Prof. Dr. Bernhard Schwarz †
Rz. 14
Für die Wiedereinsetzung muss der Betroffene ohne Verschulden an der Einhaltung der Frist gehindert gewesen sein. Das Verschulden bzw. sein Fehlen bezieht sich danach auf das Verhindertsein, also auf das Hindernis. Da sich das Hindernis wiederum unmittelbar auf die Fristversäumung richten muss, wird in der Gerichtspraxis die Frage des Verschuldens meist bei der Fristversäumung und nicht beim Hindernis geprüft. Diese – eigentlich nicht an der richtigen Stelle angestellte – Prüfung führt wegen der genannten Verknüpfungen zu zutreffenden Ergebnissen.
Rz. 15
Ohne Verschulden sind Hindernis und Fristversäumung, wenn sie weder vorsätzlich noch fahrlässig verursacht oder mitverursacht worden sind. Auch ein für die Fristversäumung ursächliches Mitverschulden des Betroffenen schließt die Gewährung einer Wiedereinsetzung aus. Die die Wiedereinsetzung beanspruchende Person ist nämlich nicht "ohne Verschulden" verhindert gewesen. Ein Mitverschulden der Finanzbehörde, ohne das die Fristversäumung nicht eingetreten wäre, bedeutet im Einzelfall meist ein unverschuldetes Hindernis für den Beteiligten und führt deswegen unter den weiteren Voraussetzungen zur Wiedereinsetzung. Bei Nichtbeachtung einer Rechtsbehelfsbelehrung ist dagegen eine Fristversäumung auch des nicht vertretenen Stpfl. regelmäßig schuldhaft.
Rz. 16
Vorsätzlich handelt, wer bewusst und gewollt die Frist versäumt. Als Vorsatz kommen der direkte und der bedingte Vorsatz in Betracht. Wer z. B. eine Klagefrist bewusst verstreichen lässt, weil er notwendige Beweismittel nicht hat ausfindig machen können, handelt vorsätzlich. Vorsatz ist auch gegeben, wenn der Betroffene auf die fehlerhafte Praxis des Gerichts vertraut, nach der die frühmorgens im Gerichtsbriefkasten vorgefundenen Eingänge den Eingangsstempel des Vortags erhalten. In diesem Fall lässt der an sich zur Fristwahrung unbedingt Entschlossene die Frist vorsätzlich verstreichen, da er den Eintritt der Rechtsfolgen einer Fristversäumung für ausgeschlossen hält. Nicht maßgebend und daher nicht zu prüfen ist deswegen die Frage, ob er mit dem Vertrauen in die Gerichtspraxis fahrlässig gehandelt hat.
Rz. 17
Fahrlässig verschuldet ist das Hindernis, wenn der Betroffene die ihm nach seinen persönlichen Verhältnissen und bei Berücksichtigung der gesamten Umstände im Zusammenhang mit dem Hindernis gebotene Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Nicht die Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist das entscheidende Kriterium. Anders als bei der strengen Beachtung beider Seiten bei einem bürgerlich-rechtlichen Schuldverhältnis ist hier eine Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls möglich und auch angebracht. Nach Sinn und Zweck der Wiedereinsetzung als einem Korrektiv in der Abgrenzung zwischen den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Gerechtigkeit kann daher nur ein subjektiver Verschuldensbegriff in Betracht kommen, der auch die persönlichen Verhältnisse des physisch oder psychisch gehinderten Betroffenen berücksichtigt (h. M.; Tipke, in Tipke/Kruse, AO, § 112 Rz. 12; Eyermann/Fröhler, VwGO, § 60 Rz. 5; Koch, in Gräber, FGO, § 56 Rz. 14). Dabei reicht einfache (leichte) Fahrlässigkeit aus. Diese kann allerdings nach h. M. in der Lit. nicht die Anforderung stellen, dass der Betroffene "die äußerste, den Umständen des Falls angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt" anwendet oder wenn er die für einen gewissenhaften und sachgemäß handelnden Verfahrensbeteiligten gebotene und nach den Umständen zumutbare Sorgfalt beachtet. Solche vor allem in Entscheidungen des BFH immer wieder aufgestellte Anforderungen sind wenigstens für den normalen Betroffenen überspitzt. Bei rechtskundigen Vertretern des Betroffenen erscheint eine solche Anforderung eher annehmbar. Zu berücksichtigen ist allerdings stets, dass der vom BFH angelegte Maßstab sehr schwankt.
Rz. 18
Mit dem subjektiven Maßstab ist eine große Vielfalt unterschiedlicher Gerichtsentscheidungen verbunden, da das Verschulden in jedem Einzelfall besonders zu beurteilen ist und Typisierungen nur in einigen Bereichen möglich sind. Bei Anwendung des subjektiven Maßstabs hat stets eine Abwägung der Interessen stattzufinden, die für die Durchbrechung oder die Einhaltung der strikten Fristforderung sprechen. Nach Auffassung des BVerfG fordert Art. 19 Abs. 4 GG eine großzügige Handhabung der Wiedereinsetzung, da der effektive Rechtsschutz gegen Akte öffentlicher Gewalt ein sehr hoch zu bewertendes Rechtsgut sei.