Entscheidungsstichwort (Thema)
Zuständigkeit der Arbeitsgerichte bei Durchgriffshaftung
Leitsatz (redaktionell)
1. Hat das Landesarbeitsgericht die Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen mit der Begründung verneint, daß die ordentlichen Gerichte zuständig seien, so kann diese Entscheidung in der Revisionsinstanz überprüft werden; § 73 Abs 2 ArbGG ist nicht erweiternd auszulegen.
2. Die Gerichte für Arbeitssachen sind auch dann zuständig, wenn Ansprüche aus einem Sozialplan nicht gegen die sozialplanpflichtige Kapitalgesellschaft als Arbeitgeberin gerichtlich geltend gemacht werden, sondern im Wege des Durchgriffs gegen deren Alleingesellschafter.
Normenkette
ArbGG §§ 3, 2a, 73 Abs. 2
Verfahrensgang
LAG Düsseldorf (Entscheidung vom 11.12.1984; Aktenzeichen 8 Sa 1445/84) |
ArbG Essen (Entscheidung vom 02.08.1984; Aktenzeichen 1 (2) Ca 1609/84) |
Tatbestand
Der Kläger war seit 1973 bei der IRM I GmbH (künftig: IRM) beschäftigt. Deren Alleingesellschafterin war die Beklagte. Am 30. Juni 1983 wurde über das Vermögen der IRM das Konkursverfahren eröffnet. Der Betrieb wurde stillgelegt. Die Arbeitnehmer, darunter der Kläger, wurden entlassen. Aufgrund eines am 28. November 1983 abgeschlossenen Sozialplans steht dem Kläger eine Abfindung in Höhe von 31.800,-- DM zu. Der Konkursverwalter lehnte die Erfüllung der Sozialplanansprüche ab, da die Teilungsmasse nicht einmal die Masseforderungen decke. Der Kläger hat daraufhin die Beklagte in Anspruch genommen; diese müsse nach den Regeln der Durchgriffshaftung als Alleingesellschafterin der IRM für die Sozialplanansprüche einstehen. Die Beklagte hat vorweg die sachliche Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen gerügt.
Der Kläger hat vorgetragen, die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte folge aus § 2 Abs. 1 Nr. 3 a oder § 3 ArbGG. Die Zuständigkeitsregeln des Arbeitsgerichtsgesetzes seien weit auszulegen. Das ergebe sich aus dem Urteil des Vierten Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 14. November 1979 (BAGE 32, 187 = AP Nr. 2 zu § 4 TVG Gemeinsame Einrichtungen, mit Anmerkung von Grunsky). Dort habe das Bundesarbeitsgericht entschieden, daß der persönlich haftende Gesellschafter einer Personalgesellschaft Arbeitgeber sei; für den Alleingesellschafter einer GmbH gelte nichts anderes.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn einen
Betrag in Höhe von 31.800,-- DM brutto für
netto zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat geltend gemacht, die Rechtsprechung, daß persönlich haftende Gesellschafter wie Arbeitgeber zu behandeln seien, lasse sich auf die Rechtsverhältnisse bei Kapitalgesellschaften nicht übertragen. Zudem habe das Bundesarbeitsgericht die Arbeitgebereigenschaft der persönlich haftenden Gesellschafter nur aufgrund der Besonderheiten jenes Rechtsstreits bejaht. Schließlich scheide im vorliegenden Fall eine Durchgriffshaftung aus, weil von einem Mißbrauch einer rechtlich zulässigen Gesellschaftsform keine Rede sein könne. Das Volumen des Sozialplans sei seinerzeit so hoch angesetzt worden, daß es das Leistungsvermögen der IRM überschritten habe; die Wirkungen des Sozialplans hätten von vornherein sie als Gesellschafterin der IRM treffen sollen.
Das Arbeitsgericht hat durch Zwischenurteil über den Zuständigkeitsstreit entschieden und seine Zuständigkeit bejaht. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage als unzulässig abgewiesen, da die Gerichte für Arbeitssachen sachlich nicht zuständig seien. Dagegen richtet sich die Revision des Klägers.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Die Auffassung des Berufungsgerichts, für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits seien nicht die Gerichte für Arbeitssachen, sondern die ordentlichen Gerichte zuständig, ist unzutreffend.
A. Entgegen der Ansicht der Beklagten scheitert die Revision nicht an § 73 Abs. 2 ArbGG. Nach dieser Vorschrift kann eine Revision nicht darauf gestützt werden, daß die Zuständigkeit eines ordentlichen Gerichts begründet sei. Das macht der Kläger aber auch nicht geltend; er stützt seine Revision im Gegenteil darauf, daß die Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen begründet sei. Grunsky (ArbGG, 4. Aufl., § 2 Rz 32 und Anm. zu BAG AP Nr. 2 zu § 4 TVG Gemeinsame Einrichtungen), will diese Fallgestaltung dem vom Gesetz ausdrücklich geregelten Fall gleichstellen. Auch wenn ein Berufungsgericht die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte verneint, solle eine Auseinandersetzung über die sachliche Zuständigkeit in dritter Instanz nicht mehr stattfinden. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden.
Grunsky meint, der Normzweck werde verfehlt, wenn die in zweiter Instanz verneinte Zuständigkeit der Arbeitsgerichte in der Revisionsinstanz überprüft werden könne. Das überzeugt nicht. Auch wenn § 73 Abs. 2 ArbGG das Ziel verfolgt, möglichst rasch eine Sachentscheidung herbeizuführen und Streit über die Zuständigkeit zwischen allgemeiner und Arbeitsgerichtsbarkeit tunlichst zu vermeiden, ist eine ausdehnende Auslegung nicht möglich. Angesichts des klaren Wortlauts der Vorschrift muß es dabei bleiben, daß die Parteien einen Anspruch darauf haben, über die Klage durch das sachlich zuständige Gericht entscheiden zu lassen, wenn das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gelangt, das unzuständige Gericht sei angerufen worden. Nur wenn das Landesarbeitsgericht seine Zuständigkeit bejaht hat, soll es dem Revisionskläger nach dem Willen des Gesetzgebers versagt sein, den Zuständigkeitsstreit noch in dritter Instanz fortzusetzen (BAGE 32, 187, 188 f. = AP Nr. 2 zu § 4 TVG Gemeinsame Einrichtungen, mit weiteren Nachweisen).
B. Die Revision ist auch begründet. Für die vorliegende Streitsache sind die Gerichte für Arbeitssachen zuständig. Der gegenteiligen Auffassung des Berufungsgerichts kann sich der Senat nicht anschließen.
I. Das Berufungsgericht hat allerdings zu Recht angenommen, daß sich die Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen nicht unmittelbar aus § 2 Abs. 1 Nr. 3 a ArbGG herleiten läßt.
Nach dieser Vorschrift sind die Arbeitsgerichte zuständig für Rechtsstreitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Der Anspruch auf Leistungen aufgrund eines Sozialplans ist zwar ein Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis. Die Beklagte des vorliegenden Rechtsstreits ist aber nicht Arbeitgeberin i.S. des § 2 Abs. 1 Nr. 3 a ArbGG. Sie selbst hat den Sozialplan nicht abgeschlossen. Im übrigen bestanden zwischen ihr und dem Kläger keinerlei arbeitsvertragliche Beziehungen. Einen Arbeitsvertrag hatte der Kläger nur mit der IRM geschlossen; nur in deren Arbeitsorganisation war er eingegliedert.
Es bestehen auch erhebliche Bedenken, die Beklagte im Anschluß an die erwähnte Rechtsprechung des Vierten Senats des Bundesarbeitsgerichts bereits deshalb wie einen Arbeitgeber zu behandeln, weil ihr sämtliche Geschäftsanteile der IRM gehörten. Dem Berufungsgericht ist darin beizupflichten, daß der persönlich haftende Gesellschafter einer Personengesellschaft den Arbeitnehmern der Gesellschaft näher steht als der Anteilseigner einer Kapitalgesellschaft. Die Frage bedarf jedoch keiner Vertiefung, weil sich die Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen bei der Inanspruchnahme des Alleingesellschafters im Wege der Durchgriffshaftung aus § 3 ArbGG ergibt.
II. Gemäß § 3 ArbGG besteht die in den §§ 2 und 2 a ArbGG begründete Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen auch dann, wenn der Rechtsstreit durch einen Rechtsnachfolger oder eine Person geführt wird, die kraft Gesetzes an Stelle des sachlich Berechtigten oder Verpflichteten hierzu befugt ist.
1. Nach materiellem Recht tritt eine Rechtsnachfolge ein, wenn die Rechte des Gläubigers oder die Pflichten des Schuldners von einer Person auf eine andere übergehen. In diesem Sinne kann im Streitfall von einer Rechtsnachfolge keine Rede sein: Der in dem Sozialplan begründete und aus dem Arbeitsverhältnis herrührende Anspruch des Klägers bleibt gegen den ursprünglichen Schuldner gerichtet. Bei der Durchgriffshaftung wird lediglich dem persönlich nicht haftenden Gesellschafter ausnahmsweise nach den Rechtsgrundsätzen von Treu und Glauben untersagt, sich auf das Fehlen einer persönlichen Haftung zu berufen (Urteil des Senats vom 24. September 1974 - 3 AZR 589/73 - AP Nr. 1 zu § 13 GmbHG, zu III 1 a der Gründe, m.w.N.). Insofern ist der in Anspruch genommene Gesellschafter als bloßer Eigentümer der Geschäftsanteile nicht Rechtsnachfolger; er tritt nicht an die Stelle des sachlich Verpflichteten, sondern als zusätzlicher Schuldner neben ihn.
Wer im Wege der gesellschaftsrechtlichen Durchgriffshaftung in Anspruch genommen wird, ist auch nicht kraft Gesetzes befugt, den Rechtsstreit an Stelle des sachlich Verpflichteten zu führen (vgl. dazu z.B. § 265 ZPO; §§ 1368, 1422 BGB; § 13 Abs. 2 UWG).
2. § 3 ArbGG erweitert den Zuständigkeitskatalog aber nicht nur in Fällen der Forderungsabtretung oder der Schuldübernahme, sondern gilt auch für den Fall der gesellschaftsrechtlichen Durchgriffshaftung. Der Unterschied zur Rechtsnachfolge besteht nur darin, daß der im Durchgriff Haftende nicht zeitlich nachfolgend in die Verbindlichkeit des zunächst Verpflichteten eintritt, sondern daß er neben den Haftenden tritt, weil die Rechtsordnung es ihm versagt, sich hinter eine nach Gesellschaftsrecht zulässige Gestaltung der Rechtsform zurückzuziehen. Das ändert aber nichts an der arbeitsrechtlichen Natur des Anspruchs, der im Wege des Durchgriffs erhoben wird. Gerade für solche Fälle, in denen Dritte in die Parteirolle geraten, will § 3 ArbGG gewährleisten, daß nicht Gerichte verschiedener Gerichtsbarkeiten über denselben Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis entscheiden müssen. Daß bei der Inanspruchnahme des Gesellschafters einer Kapitalgesellschaft zusätzliche Merkmale (§ 242 BGB) zu den Anspruchsvoraussetzungen hinzutreten, kann nicht entscheidend sein. Das Arbeitsgerichtsgesetz will eine übereinstimmende Zuständigkeit begründen und eine einheitliche Verfahrensordnung zur Verfügung stellen, um übereinstimmende Ergebnisse zu gewährleisten.
Demgemäß wird auch im Schrifttum mit Recht allgemein die Ansicht vertreten, daß der Begriff der Rechtsnachfolge im Verfahrensrecht weit auszulegen ist (Grunsky, aa0, § 3 Rz 4; Dietz/Nikisch, ArbGG, 1954, § 2Rz 135). Als Merkmal der Zuständigkeitsbestimmung kann der Begriff nicht in dem engen Sinn des materiellen Rechts verstanden werden. Nach dem Zweck der Zuständigkeitsregelung des § 3 ArbGG kommt es nicht entscheidend darauf an, ob der Schuldner einer Verbindlichkeit aus dem Arbeitsverhältnis wechselt oder ein Dritter als Schuldner derselben Verbindlichkeit neben den Arbeitgeber tritt. Deshalb hat auch die Rechtsprechung solche Fallgestaltungen als Rechtsnachfolge i.S. des § 3 ArbGG beurteilt, bei denen ein Wechsel auf Seiten des Gläubigers oder Schuldners nicht stattfindet. Das gilt für den Schuldbeitritt, die Pfändung oder Verpfändung von Ansprüchen sowie die Verfolgung von Ansprüchen aus Verträgen zugunsten Dritter oder mit Schutzwirkung zugunsten Dritter (BGHZ 16, 339, 340; BAGE 19, 100, 103 = AP Nr. 116 zu § 242 BGB Ruhegehalt, zu I der Gründe). Rechtsnachfolger i.S. von § 3 ArbGG sind danach Personen, die arbeitsrechtliche Streitigkeiten i.S. der §§ 2 und 2 a ArbGG an Stelle der im gesetzlichen Zuständigkeitskatalog genannten Parteien führen (noch weitergehend wegen einer Gesetzeslücke Urteil des Senats vom 11. November 1986 - 3 AZR 228/86 - zur Veröffentlichung in der Fachpresse bestimmt).
3. Für den Streitfall ergibt sich, daß die Beklagte in diesem Sinne als Rechtsnachfolgerin der IRM auf Erfüllung der Forderungen aus dem umstrittenen Sozialplan in Anspruch genommen wird. Die Gerichte für Arbeitssachen sind daher für die Entscheidung des Rechtsstreits zuständig. Die Beklagte kann dem nicht entgegenhalten, rechtliche Schwierigkeiten ergäben sich hier nicht aus dem Arbeitsrecht, sondern allein aus der gesellschaftsrechtlichen Problematik der Durchgriffshaftung, für die bei Arbeitsgerichten keine spezielle Sachkunde zu erwarten sei. Die Zuständigkeitsregelung der §§ 2 ff. ArbGG bezieht sich nur auf den prozessualen Streitgegenstand und nicht auf die Art und Schwierigkeit der jeweils umstrittenen Rechtsfragen. Eine andere Abgrenzung würde zu unpraktikablen Ergebnissen führen. Es gibt keine allgemeinen Erfahrungsregeln, auf welchem Rechtsgebiet entscheidungserhebliche Fragen voraussichtlich auftreten werden. Das zeigt auch der vorliegende Fall. Sozialpläne, ihre Wirksamkeit, Auslegung und Geltung, sind mit zahlreichen und noch weitgehend ungeklärten Streitfragen verbunden. Bedeutung und Schwierigkeit dieser Rechtsfragen lassen sich nicht abstrakt gewichten und mit Fragen des Gesellschaftsrechts vergleichen.
III. Ob der Anspruch besteht, haben die Vorinstanzen bisher nicht entschieden. Dazu kann der Senat auch keine Hinweise geben, weil es an den entsprechenden Feststellungen fehlt.
Dr. Dieterich Schaub Griebeling
Hoechst Weinmann
Fundstellen
BAGE 53, 317-322 (LT1-2) |
BAGE, 317 |
BB 1987, 1396 |
NJW 1987, 2606 |
NJW 1987, 2606-2607 (LT1-2) |
KTS 1987, 502-504 (LT1-2) |
RdA 1987, 311 |
SAE 1988, 305-306 (LT1-2) |
AP § 3 ArbGG 1979 (LT1-2), Nr 2 |
AR-Blattei, Arbeitsgerichtsbarkeit VB Entsch 60 (LT1-2) |
AR-Blattei, ES 160.5.2 Nr 60 (LT1-2) |
EzA § 2 ArbGG 1979, Nr 10 (LT1-2) |
MDR 1987, 874-875 (LT1-2) |