Entscheidungsstichwort (Thema)
Fristbeginn für die Einlegung der Verfassungsbeschwerde. Grundrechtsfähigkeit und Umsatzsteuerpflicht von Religionsgesellschaften
Leitsatz (amtlich)
1. Die Frist für die Einlegung von Verfassungsbeschwerden gegen Urteile von Finanzgerichten beginnt mit der Zustellung der in vollständiger Form abgefaßten Entscheidung.
2. Religionsgesellschaften und andere juristische Personen, deren Zweck die Pflege oder Förderung eines religiösen Bekenntnisses oder die Verkündigung des Glaubens ihrer Mitglieder ist, können Träger des Grundrechts aus Art. 4 GG sein.
3. Art. 4 Abs. 2 GG verbietet die Besteuerung gewerblicher oder beruflicher Unternehmertätigkeit auch dann nicht, wenn diese mit der Religionsausübung in Verbindung steht.
4. Es ist mit dem Grundgesetz vereinbar, die Befreiung von der Umsatzsteuer nach § 2 Abs. 3 UStG auf Religionsgesellschaften zu beschränken, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind.
Leitsatz (redaktionell)
Der deutsche Zweig der Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania, einer amerikanischen Missionsgesellschaft mit dem Sitz in Brooklyn, N. Y., USA, die seit 1921 gemäß Art. 10 des Einführungsgesetzes zum BGB durch Beschluß des Reichsrats Rechtsfähigkeit besitzt, ist nicht von der Umsatzsteuerpflicht befreit.
Normenkette
BVerfGG § 93 Abs. 1 S. 2; GG Art. 3-4, 19 Abs. 3; UStG § 2 Abs. 3; UStDB § 19 Abs. 1; WRV Art. 137, 140
Verfahrensgang
BFH (Urteil vom 12.07.1962; Aktenzeichen V 46/59) |
Gründe
I.
1. Die Beschwerdeführerin ist der deutsche Zweig der Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania, einer amerikanischen Missionsgesellschaft mit dem Sitz in Brooklyn, N. Y., USA, die seit 1921 gemäß Art. 10 des Einführungsgesetzes zum BGB durch Beschluß des Reichsrats Rechtsfähigkeit besitzt.
Sie hat bei ihren Kongressen, Bezirks- und Kreisversammlungen, die in gemieteten Räumen und auf gemieteten Plätzen stattfanden, in eigener Regie Speisen, Getränke usw. sowie Unterkünfte an alle Teilnehmer gegen Entgelt abgegeben. Die zu Großhandelspreisen eingekauften Waren wurden mit entsprechenden Aufschlägen zur Deckung von Unkosten verkauft. Die vereinnahmten Entgelte hat die Beschwerdeführerin in ihren Umsatzsteuererklärungen weder angegeben noch versteuert. Das Finanzamt hat die in den Jahren 1948-1955 vereinnahmten Entgelte zur Umsatzsteuer mit dem allgemeinen Steuersatz von 3 bzw. 4% herangezogen. Der Bundesfinanzhof hat mit Urteil vom 12. Juli 1962 – V 46/59 – die Heranziehung für rechtmäßig erklärt. Zur Begründung hat er in seinem Urteil, das der Beschwerdeführerin am 11. August 1962 zugestellt worden ist, ausgeführt, Religionsgesellschaften könnten Umsatzsteuerfreiheit gemäß § 2 Abs. 3 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) in Verbindung mit § 19 Abs. 1 Satz 1 der Durchführungsbestimmungen zum Umsatzsteuergesetz (UStDB) nur in Anspruch nehmen, wenn sie den Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts besäßen. Diese Bestimmungen lauten:
§ 2 Abs. 3 UStG :
Die Ausübung der öffentlichen Gewalt ist keine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit.
§ 19 Abs. 1 Satz 1 UStDB :
Der Bund, die Länder, die Gemeinden, die Gemeindeverbände, die Zweckverbände und andere Körperschaften des öffentlichen Rechts sind insoweit nicht gewerblich oder beruflich tätig, als sie öffentlichrechtliche Aufgaben erfüllen (Ausübung der öffentlichen Gewalt).
2. In der gegen das Urteil des Bundesfinanzhofs am 10. September 1962 erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung der Art. 3, 4, 19 Abs. 3 und Art. 140 GG.
Die Beschwerdeführerin sei als eingetragener Verein gegenüber den Religionsgesellschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, benachteiligt, weil diese von der Umsatzsteuer insoweit befreit seien, als sie öffentliche Gewalt ausübten.
Der Grundsatz der Parität erfordere, daß alle in Religionsgesellschaften existierenden Bekenntnisse dem Staat gegenüber gleichberechtigt sein müßten. Der öffentlich-rechtliche Status, den die Beschwerdeführerin jederzeit auf Antrag erlangen könnte, stelle keine tatsächliche Verschiedenheit dar, an die eine unterschiedliche Behandlung anknüpfen könnte. Ob die Beschwerdeführerin einen solchen Antrag stellen wolle oder nicht, falle in den Bereich ihres verfassungsmäßig garantierten Selbstbestimmungsrechts und müsse von ihr nach Maßgabe ihres Bekenntnisses und ihrer Lehre entschieden werden.
Sie sei auch in ihrem Grundrecht auf Kultusfreiheit verletzt. Die Veranstaltungen, für die sie Steuern zahlen solle, seien wesensgemäße und wesensnotwendige Ausprägungen der Kultusfreiheit, wie z.B. Exerzitien und Rüstzeiten der römisch-katholischen und evangelischen Kirche. Deshalb stelle es eine Behinderung der Kultusfreiheit der Beschwerdeführerin dar, wenn diese besonders besteuert würde.
3. Der Bundesminister der Finanzen hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet, weil eine Nichtigerklärung der § 2 Abs. 3 UStG, § 19 Abs. 1 UStDB der Beschwerdeführerin die begehrte Steuerfreiheit nicht verschaffen könne, da das angefochtene Urteil des Bundesfinanzhofs nicht auf diesen Vorschriften beruhe. Der Bundesfinanzhof habe § 2 Abs. 3 UStG auch richtig ausgelegt. Öffentliche Gewalt im Sinne des Umsatzsteuerrechts könne nur von öffentlich-rechtlichen Körperschaften ausgeübt werden.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
Die Beschwerdefrist ist gewahrt. Sie hat erst mit der Zustellung des Urteils an die Beschwerdeführerin am 11. August 1962 zu laufen begonnen (§ 93 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG). Gemäß §§ 282, 298 AO war das Urteil der Beschwerdeführerin von Amts wegen zuzustellen. Diese Vorschriften sehen zwar nicht ausdrücklich vor, daß diese Zustellung in vollständiger Form erfolgen muß. Dies ergibt sich aber aus der Natur des finanzgerichtlichen Verfahrens. Die Finanzgerichte sind besondere Verwaltungsgerichte. Bei der Auslegung der für sie geltenden Verfahrensordnung ist daher den für das Verwaltungsgerichtsverfahren geltenden Rechtsgrundsätzen der Vorrang zu geben vor den Prinzipien, die für das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten gelten. Für das Verwaltungsgerichtsverfahren ist aber anerkannt, daß die Vorschrift des § 317 Abs. 2 Satz 2 ZPO nicht anwendbar ist (vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs zu § 116 VwGO, BT-Drucks. I/4278, Anl. 1 S. 46). Eine Zustellung von Entscheidungen in abgekürzter Form kommt daher auch für das Verfahren vor den Finanzgerichten und dem Bundesfinanzhof nicht in Betracht.
Die Beschwerdeführerin kann sich als juristische Person auf das Grundrecht der Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG berufen. Religionsgesellschaften und andere juristische Personen, deren Zweck die Pflege oder Förderung eines religiösen Bekenntnisses oder die Verkündung des Glaubens ihrer Mitglieder ist, können Träger des Grundrechts aus Art. 4 GG sein.
III.
Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich unbegründet. Das Urteil des Bundesfinanzhofes verletzt keine Grundrechte der Beschwerdeführerin.
1. Die von der Beschwerdeführerin beanstandete Besteuerung verstößt nicht gegen das Grundrecht der Kultusfreiheit. Art. 4 Abs. 2 GG verbietet die Besteuerung gewerblicher oder beruflicher Unternehmertätigkeit auch dann nicht, wenn diese mit der Religionsausübung in Verbindung steht. Diese finanzielle Belastung hat nämlich nicht die Religionsausübung als solche zum Gegenstand, sondern knüpft nur an einen religionsneutralen Vorgang an. Der Verkauf von Speisen und Getränken sowie die Vermietung von Unterkünften sind nicht selbst Gegenstand der Religionsausübung, mögen sie ihr auch mittelbar dienen. Schon deshalb kann sich die Beschwerdeführerin zur Stützung ihrer Ansicht nicht auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten im Falle Murdock v. Pennsylvania (U.S. Reports Bd. 319 S. 105) berufen, in der es für unzulässig erklärt worden ist, den ambulanten Verkauf religiöser Schriften durch Missionare mit einer Lizenzgebühr zu belegen.
2. Auch die Beschränkung der Umsatzsteuerfreiheit auf Religionsgesellschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, durch § 2 Abs. 3 UStG und § 19 Abs. 1 UStDB verletzt die Beschwerdeführerin nicht in ihrer Kultusfreiheit. Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie könne die Körperschaftsrechte jederzeit erlangen, lehne es nur aus Gründen des Glaubens und ihrer religiösen Überzeugung ab, einen entsprechenden Antrag zu stellen, der die Verleihung der Körperschaftsrechte und damit die Umsatzsteuerfreiheit zur Folge habe. Ein solcher Antrag bildet nur die technische, in das religiöse Leben der Religionsgemeinschaft nicht eingreifende Voraussetzung, ihr auch die Rechte zu gewähren, die den Religionsgesellschaften zustehen, die bereits Körperschaften des öffentlichen Rechts sind. Die Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts gliedert eine Religionsgesellschaft nicht in den Staat ein (vgl. BVerfGE 18, 385 [386 f.]), sondern bedeutet die Zuerkennung der Fähigkeit, Träger öffentlicher Kompetenzen und Rechte zu sein, und die Anerkennung der besonderen Bedeutung der öffentlichen Wirksamkeit einer Religionsgesellschaft. Die Bestätigung des Status einer solchen Körperschaft durch Art. 137 Abs. 5 Satz 1 WRV besagt im Hinblick auf die gleichzeitige Abschaffung des Staatskirchentums durch Art. 137 Abs. 1 WRV nur, daß den Religionsgesellschaften diejenigen Vorrechte erhalten bleiben sollten, die mit dem öffentlich-rechtlichen Status verbunden waren. Wie es im Ermessen der betreffenden Religionsgesellschaft steht, die Organisationsform des rechtsfähigen oder nichtrechtsfähigen Vereins zu wählen, so steht es ihr auch frei, ob sie die Rechtsstellung einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erwerben will; sie wird dadurch im staatlichen Bereich begünstigt, in der Religionsausübung jedenfalls nicht beeinträchtigt. Im Gegensatz zu ihrem Vorbringen in der Verfassungsbeschwerde, ihre Glaubensauffassung lasse es nicht zu, daß sie „bei einer weltlichen Instanz um die Verleihung eines Status nachsucht, der ihr Rechte gewährt, die die christliche Versammlung seit ihrem Beginn von Gott verliehen erhielt”, hat die Beschwerdeführerin sich im Jahre 1921 vom Reichsrat den Status eines eingetragenen Vereins ausdrücklich anerkennen lassen.
3. Die angegriffene Regelung verletzt die Beschwerdeführerin auch nicht in ihrem Recht auf Gleichbehandlung. Das Grundgesetz gebietet nicht, daß der Staat alle Religionsgesellschaften schematisch gleich behandelt. Er darf, der verfassungsrechtlichen Unterscheidung in Art. 137 Abs. 5 WRV folgend, die Besserstellung nach § 2 Abs. 3 UStG und § 19 Abs. 1 UStDB auf die Religionsgesellschaften beschränken, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind. Es ist sachgerecht, nur die Tätigkeit derjenigen Religionsgesellschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, als Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne jener Gesetzesbestimmungen anzuerkennen; denn durch die Verleihung dieses Status kommt zum Ausdruck, daß es sich hier um Religionsgesellschaften handelt, die „durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten”, die also innerhalb des öffentlichen Lebens und demgemäß auch für die staatliche Rechtsordnung besondere Bedeutung besitzen. Diese Unterscheidung würde nur dann den Gleichheitssatz verletzen, wenn es anderen Religionsgesellschaften in unzumutbarer Weise erschwert würde, den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erlangen, obwohl sie die materiellen Voraussetzungen hierfür erfüllen. Es ist aber bereits dargelegt, und die Beschwerdeführerin geht selbst davon aus, daß es ihr jederzeit freisteht, durch entsprechenden Antrag die Rechtsstellung einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erlangen.
Die Entscheidung BVerfGE 19, 1 spricht nichts Gegenteiliges aus, da es dort nur um die Zulässigkeit der Differenzierung zwischen „Kirchen” ging, die sämtlich bereits den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts besaßen. Ob und inwieweit der Staat Religionsgesellschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, anders behandeln darf als Religionsgesellschaften des privaten Rechts, brauchte das Bundesverfassungsgericht in diesem Beschluß nicht zu entscheiden.
4. Auf die Verletzung des Art. 140 GG kann eine Verfassungsbeschwerde nicht unmittelbar gestützt werden. Diese Vorschrift gewährt keine mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbaren Grundrechte. Im übrigen fällt die Frage der Umsatzsteuerfreiheit nicht in den Bereich des durch Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV garantierten Selbstbestimmungsrechts der Religionsgesellschaften.
Fundstellen
Haufe-Index 1721388 |
BVerfGE, 129 |
NJW 1965, 2339 |