Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulassungsfreie Revision; Fehlen von Entscheidungs gründen; Verhältnis von Abrechnungsbescheid und Abrechnungsverfügung
Leitsatz (NV)
1. Die Entscheidungsgründe fehlen, wenn das FG einen selbständigen prozessualen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat (ständige Rechtsprechung).
2. Das FG muß in den Entscheidungsgründen auf entscheidungserhebliches Vorbringen der Parteien eingehen, um zu verhindern, daß sein Urteil als nicht mit Gründen versehen anzusehen ist. Dies gilt allenfalls dann nicht, wenn die rechtliche Behandlung vorgetragener Einwendungen so klar auf der Hand liegt, daß ein Eingehen darauf als entbehrlich angesehen werden kann.
3. Das Verwaltungs- und Klageverfahren über einen Abrechnungsbescheid i. S. des § 218 Abs. 2 AO 1977 ist gegenüber dem Verfahren über eine Abrechnungsverfügung vorrangig.
Normenkette
FGO § 116 Abs. 1 Nr. 5, § 119 Nr. 6; AO 1977 § 218 Abs. 2
Tatbestand
Bezüglich der Umsatzsteuer 1986, Umsatzsteuer 1987 und Umsatzsteuer 1988 erteilte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) dem Kläger und Revisionskläger (Kläger) drei Abrechnungsbescheide, die das Umsatzsteuerkonto 1986 als ausgeglichen, für die Umsatzsteuer 1987 eine Restschuld von ... DM und für die Umsatzsteuer 1988 eine solche von ... DM auswiesen.
Der Kläger erhob gegen diese Bescheide Einsprüche, über die durch einheitliche Einspruchsentscheidung des FA dahingehend entschieden wurde, daß die Restschuld Umsatzsteuer 1987 auf ... DM festgesetzt wurde und im übrigen die Einsprüche als unbegründet zurückgewiesen wurden.
Mit seiner Klage, die sich letztlich nur noch gegen die Restschulden Umsatzsteuer 1987 und Umsatzsteuer 1988 richtete, blieb der Kläger erfolglos. Das Finanzgericht (FG) wies die vom Kläger geltend gemachten Rügen gegen das gerichtliche Verfahren wegen fehlerhafter Besetzung des Gerichts, Verletzung des gesetzlichen Richters, Verletzung rechtlichen Gehörs, nicht ordnungsgemäßer Gewährung von Akteneinsicht, Verletzung des Prinzips des fairen Verfahrens, nicht erfolgter Terminsaufhebung, -verlegung, -vertagung, Nichterledigung von Anträgen auf Aussetzung des Verfahrens, auf Beiziehung weiterer Akten, auf Beweiserhebung, auf Sachverhaltsermittlung, auf Vorabentscheidung u. a. m. zurück. In der Sache entschied das FG, das FA habe in den Abrechnungsbescheiden und der Einspruchsentscheidung mehrere Jahreszeiträume zusammenfassend bescheiden dürfen. Auch hätten den Bescheiden frühere, wieder aufgehobene Abrechnungen bzw. Abrechnungsbescheide nicht ent gegengestanden. Weiter begründete das FG seine Entscheidung damit, die einzelnen Feststellungen des FA seien nicht fehlerhaft. Gegen die Rechtmäßigkeit der vorgenommenen Umbuchungen und Erstattungen beständen keine durchgreifenden Bedenken. Hinsichtlich der Umbuchungen bzw. Erstattungen hätte es keines gesonderten Rückforderungs bescheides bedurft. Der offene Betrag hätte zulässigerweise durch Abrechnungsbescheid geltend gemacht werden dürfen.
Mit der Revision rügt der Kläger u. a., das Urteil des FG sei nicht mit Gründen ver sehen (§ 116 Abs. 1 Nr. 5 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Der Sachverhalt sei fehlerhaft und unvollständig, wesentliches Vorbringen des Klägers werde im Tatbestand nicht erwähnt. Die Entscheidungsgründe seien formelhaft, erhebliches Vorbringen des Klägers sei nicht beachtet worden, das Urteil gehe nicht auf das Begehren des Klägers ein, selbständige Angriffs- und Verteidigungsmittel (Einrede der Verjährung, Vorrang des § 130 der Abgabenordnung -- AO 1977 --, fehlerhafte Zuständigkeit der Verwaltungsbehörde, Vorgreiflichkeit anderer Verfahren) seien mit Stillschweigen übergangen worden. Insbesondere hätte es angesichts der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Rechtmäßigkeit von Abrechnungsverfügungen und Abrechnungsbescheiden in den Entscheidungsgründen einer Auseinandersetzung über das Verhältnis Abrechnungsver fügung/Abrechnungsbescheid bedurft. Vor allem hätte auf die Anwendbarkeit und die Voraussetzungen des § 130 AO 1977, ins besondere im Hinblick auf die Ausübung des Ermessens eingegangen werden müssen, da bereits vor Erlaß der streitbefangenen Abrechnungsbescheide bestandskräftige Erstattungsverfügungen und Abrechnungsbescheide über die streitigen Steuerbeträge erlassen worden wären.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO zulässige Revision ist unter Anwendung des § 119 Nr. 6 FGO auch begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung durch das FG.
Gemäß Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs findet abweichend von § 115 Abs. 1 FGO die Revision nur statt, wenn das FG oder auf die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der BFH sie zugelassen hat oder wenn ein Fall der zulassungsfreien Revision gemäß § 116 FGO gegeben ist. Zwar hat das FG im Streitfall die Revision nicht zugelassen, es liegt jedoch ein Fall der zulassungsfreien Revision nach § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO vor.
Gemäß § 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO müssen Urteile begründet werden. Die Wiedergabe der Entscheidungsgründe dient der Mitteilung der wesentlichen rechtlichen Erwägungen, die aus der Sicht des Gerichts für die getroffene Entscheidung maßgebend waren. Ein Fehlen von Entscheidungsgründen liegt deshalb nur vor, wenn den Beteiligten die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung auf ihre Richtigkeit und Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen (BFH-Urteil vom 23. Januar 1985 I R 292/81, BFHE 143, 325, BStBl II 1985, 417). Das ist insbesondere der Fall, wenn nicht erkennbar ist, welcher Sachverhalt der Entscheidung zugrunde liegt, oder wenn nicht ersichtlich ist, auf welche rechtlichen Erwägungen sich die Entscheidung stützt (BFHE 143, 325). Nach der Rechtsprechung des BFH fehlen die Entscheidungsgründe auch dann, wenn das FG einen selbständigen prozessualen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat (vgl. BFH-Beschlüsse vom 28. April 1993 II R 123/91, BFH/NV 1994, 46, und vom 12. April 1991 III R 181/90, BFHE 164, 179, BStBl II 1991, 638 m. w. N.). Unter selbständigen Ansprüchen und selbständigen Angriffs- und Verteidigungsmitteln sind nur die eigenständigen Klagegründe und solche Angriffs- und Verteidigungsmittel zu verstehen, die den vollständigen Tatbestand einer mit selbständiger Wirkung ausgestatteten Rechtsnorm bilden (BFH- Beschluß vom 9. Februar 1977 I R 136/76, BFHE 121, 298, BStBl II 1977, 351).
Im Streitfall sind die die Rechtsauffassung des Gerichts tragenden Gesichtspunkte nicht zu erkennen. Zwar hat sich das FG mit der Rechtmäßigkeit der Abrechnungsbescheide befaßt, das Urteil beschränkt sich aber im wesentlichen auf die Überprüfung der rechnerischen Richtigkeit der in den Bescheiden ausgewiesenen Steuerbeträge. In den Entscheidungsgründen geht das Urteil nicht auf die vom Kläger aufgeworfene Frage ein, ob das FA angesichts bereits vorgenommener Umbuchungen sowie erlassener Erstattungsverfügungen, Anrechnungsverfügungen und Abrechnungsbescheiden verfahrensrechtlich in der Lage war, die streitbefangenen Abrechnungsbescheide zu erlassen. Zwar muß das FG nicht auf jedes Vorbringen des Klägers eingehen, um zu verhindern, daß sein Urteil als nicht mit Gründen versehen anzusehen ist, doch waren die im Streitfall vom Kläger vorgebrachten und mit Rechtsprechung belegten Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit der Abrechnungsbescheide entscheidungserheblich. Das FG beschränkte sich in seinen Gründen darauf, festzustellen, daß "dem Erlaß der angefochtenen Bescheide frühere, wieder aufgehobene Abrechnungen bzw. Abrechnungsbescheide (nicht) entgegen" ständen. Hinsichtlich der Umbuchungen bzw. Erstattungen hätte es keines gesonderten Rückforderungsbescheides bedurft. Der noch offene Betrag hätte zulässigerweise durch Abrechnungsbescheid geltend gemacht werden dürfen.
Das FG gibt zur Stützung seiner Aussagen weder Rechtsvorschriften noch Rechtsprechung an. Die rechtliche Behandlung der im Streitfall vom Kläger als selbständige Angriffsmittel gegen die angefochtenen Abrechnungsbescheide vorgetragenen Einwendungen hinsichtlich der Bestandskraft bereits ergangener Erstattungsverfügungen und Abrechnungsbescheide, der Anwendbarkeit des § 130 AO 1977 und insbesondere der "Verjährung" (§ 130 Abs. 3 AO 1977) liegt auch nicht so klar auf der Hand, daß sie aus diesem Grunde hätte als entbehrlich angesehen werden können. Es liegt somit ein Begründungsmangel i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO und des § 119 Nr. 6 FGO vor. Da die Revision nach diesen Vorschriften Erfolg hat, kommt es auf die übrigen mit der Revision geltend gemachten Verfahrensmängel nicht an.
Das FG wird bei seiner erneuten Entscheidung auch die Rechtsprechung des BFH zu beachten haben, wonach das Verwaltungs- und Klageverfahren über den Abrechnungsbescheid i. S. des § 218 Abs. 2 AO 1977 gegenüber dem Verfahren über die Abrechnungsverfügung vorrangig ist (BFH-Urteile vom 24. Juni 1993 VII R 141/92, BFH/NV 1994, 288; vom 28. April 1993 I R 123/91, BFHE 170, 573, BStBl II 1994, 147; vom 25. Februar 1992 VII R 41/91, BFH/NV 1992, 716; Beschluß vom 20. Oktober 1987 VII R 32/87, BFH/NV 1988, 349). Die in einer früheren Entscheidung (Senatsbeschluß vom 13. Januar 1987 VII B 74/86, BFH/NV 1987, 558) vertretene Ansicht, die Befugnis des FA zum Erlaß eines Abrechnungsbescheids i. S. des § 218 Abs. 2 AO 1977 setze voraus, daß das Bestehen des streitigen Anspruchs nicht bereits Gegenstand oder Folge eines zuvor erteilten anderen rechtsbehelfsfähigen und auch tatsächlich schon mit einem Rechts behelf oder einem Rechtsmittel angefochtenen Bescheids sei, ist insofern überholt. Ob es im Streitfall tatsächlich auf die Anwendbarkeit des § 130 AO 1977, auf die sich der Kläger in erster Linie beruft, ankommt, kann erst nach entsprechender Sachverhaltsfeststellung und Entscheidung des FG beurteilt werden. Der Senat sieht sich deshalb im gegenwärtigen Stadium des Verfahrens nicht dazu veranlaßt, auf die von der Revision aufgezeigten Unterschiede in der Rechtsprechung des I. und des VII. Senats des BFH zur Bindungswirkung einer Anrechnungsverfügung für den Abrechnungsbescheid (vgl. BFHE 170, 573, BStBl II 1994, 147 und Urteil vom 16. Oktober 1986 VII R 159/83, BFHE 148, 4, BStBl II 1987, 405) näher einzugehen (siehe hierzu auch Völlmeke, Probleme bei der Anrechnung von Lohnsteuer, Der Betrieb 1994, 1746, insbesondere: 1749-1k-51).
Fundstellen
Haufe-Index 423562 |
BFH/NV 1995, 479 |