Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufhebung der Verwaltungsentscheidungen ohne Sachentscheidung bei Notwendigkeit weiterer Sachaufklärung; Einschaltung eines Sachverständigen durch das FA
Leitsatz (NV)
Nach § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO kann insbesondere dann verfahren werden, wenn das FA unter Verletzung der behördlichen Amtsermittlungspflicht (§ 88 AO 1977) den Sachverhalt nicht oder nur unzureichend aufgeklärt hat oder wenn bei einer erheblichen Veränderung der Sachlage oder bei einer anderen Beurteilung der Rechtslage und einer damit verbundenen Änderung und Erweiterung des streitigen Tatsachenstoffs eine nochmalige Ermittlung des Sachverhalts durch das FA geboten erscheint (Fortführung von BFH-Urteil vom 29. März 1995 II R 13/94, BFHE 177, 217, BStBl II 1995, 542).
Das FA ist nicht verpflichtet, einen unabhängigen Sachverständigen einzuschalten, wenn es auf die Sachkunde eigener Bediensteter zurückgreifen kann (Anschluß an BFH-Urteil vom 31. August 1994 X R 170/93, BFH/NV 1995, 299).
Normenkette
AO 1977 §§ 88, 92, 96 Abs. 1; FGO § 100 Abs. 3 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (der Kläger) ist Inhaber eines Friseurbetriebs, aus dem er für das Streitjahr einen Gewinn aus Gewerbebetrieb von ... DM erklärte. Des weiteren erklärte er einen Gewinn aus selbständiger Arbeit in Höhe von ... DM; diese Arbeit umfaßte Fotoarbeiten für Werbezwecke. Der Kläger wählte die Modelle, Fotografen und Aufnahmeplätze aus. Nach seinen Anweisungen wurden die Requisiten, Kleider, Schmuck und andere Accessoires beschafft und die Modelle geschminkt und frisiert. Die bestellten Fotografen machten die Aufnahmen ebenfalls nach seinen Anweisungen. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) beurteilte auch diese Tätigkeit als gewerblich. Im Einspruchsverfahren verneinte der Gutachterausschuß "Maler und Grafiker" der Oberfinanzdirektion (OFD) die Künstlereigenschaft des Klägers. Einer von drei Gutachtern war ein Bediensteter eines FA. Das FA wies den Einspruch der Kläger zurück. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage gemäß § 100 Abs. 3 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) statt. Art und Weise der Gutachtenerstellung ließen Zweifel an der Objektivität des Gutachtens angezeigt erscheinen lassen. Das Gutachten sei nach Maßgabe des Urteils vom 4. März 1993 IV R 33/92 (BFH/NV 1993, 739) unverwertbar. Es sei kein Protokoll verfaßt worden; der Ausschuß habe seine Entscheidung nicht bekanntgemacht; die Gründe seien später auf Schriftbögen des FA, dem der genannte Bedienstete des FA angehört habe, zu Papier gebracht und allein von dem Bediensteten des FA unterschrieben worden. Ob auch die beiden anderen Gutachter mit gewirkt hätten, lasse sich nicht einmal ansatzweise eruieren. Es handele sich um ein Privatgutachten. Wegen der mehr als offensichtlichen Mängel der Begutachtung habe auch das FA dieses nicht der Einspruchsentscheidung zugrunde legen dürfen.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung des § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO. Entgegen der Auffassung des FG bedeute die Einholung eines Gutachtens keinen erheblichen Aufwand i. S. des § 100 Abs. 3 FGO. Auch sei es grundsätzlich ermessensfehlerhaft, von eigenen Ermittlungen abzusehen, wenn das FA schon Ermittlungen zu den streitigen Besteuerungsgrundlagen angestellt habe. Gerade im Hinblick auf die vom FA eingeholte gutachterliche Stellungnahme hätte das FG nunmehr ein Gerichtsgutachten einholen müssen. Das FG habe sich zu der Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 31. August 1994 X R 170/93 (BFH/NV 1995, 299) in Widerspruch gesetzt. Danach dürfe das FA aus Gründen einer ökonomischen Verwaltung von der Einholung eines Sachverständigengutachtens absehen und sich mit der eigenen Sachkunde begnügen, ohne dadurch gegen den Grundsatz der Amtsermittlung und der Objektivität zu verstoßen. Dem Gutachterausschuß hätten neben einem Bediensteten der Finanzverwaltung zwei Professoren der Fachhochschule für Design angehört.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Das FG solle und könne die vollständig ungenügende Amtsermittlung der Finanzverwaltung nicht nachholen. Ansonsten würde § 88 der Abgabenordnung (AO 1977) in seinem Regelungskern verletzt. Es könne nicht Aufgabe des Gerichts sein, sich die für die Entscheidung notwendige Sachverhaltsgrundlage erst zu beschaffen. Das FG dürfe nur dann nicht von eigenen Ermittlungen absehen, wenn die durchgeführten Ermittlungen des FA dem Amtsermittlungsprinzip genügten und verwertbar seien. Der Grundsatz der Verfahrensökonomie werde durch die zurückweisende Entscheidung des FG nicht verletzt. Das FA und der Gutachterausschuß hätten sich noch nicht mit dem Vorbringen des Klägers auseinandergesetzt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils (§ 126 Abs. 3 FGO). Die gegen den Gewerbesteuermeßbescheid gerichtete Klage der Klägerin wird abgewiesen. Im übrigen wird die Sache an das FG zurückverwiesen; die Voraussetzungen des § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO lagen nicht vor.
1. Hält das FG eine weitere Sachverhaltsaufklärung für erforderlich, kann es gemäß § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf aufheben, soweit nach Art und Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, ist eine im Revisionsverfahren nachprüfbare Rechtsentscheidung (BFH-Urteil vom 29. März 1995 II R 13/94, BFHE 177, 217, BStBl II 1995, 542).
§ 100 Abs. 3 Satz 1 FGO dient der Entlastung der FG. Sind weitere erhebliche Ermittlungshandlungen notwendig, sollen diese von der Finanzbehörde vorgenommen werden. Andererseits bezweckt § 100 Abs. 3 FGO nicht, die im Gesetz vorgesehene Aufgabenverteilung (vgl. §§ 88ff. AO 1977; §§ 76, 81ff. FGO) zu verändern.
Das FG hat bei der Anwendung des § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO auch die Belange des FA zu berücksichtigen. Belange des FA können der Aufhebung der Verwaltungsentscheidungen entgegenstehen, wenn der Steuerpflichtige seinen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen ist und anzunehmen ist, daß er auch weiterhin seinen Mitwirkungspflichten nicht nachkommen wird (BFH-Urteil in BFHE 177, 217, BStBl II 1995, 542). Belange des FA können aber auch dann einer Aufhebung entgegenstehen, wenn das FA den -- nach beider Ansicht -- streitigen Sachverhalt aus seiner Sicht vollständig und umfassend aufgeklärt hat. In einem solchen Fall ist das FG im allgemeinen nicht berechtigt, die Sache an das FA zurückzugeben, insbesondere weil es sich nach dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 81 FGO) in vielen Fällen nicht mit den Ermittlungen des FA begnügen darf (BFH-Urteil in BFHE 177, 217, BStBl II 1995, 542). Gemäß § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO ist demgegenüber zu verfahren, wenn das FA unter (objektiver) Verletzung der behördlichen Amtsermittlungspflicht (§ 88 AO 1977) den Sachverhalt nicht oder nur unzureichend aufgeklärt hat (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., Stand Juni 1993, § 100 FGO Tz. 17).
2. Im Streitfall hat das FA die ihm obliegenden Ermittlungspflichten nicht verletzt. Das FA konnte von der Zuziehung unabhängiger Sachverständiger nach § 92 Satz 2 Nr. 2, § 96 Abs. 1 AO 1977 absehen und auf die Sachkunde eigener Bediensteter zurückgreifen (BFH-Urteil vom 31. August 1994 X R 170/93, BFH/NV 1995, 299). Dementsprechend durfte das FA den eigens für die Beurteilung künstlerischer Tätigkeiten bei der OFD gebildeten Ausschuß einschalten und dessen Sachkunde in Anspruch nehmen. Dies gilt um so mehr, als im konkreten Fall zwei der drei Gutachter als Professoren der Fachhochschule für Design über besondere Fachkunde verfügten. Der Umstand, daß das FG die vom FA eingeholte Stellungnahme (insbesondere auch im Hinblick auf formelle Unzulänglichkeiten) für mangelhaft hielt, reicht für die Aufhebung der Bescheide und Einspruchsentscheidungen, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, nicht aus. Die Stellungnahme des Gutachterausschusses, die wegen der Beteiligung eines Angehörigen der Verwaltung als sog. Privatgutachten zu behandeln ist (dazu vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 1995, 299), bedurfte keines besonderen Verfahrens noch einer besonderen Form. Das FA hat daher seine Ermittlungspflicht sachgerecht wahrgenommen und -- aus seiner Sicht -- die erforderlichen Ermittlungen angestellt.
3. Auch andere Gründe, die unter Berücksichtigung der Entlastungsfunktion des § 100 Abs. 3 FGO eine nochmalige Ermittlung des Sachverhalts durch das FA geboten erscheinen lassen, wie es z. B. bei einer erheblichen Veränderung der Sachlage oder bei einer anderen Beurteilung der Rechtslage und einer damit verbundenen Änderung und Erweiterung des streitigen Tatsachenstoffs der Fall sein könnte (vgl. Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze, BTDrucks 12/1061 S. 19), sind nicht erkennbar. Das FG hätte daher gegebenenfalls -- bei Fehlen eigener Sachkunde -- gemäß § 81 Abs. 1 FGO selbst das Gutachten eines unabhängigen Sachverständigen einholen müssen (vgl. BFH- Urteile vom 11. Juli 1991 IV R 15/90, BFHE 165, 216, BStBl II 1991, 889; in BFH/NV 1993, 739; Schmidt/Seeger, Einkommensteuergesetz, 14. Aufl., 1995, § 18 Rz. 70).
4. Da das FG -- wie dargelegt -- im Hinblick auf die fotografische Tätigkeit des Klägers keine eigenen Feststellungen getroffen hat, kann auch der Senat keine Entscheidung zur Sache treffen. Die Sache war daher an das FG zurückzuverweisen.
5. Die gegen den Gewerbesteuermeßbescheid 1987 gerichtete Klage der Klägerin war unzulässig, da sie insoweit nicht gemäß § 40 Abs. 2 FGO zur Klage befugt war (dazu vgl. Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., 1993, § 40 Rz. 109ff.); der Gewerbesteuermeßbescheid war nicht an sie gerichtet.
Fundstellen
Haufe-Index 421235 |
BFH/NV 1996, 527 |