des § 1 Ziff. 3 a. a. O. auch deshalb nicht gefolgert werden, daß im Streitfall eine Steuerbefreiung zulässig ist, weil das baufällige Gebäude abgerissen, also nicht wiederhergestellt wurde. Die bezeichnete Vorschrift betrifft aber Fälle, in denen beschädigte Gebäude wiederhergestellt, also instand gesetzt werden.
Anwendbar ist jedoch unter Umständen die Befreiungsvorschrift des § 1 Ziff. 1 a. a. O. Allerdings trifft diese Vorschrift nicht unmittelbar zu, weil das erworbene Grundstück im Zeitpunkt des Erwerbsvorgangs nicht unbebaut war. Auch war in diesem Zeitpunkt kein zerstörtes Gebäude auf dem Grundstück vorhanden. Es handelt sich aber im Streitfall um einen Erwerbsvorgang, der nach Sinn und Zweck der Vorschrift des § 1 Ziff. 1 a. a. O. gleichfalls als befreit gelten muß.
Bereits durch Urteil II 60/55 U vom 24. August 1955 (BStBl 1955 III S. 282, Slg. Bd. 61 S. 219) hat der Senat die Vorschrift des § 1 Ziff. 1 des niedersächsischen Gesetzes über die Befreiung des sozialen Wohnungsbaus von der Grunderwerbsteuer vom 2. Juli 1952 (GVBl für Niedersachsen 1952 S. 53, BStBl 1952 II S. 74) auf den Erwerb eines mit einem Behelfsheim bebauten Grundstücks angewandt, weil das Behelfsheim alsbald und vor der Errichtung des geplanten Gebäudes mit den grundsteuerbegünstigten Wohnungen abgerissen werden sollte. Der Senat ist dabei einem zu § 4 Abs. 1 Ziff. 3 b GrEStG ergangenen Urteil des Reichsfinanzhofs II 58/42 vom 6. August 1942 (RStBl 1942 S. 1076, Slg. Bd. 52 S. 124) gefolgt. Der Reichsfinanzhof hat in dem bezeichneten Urteil ausgeführt, daß auch ein bebautes Grundstück zur besseren Gestaltung von "Bauland" ausgetauscht werden könne, wenn der Erwerber das auf ihm befindliche Gebäude alsbald abreißen lassen wolle, um eine andere Bebauung zu ermöglichen. Maßgebend für den Begriff "Bauland" im Sinn der bezeichneten Vorschrift sei nicht der tatsächliche Zustand des Grundstücks im Zeitpunkt des Erwerbs, sondern der Zustand, in den das Grundstück nach der Absicht des Erwerbers alsbald versetzt werden solle, um als Bauland dienen zu können.
Demgemäß hat sich der Senat in dem vorerwähnten Urteil II 60/55 U vom 24. August 1955 auf den Standpunkt gestellt, daß das Grundstück, das Gegenstand des Rechtsvorgangs ist, zwar grundsätzlich der Besteuerung in dem Zustand zugrunde zu legen sei, in dem es die Beteiligten zum Gegenstand des betreffenden Rechtsvorgangs gemacht haben. Dieser Grundsatz könne aber eine Ausnahme dann erleiden, wenn der Gesetzgeber die Anwendung einer Befreiungsvorschrift auf eine bestimmte Verwendung des Grundstücks abstelle. Entsprechend sei auch für das niedersächsische Gesetz über die Befreiung des sozialen Wohnungsbaus von der Grunderwerbsteuer vom 2. Juli 1952 der Zustand maßgebend, in den das Grundstück alsbald versetzt werden solle, um zur Errichtung eines Gebäudes im Sinn des sozialen Wohnungsbaus verwendet zu werden.
Die bezeichnete Vorschrift des niedersächsischen Gesetzes entspricht inhaltlich der hier anzuwendenden Vorschrift des nordrhein-westfälischen Gesetzes. Die für das niedersächsische Gesetz vertretene Auffassung wird nach nochmaliger Prüfung auch für die entsprechende Vorschrift des nordrhein-westfälischen Gesetzes als zutreffend erachtet.
Gegenüber dem Urteil des Senats II 60/55 U vom 24. August 1955 hat das Finanzgericht ausgeführt, daß der Gesetzgeber, wenn er auch den Erwerb von Grundstücken mit baufällig gewordenen Gebäuden in die Steuerbefreiung einbeziehen wollte, ausdrücklich eine dahingehende Bestimmung erlassen mußte; der Wortlaut des Gesetzes lasse es nicht zu, im Wege der Auslegung die Befreiung auf die hier in Betracht kommenden Fälle auszudehnen.
Der Senat vermag sich dieser Auffassung nicht anzuschließen. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht im Urteil 2 BvH 2/52 vom 21. Mai 1952 (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 1 S. 299, 312) den Rechtsgrundsatz aufgestellt, daß für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgebend sei, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergebe, in den diese hineingestellt sei. Wie aber die Ausdrücke "objektivierter Wille", "Sinnzusammenhang" und "hineingestellt" ergeben, ist dennoch bei der Auslegung von Gesetzen nicht am buchstäblichen Ausdruck zu haften, sondern der wirkliche Wille des Gesetzes nach Sinn und Zweck zu erforschen.
Die Auffassung des Finanzgerichts würde zu erheblichen Ungleichheiten führen. Erwirbt z. B. jemand ein Grundstück, auf dem sich ein baufällig gewordenes, unbewohnbares Gebäude befindet, um das Gebäude alsbald abzureißen und auf dem Grundstück sodann ein neues Wohngebäude zu errichten, so käme vom Standpunkt des Finanzgerichts aus die Steuerbefreiung nicht in Betracht. Dies würde sogar dann gelten, wenn jemand ein altes baufälliges Gebäude in der Absicht abreißt, auf dem Grundstück ein modernes Hochhaus zu errichten. Würde dagegen dasselbe Gebäude vor dem Erwerbsvorgang abgerissen und ein Käufer daraufhin das Grundstück erwerben, so wäre die Steuerbefreiung gegeben. Ein innerer Grund dafür, die Steuerbefreiung des § 1 Ziff. 1 des in Betracht kommenden Gesetzes von derartigen Zufälligkeiten abhängig zu machen, ist nicht ersichtlich. Die Steuerbefreiung soll dazu beitragen, die Wohnungsnot zu beseitigen. Es kann davon ausgegangen werden, daß es dem Landesgesetzgeber bei Schaffung der Steuerbefreiung weniger darauf ankam, die Bebauung unbebauter Grundstücke steuerlich zu begünstigen als vielmehr darauf, die Schaffung neuer Wohnungen auf Grundstücken zu fördern, die unbebaut sind oder in Anbetracht der besonderen Umstände als unbebaut gelten müssen.
Schließlich gibt der Umstand, daß sich auch andere Finanzgerichte gegen die vom Senat im Urteil II 60/55 U vom 24. August 1955 vertretene Auffassung ausgesprochen haben (vgl. Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 8. Dezember 1955, Entscheidungen der Finanzgerichte 1956 Nr. 202; Urteil des Finanzgerichts Schleswig-Holstein vom 14. Dezember 1956, Entscheidungen der Finanzgerichte 1957 Nr. 112), dem Senat keine Veranlassung, von seiner bisherigen Rechtsprechung abzuweichen.
Nach alledem war das angefochtene Urteil aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif. Es bedarf der Feststellung, ob die weiteren Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung erfüllt sind. Die Sache war demgemäß an das Finanzgericht zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 409721 |
BStBl III 1960, 315 |
BFHE 1961, 179 |
BFHE 71, 179 |
StRK, GrEStG:4/1/1 R 17 |