Entscheidungsstichwort (Thema)
Fristlose Kündigung einer ordentlich unkündbaren schwerbehinderten Arbeitnehmerin. Zustimmung des Integrationsamtes: Erfordernis des Vorliegens eines förmlichen (schriftlichen) Beschlusses über die Zustimmung bei Ausspruch der Kündigung
Orientierungssatz
- Die Regelung des § 91 SGB IX gilt auch für eine außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist gegenüber einem ordentlich unkündbaren Arbeitnehmer.
- Der Arbeitgeber kann eine außerordentliche Kündigung bereits dann erklären, wenn die Zustimmungsentscheidung vom Integrationsamt iSd. § 91 Abs. 3 SGB IX “getroffen” ist und das Integrationsamt sie dem Arbeitgeber mündlich oder fernmündlich bekannt gegeben hat. Anders als bei einer ordentlichen Kündigung bedarf es der Zustellung der – schriftlichen – Entscheidung des Integrationsamtes vor dem Zugang der Kündigungserklärung nicht. § 91 SGB IX enthält eine von § 88 SGB IX abweichende, speziellere Regelung.
- Die Zustimmungsentscheidung des Integrationsamtes muss im Zeitpunkt ihrer mündlichen Mitteilung an den Arbeitgeber nicht schriftlich vorliegen; es reicht aus, dass sie tatsächlich “getroffen” worden war.
Normenkette
BGB §§ 134, 626 Abs. 1; SGB IX § 91 Abs. 1, §§ 85, 88
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der beklagten Stadt wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 29. Januar 2004 – 5 Sa 1588/03 – aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung mit Auslauffrist.
Die am 7. August 1962 geborene, verheiratete Klägerin ist mit einem Grad der Behinderung von 95 schwerbehindert. Sie ist seit dem 16. November 1987 bei der Beklagten als Angestellte beschäftigt und war zuletzt als Schulsekretärin tätig. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft arbeitsvertraglicher Vereinbarung der BAT Anwendung.
Am 2. April 2003 erhielt die Beklagte Kenntnis von einer in das Internet gestellten Dokumentation “Mobbing gegen Schwerbehinderte (…)”. Dieser ausführliche Bericht über die Zustände in der Verwaltung der Beklagten ging auf eine Darstellung der Klägerin vom August 2002 zurück. Ob die Klägerin für die Veröffentlichung verantwortlich ist, ist zwischen den Parteien streitig.
Mit Schreiben vom 7. April 2003 beantragte die Beklagte beim Integrationsamt die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung der Klägerin. Mit gleichem Datum informierte sie den Personalrat, die Gleichstellungsstelle und die Schwerbehindertenvertretung über die beabsichtigte Kündigung des Arbeitsverhältnisses.
Vor dem Integrationsamt wurde im Verhandlungstermin vom 14. April 2003 eine Einigung mit dem nachfolgenden Inhalt erzielt:
“1. Der Antrag auf Zustimmung zur außerordentlichen fristlosen Kündigung wird umgewandelt in einen Antrag auf außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist zum 31.12.2003.
2. Wenn sich herausstellt, dass Frau V… die Veröffentlichung nicht verschuldet hat, wird die Kündigung zurückgenommen. Zu diesem Zwecke soll gegen den Betreiber der Web-Site Strafanzeige erstattet werden, auch um zu erfahren, wer die Veröffentlichung veranlasst hat. Der Anwalt von Frau V… wird ebenfalls Strafanzeige erstatten, zumal die Veröffentlichung von ihr nicht autorisiert war und sie dadurch nun erhebliche Nachteile hat.
3. Wenn sich herausstellt, dass Frau V… die Veröffentlichung verschuldet hat, wird eine außerordentliche fristlose Kündigung beim Integrationsamt beantragt; von dort wird dann keine erneute gütliche Verhandlung terminiert.”
Mit Schreiben vom 15. April 2003 stimmte der Personalrat der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung der Beklagten mit sozialer Auslauffrist zu.
Die Beklagte kündigte daraufhin mit Schreiben vom selben Tage das Arbeitsverhältnis der Klägerin außerordentlich mit sozialer Auslauffrist zum 31. Dezember 2003. Die Klägerin erhielt das Kündigungsschreiben am 16. April 2003.
Unter dem 16. Juni 2003 übersandte das Integrationsamt der Beklagten eine schriftliche Begründung seiner zustimmenden Entscheidung vom 14. April 2003 zur außerordentlichen Kündigung der Klägerin mit sozialer Auslauffrist.
Die Klägerin hält die Kündigung bereits wegen einer im Zeitpunkt ihres Ausspruchs fehlenden ordnungsgemäßen Zustimmung des Integrationsamtes für unwirksam. Eine möglicherweise erteilte mündliche Zustimmung zur beabsichtigten Kündigung reiche nicht aus. Im Übrigen bestreite sie, für die von der Beklagten gerügte Internet-Dokumentation verantwortlich zu sein.
Die Klägerin hat zuletzt beantragt
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die Kündigung vom 15. April 2003 aufgelöst worden ist.
Die Beklagte hat zur Begründung ihres Klageabweisungsantrags die Auffassung vertreten, das Integrationsamt habe der Kündigung wirksam zugestimmt. Die Vertreterin des Integrationsamtes habe die Zustimmung im Verhandlungstermin am 14. April 2003 mündlich erteilt. Da die Klägerin für die Veröffentlichung der negativen und teilweise unwahren Darstellung im Internet verantwortlich sei, sei eine weitere Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar.
Das Arbeitsgericht hat nach dem Klageantrag erkannt. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der beklagten Stadt zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die beklagte Stadt weiterhin die Abweisung der Klage.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung kann die Klage keinen Erfolg haben. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist die außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist nicht schon wegen fehlender Zustimmung des Integrationsamtes nach §§ 91, 85 SGB IX iVm. § 134 BGB nichtig.
A. Das Landesarbeitsgericht hat im Wesentlichen ausgeführt, die Kündigung sei unwirksam, weil die allenfalls mündlich erteilte Zustimmung vom 14. April 2003 nicht den gesetzlichen Anforderungen der §§ 85, 91 SBG IX genüge. Zwar reiche es aus, wenn die Zustimmung des Integrationsamtes dem Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigung mündlich bekannt gegeben worden sei. Es sei dann aber notwendig, dass eine schriftliche Entscheidung des Integrationsamtes vorliege. Dies folge aus einer Auslegung der §§ 85, 88 und 91 SGB IX. Die Entscheidung des Integrationsamtes sei nach § 88 Abs. 2 SGB IX dem Arbeitgeber und dem schwerbehinderten Menschen zuzustellen. Auch die zustimmende Entscheidung zu einer außerordentlichen Kündigung habe schriftlich zu ergehen. Die Schriftform beziehe sich nicht nur auf die Begründung, sondern auch auf die Entscheidung selbst. Das Vorliegen einer schriftlichen Entscheidung sei aus Gründen der Rechtssicherheit geboten.
B. Dem folgt der Senat nicht.
I. Die Kündigung vom 15. April 2003, mit der die beklagte Stadt das Arbeitsverhältnis der schwerbehinderten Klägerin außerordentlich mit Auslauffrist beenden wollte, ist nicht bereits deshalb nach § 134 BGB nichtig, weil zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung noch keine schriftliche Zustimmungserklärung des Integrationsamtes vorgelegen hat und es damit an der gesetzlich geforderten Zustimmung nach § 91 Abs. 1, § 85 SGB IX gemangelt hätte.
1. Die Regelung des § 91 SGB IX gilt auch für eine außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist gegenüber einem ordentlich unkündbaren Arbeitnehmer (BAG 12. August 1999 – 2 AZR 748/98 – AP SchwbG 1986 § 21 Nr. 7 = EzA SchwbG 1986 § 21 Nr. 10; KR-Etzel 7. Aufl. § 91 SGB IX Rn. 2).
2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann der Arbeitgeber eine außerordentliche Kündigung mit – notwendiger – Auslauffrist bereits dann erklären, wenn die Zustimmungsentscheidung vom Integrationsamt iSd. § 91 Abs. 3 SGB IX “getroffen” ist und das Integrationsamt sie dem Arbeitgeber – innerhalb der gesetzlichen Zwei-Wochen-Frist des § 91 Abs. 3 SGB IX – mündlich oder fernmündlich bekannt gegeben hat. Anders als bei einer ordentlichen Kündigung bedarf es der Zustellung der – schriftlichen – Entscheidung des Integrationsamtes vor dem Zugang der Kündigungserklärung nicht. § 91 SGB IX enthält eine von § 88 SGB IX abweichende, speziellere Regelung (15. November 1990 – 2 AZR 255/90 – AP SchwbG 1986 § 21 Nr. 6 = EzA SchwbG 1986 § 21 Nr. 3; 9. Februar 1994 – 2 AZR 720/93 – BAGE 75, 358; 15. Mai 1997 – 2 AZR 43/96 – BAGE 86, 7; 12. August 1999 – 2 AZR 748/98 – AP SchwbG 1986 § 21 Nr. 7 = EzA SchwbG 1986 § 21 Nr. 10; KR-Etzel § 91 SGB IX Rn. 16; ErfK/Rolfs 5. Aufl. § 91 SGB IX Rn. 5 und 7).
3. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts braucht die Zustimmungsentscheidung des Integrationsamtes im Zeitpunkt ihrer mündlichen Mitteilung an den Arbeitgeber nicht schon schriftlich vorzuliegen, sondern muss nur getroffen sein.
a) § 85 SGB IX legt, worauf das Landesarbeitsgericht zutreffend hingewiesen hat, mit seiner Formulierung “bedarf der vorherigen Zustimmung” keine bestimmte Form für die Zustimmungserteilung fest. Auch § 91 SGB IX enthält keine Regelung über die Form der Zustimmungserklärung. Aus diesen Normen kann daher nicht geschlossen werden, die Zustimmungsentscheidung des Integrationsamtes müsse bei ihrer Bekanntgabe zwingend in schriftlicher Form vorliegen.
b) Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts lässt sich auch nicht aus dem Sachzusammenhang der gesetzlichen Regelungen der §§ 85 ff. SGB IX und deren Sinn und Zweck ableiten, dass bei Bekanntgabe einer positiven Zustimmungsentscheidung des Integrationsamtes ein schriftlicher Bescheid schon vorliegen müsse.
aa) Zwar sieht § 88 Abs. 2 SGB IX, der über § 91 Abs. 1 SGB IX grundsätzlich auch für die außerordentliche Kündigung gilt, vor, dass dem Arbeitgeber und dem schwerbehinderten Arbeitnehmer die Entscheidung zugestellt und der Bundesagentur für Arbeit eine Abschrift der Entscheidung übersandt wird. Das gesetzliche Erfordernis der Zustellung des Integrationsamtes setzt notwendigerweise das Vorhandensein einer schriftlichen Entscheidung voraus; ansonsten kann überhaupt keine “Zustellung” erfolgen (allgem. Ansicht: KR-Etzel 7. Aufl. §§ 85 bis 90 SGB IX Rn. 97; APS/Vossen 2. Aufl. § 88 SGB IX Rn. 5; Hauck/Noftz/Griebeling SchwbG § 88 Rn. 8). Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass die Zustimmungsentscheidung zum Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe an den Arbeitgeber bereits in schriftlicher Form vorliegen muss. Die nach § 88 Abs. 2 SGB IX erforderliche Zustellung an beide Beteiligte ist nur insoweit von Bedeutung, als von ihr der Beginn der verwaltungsprozessualen Widerspruchsfrist abhängt (vgl. Senat 15. November 1990 – 2 AZR 255/90 – AP SchwbG 1986 § 21 Nr. 6 = EzA SchwbG 1986 § 21 Nr. 3; 21. April 2005 – 2 AZR 255/04 –, zur Veröffentlichung vorgesehen). Dies zeigt sich deutlich in den Fällen, in denen die Zustimmung des Integrationsamtes nach § 91 Abs. 3 Satz 2 SBG IX fingiert wird. Auch in diesen Fällen ist das Integrationsamt nicht von der sich aus § 88 Abs. 2, § 91 Abs. 1 SGB IX ergebenden Verpflichtung befreit, die Zustimmungsentscheidung zur außerordentlichen Kündigung dem Arbeitgeber und dem schwerbehinderten Arbeitnehmer zuzustellen (APS/Vossen § 91 SGB IX Rn. 12). Erst durch die noch vorzunehmende Zustellung der Entscheidung wird die Widerspruchsfrist für den schwerbehinderten Arbeitnehmer ausgelöst (zum Ganzen: BVerwG 10. September 1992 – 5 C 39/88 – BVerwGE 91, 7, 10).
bb) Auch der Sinn und Zweck der §§ 85 ff. SGB IX erfordern das Vorliegen eines schriftlichen Zustimmungsbescheides des Integrationsamtes vor Ausspruch der außerordentlichen Kündigung nicht.
Die Spezialregelung des § 91 Abs. 5 SGB IX stellt klar, dass nach einer vom Integrationsamt erteilten Zustimmung keine neue Ausschlussfrist gemäß § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB beginnt (BAG 22. Januar 1987 – 2 ABR 6/86 – BAGE 55, 9). Nach § 91 Abs. 5 SGB IX kann deshalb die Kündigung auch nach Ablauf dieser Frist erfolgen, wenn sie unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung des Integrationsamtes erklärt wird. Die gesetzliche Regelung stellt sicher, dass der Arbeitgeber die Kündigung auch noch nach Ablauf der Frist des § 626 Abs. 2 BGB aussprechen kann. § 91 Abs. 5 SGB IX dient somit dem Schutz des Arbeitgebers und seinem Beschleunigungsinteresse (vgl. zur inhaltsgleichen Norm des § 21 SchwbG 1986 Senat 15. November 1990 – 2 AZR 255/90 – aaO). Darüber hinaus sieht § 91 Abs. 3 SGB IX sowohl für die zustimmende als auch für die ablehnende Entscheidung des Integrationsamtes besondere fristwahrende Regelungen zur Behandlung des Zustimmungsantrags durch das Integrationsamt vor bzw. etabliert eine gesetzliche Zustimmungsfiktion. Auch diese Norm will den Arbeitgeber und sein Beschleunigungsinteresse schützen. Es widerspricht deshalb dem Gesetzeszweck, bei einer positiven Entscheidung des Integrationsamtes zur Kündigung noch das Vorliegen eines schriftlichen Bescheides zu verlangen (vgl. BAG 15. November 1990 – 2 AZR 255/90 – aaO). Nach Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung des § 91 Abs. 3 SGB IX reicht es aus, wenn die Zustimmungsentscheidung vom Integrationsamt “getroffen” worden ist. Es ist lediglich der Abschluss des behördeninternen Entscheidungsvorgangs zu fordern (BAG 13. Mai 1981 – 7 AZR 144/79 BAGE 35, 268; 9. Februar 1994 – 2 AZR 720/93 – BAGE 75, 358).
4. Sollte deshalb, wie von der Beklagten behauptet, das Integrationsamt am 14. April 2003 eine positive Zustimmungsentscheidung getroffen und der Beklagten mitgeteilt haben, so wäre die außerordentliche Kündigung vom 15. April 2003 jedenfalls nicht wegen eines zu diesem Zeitpunkt noch fehlenden schriftlichen Zustimmungsbescheids nichtig. Ob das Integrationsamt der beabsichtigten Kündigung wenigstens mündlich definitiv zugestimmt hatte, kann auf Grund der bisherigen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht beurteilt werden. Das Berufungsgericht wird deshalb zunächst näher aufzuklären haben, ob das Integrationsamt am 14. April 2003 eine entsprechende Entscheidung getroffen und der Beklagten mündlich mitgeteilt hat.
II. Sollte das Integrationsamt eine wirksame Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung der Klägerin erteilt haben, so wird das Landesarbeitsgericht weiter zu prüfen haben, ob für die außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist ein wichtiger Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB, § 54 Abs. 1 BAT vorliegt. Hierzu fehlen bisher konsequenterweise die notwendigen Feststellungen. Auch aus diesem Grund war der Rechtsstreit an das Berufungsgericht gemäß § 563 Abs. 1 ZPO zurückzuverweisen.
Unterschriften
Rost, Schmitz-Scholemann, Eylert, Baerbaum, Beckerle
Fundstellen
NJW 2005, 3514 |
FA 2005, 310 |
FA 2006, 93 |
NZA 2005, 1173 |
ZTR 2006, 215 |
AP, 0 |
EzA |
br 2006, 18 |
ArbRB 2005, 362 |
FSt 2006, 685 |
SPA 2006, 5 |