Entscheidungsstichwort (Thema)
Schulung eines erstmals berufenen Wahlvorstandsmitglieds
Leitsatz (amtlich)
Der halbtägige Besuch einer Schulungsveranstaltung durch ein erstmals bestelltes Mitglied eines Wahlvorstands kann auch ohne nähere Darlegung des Fehlens ausreichender Kenntnisse der Wahlvorschriften als erforderlich angesehen werden (Abweichung von BAG 25, 87 ff. und 237 ff.).
Normenkette
BetrVG § 20 Abs. 3 S. 2, § 37 Abs. 6
Verfahrensgang
LAG Berlin (Urteil vom 29.10.1981; Aktenzeichen 7 Sa 61/81) |
ArbG Berlin (Urteil vom 08.05.1981; Aktenzeichen 18 Ca 64/81) |
Tenor
Auf die Revison des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 29. Oktober 1981 – 7 Sa 61/81 – aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 8. Mai 1981 – 18 Ca 64/81 – wird zurückgewiesen.
Das Urteil des Arbeitsgerichts wird neu gefaßt:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 68,54 DM zu zahlen.
Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz des Lohnausfalls, der dem Kläger durch die Teilnahme an einer Schulungsveranstaltung für Wahlvorstandsmitglieder entstanden ist.
Für die Betriebsratswahl 1981 bei der Beklagten hatte der Betriebsrat ursprünglich drei Arbeitnehmer als Wahlvorstand bestellt, die Beklagte hiervon unterrichtet und zugleich mitgeteilt, daß diese Mitarbeiter am 4. Februar 1981 an einem Lehrgang für Wahlvorstandsmitglieder teilnehmen sollten. Die bezahlte Freistellung der Wahlvorstandsmitglieder sowie die Übernahme der entstehenden Kosten lehnte die Beklagte ab, weil die Notwendigkeit einer erneuten Schulung nicht bestehe. Die drei Mitarbeiter hätten bereits 1978 an einer entsprechenden Schulungsveranstaltung teilgenommen.
Mit Schreiben vom 28. Januar 1981 unterrichtete der Betriebsrat die Beklagte vom Rücktritt des Wahlvorstandes und der Berufung dreier anderer Arbeitnehmer, darunter des Klägers, in den Wahlvorstand. Zugleich teilte er die Anmeldung dieser erstmals in den Wahlvorstand berufenen Arbeitnehmer zum Lehrgang für Wahlvorstandsmitglieder am 4. Februar 1981 mit und bat um bezahlte Freistellung und Übernahme der Fahrtkosten. Mit Schreiben vom 30. Januar 1981 lehnte die Beklagte den Freistellungswunsch des Betriebsrats ab, da genügend ausgebildete Mitarbeiter im Hause zur Verfügung stünden.
Am 4. Februar 1981 erwirkte der Kläger bei seinem zuständigen Meister unbezahlte Freistellung, nachdem dieser ihm die erbetene bezahlte Arbeitsbefreiung nicht erteilt hatte. Der Beklagten war bekannt, daß der Kläger die Schulungsveranstaltung der IG Metall besuchen wollte. Der Kläger verließ an diesem Tage um 9.30 Uhr das Werk und erhielt für die danach liegende Arbeitszeit bis 14.30 Uhr seinen Stundenlohn von insgesamt 68,54 DM nicht ausgezahlt.
Nachdem der Kläger zunächst die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von 129,48 DM brutto begehrt hatte, hat er in der Berufungsinstanz seine Klage bezüglich des über 68,54 DM hinausgehenden Betrages zurückgenommen.
Der Kläger hat vorgetragen, ohne gründliche Unterweisung sei er nicht in der Lage gewesen, die schwierigen Aufgaben eines Wahlvorstandes wahrzunehmen. Das Wahlverfahren bei der im Berliner Metallbereich praktizierten Verhältniswahl sei wesentlich schwieriger als bei einer Mehrheitswahl. Die entstehenden Kosten einer Schulung stünden zudem in keinem Verhältnis zu denjenigen, die bei einer Wiederholung einer angefochtenen Betriebsratswahl vom Arbeitgeber zu tragen seien. Zwar gebe es im Betrieb der Beklagten vor Jahren geschulte und erfahrene Belegschaftsmitglieder, diese seien aber nicht bereit gewesen, den Kläger über die Durchführung der Betriebsratswahl zu unterrichten, weil sie von der Sache her dazu nicht in der Lage gewesen seien. Der ursprünglich bestellte Wahlvorstand sei zurückgetreten, weil er sich ohne eine intensive Schulung durch die IG Metall nicht in der Lage gesehen habe, die Betriebsratswahl ordnungsgemäß durchzuführen.
Der Kläger hat zuletzt beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an ihn 68,54 DM brutto zu zahlen. Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
Sie hat vorgetragen, die Teilnahme an der Schulung sei nicht erforderlich gewesen, weil sich der Kläger im Betrieb von anderen erfahrenen Wahlvorstandsmitgliedern habe unterrichten und einweisen lassen können. Hinzu komme, daß der erfahrene Wahlvorstand offensichtlich nur deshalb zurückgetreten sei, weil für ihn eine Schulung keinesfalls mehr erforderlich gewesen wäre.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein vorinstanzliches Verfahrensziel weiter. Die Beklagte bittet, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revison ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat den Lohnanspruch des Klägers in der noch geltend gemachten Höhe von 68,54 DM brutto für die Zeit der Teilnahme an der Schulungsveranstaltung zu Unrecht verneint.
1. Das Landesarbeitsgericht hat im wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe sich als Wahlvorstandsmitglied zur Verfügung gestellt und sei daher verpflichtet gewesen, sich mit den begrenzten und überschaubaren Wahlvorschriften selbst bekannt zu machen. Im übrigen habe er sich als Gewerkschaftsmitglied bei seiner Gewerkschaft erkundigen und darüber hinaus den Betriebsrat befragen können, zumal einzelne Betriebsratsmitglieder früheren Wahlvorständen angehört hätten. Der Kläger habe daher nicht ausreichend dargelegt, warum trotz dieser Informationsmöglichkeiten der Besuch der Schulungsveranstaltung erforderlich gewesen sei.
2. Der Senat vermag dieser Rechtsauffassung nicht zu folgen.
Gemäß § 20 Abs. 3 Satz 2 BetrVG darf der Arbeitgeber das Arbeitsentgelt eines Arbeitnehmers nicht mindern, wenn dieser wegen der Betätigung im Wahlvorstand Arbeitszeit versäumt und die Säumnis zur Ausübung des Amtes erforderlich ist. Zur Betätigung im Wahlvorstand gehört auch die Teilnahme an einer Schulungsveranstaltung zur Unterweisung in die Aufgaben eines Wahlvorstandes (vgl. BAG Urteil vom 5. März 1974 – 1 AZR 50/73 –, AP Nr. 5 zu § 20 BetrVG 1972). Der Kläger hat entgegen der Auffassung der Beklagten auch keine Freistellung aus privaten Gründen erbeten, sondern einen Freistellungsanspruch gemäß § 20 Abs. 3 BetrVG geltend gemacht, denn es ist unstreitig und war der Beklagten bekannt, daß er die Schulungsveranstaltung besuchen wollte und besucht hat.
Soweit das Landesarbeitsgericht in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. BAG 25, 87 ff. und 25, 236 ff. = AP Nr. 1 und 3 zu § 20 BetrVG 1972 sowie Beschluß vom 5. März 1974 – 1 AZR 50/73 –, AP Nr. 5 zu § 20 BetrVG 1972) annimmt, nur ein besonderer Anlaß könne die Teilnahme eines Wahlvorstandsmitglieds an einer gewerkschaftlichen Schulung über die Wahl erforderlich machen, weil von einem Wahlvorstandsmitglied erwartet werden müsse, daß er die zur ordnungsgemäßen Wahrnehmung des Amtes erforderlichen Kenntnisse mitbringe, sich mit den einschlägigen Wahlvorschriften selbst bekannt mache und bei erstmals in den Wahlvorstand berufenen Arbeitnehmern darauf abzustellen sei, ob für sie die Möglichkeit bestanden habe, sich im Betrieb von anderen, kenntnisreichen Belegschaftsangehörigen über ihre Aufgaben unterrichten zu lassen, hält der erkennende Senat an dieser Rechtsauffassung mit Rücksicht auf die Rechtsprechung zum Schulungsbesuch von Betriebsratsmitgliedern nicht mehr fest.
3. Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 21. November 1978 – 6 ABR 10/77 – (AP Nr. 35 zu § 37 BetrVG 1972) darauf hingewiesen, angesichts der durch das Betriebsverfassungsgesetz geregelten komplizierten Zusammenhänge könne deren Kenntnis im Regelfall bei neu gewählten Betriebsratsmitgliedern nicht unterstellt werden und sie wegen der Grundsätzlichkeit und Schwierigkeit der Materie nicht auf die Unterrichtungsmöglichkeit durch bereits früher geschulte Betriebsratsmitglieder verwiesen werden. Diese Erwägungen treffen ebenso auch für neu gewählte Wahlvorstandsmitglieder zu. Zwar ist der erforderliche Umfang der Kenntnisse für diese insofern geringer, als es sich hier um ein Amt mit von vornherein zeitlich und sachlich begrenzten und überschaubaren Aufgaben handelt. Andererseits ist die Beachtung der Wahlvorschriften von außerordentlicher Bedeutung für die Wirksamkeit der Wahl. Angesichts der Gefahr einer drohenden Wiederholung und dem damit verbundenen hohen Kostenrisiko für den Arbeitgeber ist eine möglichst genaue Kenntnis der Wahlvorschriften durch die Mitglieder des Wahlvorstandes erforderlich.
Bei der Erforderlichkeit der Schulungsteilnahme ist auch der zeitliche Umfang einer anderweitigen Unterrichtung zu beachten. Die Tätigkeit des Wahlvorstandes findet grundsätzlich während der Arbeitszeit statt, so daß das Selbststudium der Wahlvorschriften dementsprechend ebenfalls eine Versäumnis von Arbeitszeit und zwar angesichts fehlender didaktischer Aufbereitung in der Regel in einem größeren zeitlichen Umfang erfordert, als dies bei der Teilnahme an einer zeitlich begrenzten Schulung der Fall ist. Bei der Unterrichtung durch ehemalige Wahlvorstandsmitglieder, Betriebsratsmitglieder oder Belegschaftsangehörige wäre der Zeitaufwand hierfür ebenfalls erheblich, weil auch diese Unterrichtung während der Arbeitszeit stattzufinden hätte und dementsprechend mehrere Belegschaftsangehörige von der Arbeit freizustellen wären. Hinzukommt der jeweilige Abstand von drei Jahren zwischen den Betriebsratswahlen, der es fraglich erscheinen läßt, ob zuvor vorhandenes Wissen auch noch nach Ablauf eines solchen Zeitraums vermittelt werden kann. Da der Erfolg einer solchen Unterweisung darüber hinaus auch deshalb unsicher erscheint, weil nicht alle mit den Wahlvorschriften vertrauten Belegschaftsangehörigen auch über die notwendigen didaktischen Fähigkeiten verfügen, ihre Kenntnisse weiter zu vermitteln, erscheint der Hinweis auf die Unterrichtungsmöglichkeit durch andere Belegschaftsmitglieder im Hinblick auf die Erforderlichkeit der Arbeitsversäumnis verfehlt. Es gehört auch nicht zu den Pflichten der Mitglieder des Betriebsrats, Kenntnisse über die Durchführung der Wahl an Wahlvorstandsmitglieder weiterzugeben (vgl. BAG Beschluß vom 21. November 1978, aaO; Gnade/Kehrmann/Schneider/Blanke, BetrVG, 2. Aufl., § 20 Rz 27 und Dietz/Richardi, BetrVG, 6. Aufl., § 20 Rz 32).
4. Die Erforderlichkeit der Teilnahme an einer gewerkschaftlichen Schulungsveranstaltung über die Wahlvorschriften des BetrVG und der Wahlordnung ist allein am konkreten Wissensstand des einzelnen Wahlvorstandsmitglieds in Hinblick auf die zur ordnungsgemäßen Durchführung der Betriebsratswahl notwendigen Kenntnisse zu messen. Ein Wahlvorstandsmitglied, das Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts während der durch eine Schulungsteilnahme versäumten Arbeitszeit geltend macht, hat somit an sich darzulegen, daß es keine ausreichenden Kenntnisse über die Wahlvorschriften hat und die Schulungsteilnahme zur Behebung dieses Mangels erforderlich ist. Bei erstmals berufenen Wahlvorstandsmitgliedern ist wie bei neuen Betriebsratsmitgliedern (vgl. BAG Beschluß vom 21. November 1978, aaO) im Regelfall aber die Erforderlichkeit der Vermittlung von Kenntnissen über die Wahlvorschriften zu bejahen, ohne daß dies vom betreffenden Wahlvorstandsmitglied näher dargelegt werden muß (vgl. Fitting/Auffarth/Kaiser, BetrVG, 14. Aufl., § 20 Rz 23 a; Gnade/Kehrmann/Schneider/Blanke, aaO, § 20 Rz 28; Dietz/Richardi, aaO, § 20 Rz 32; anders noch BAG Urteil vom 26. Juni 1973 – 1 AZR 170/73 –, AP Nr. 4 zu § 20 BetrVG 1972). Dann hat der Arbeitgeber darzulegen und ggf. zu beweisen, daß das neue und erstmals berufene Wahlvorstandsmitglied bereits vor seiner Schulung ausreichende Kenntnisse über die Wahlvorschriften erlangt hat oder ausreichende Kenntnisse bei den übrigen Wahlvorstandsmitgliedern vorhanden sind, die eine Schulung dieses Wahlvorstandsmitglieds erübrigen könnten.
5. Damit war davon auszugehen, daß die halbtägige Schulungsveranstaltung zur Unterweisung des Klägers als erstmals berufenes Wahlvorstandsmitglied für die Tätigkeit des Wahlvorstandes erforderlich war. Die Beklagte hat nichts Gegenteiliges dargetan. Das Verhalten der ursprünglichen Wahlvorstandsmitglieder bzw. des Betriebsrates ist unter den aufgezeigten rechtlichen Voraussetzungen für den Anspruch des Klägers gegen die Beklagte ohne Bedeutung.
Unterschriften
Dr. Auffarth, Dr. Jobs, Dr. Leinemann, Dr. Gehrunger, Stenzel
Fundstellen