Entscheidungsstichwort (Thema)
Zuschuß zum Krankengeld – Bruttokrankengeld. Krankengeld. Zuschuß zum Krankengeld. Beitragspflicht des Krankengeldes. Pflegeversicherung. Bruttokrankengeld. Nettokrankengeld
Leitsatz (amtlich)
Einem tariflichen Anspruch auf Zahlung des „Unterschiedsbetrags zwischen dem Krankengeld und 90 % des Nettoeinkommens” liegt mangels abweichender Anhaltspunkte das Krankengeld iSd. §§ 44 ff., 47 SGB V (sog. Bruttokrankengeld) zugrunde (hier: § 20 des allgemeinverbindlichen Manteltarifvertrags für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen vom 20. September 1996).
Orientierungssatz
1. Wollen die Tarifvertragsparteien, nachdem das Krankengeld der Beitragspflicht unterliegt, die entstehende Lücke zur Nettovergütung durch eine Erhöhung des tariflichen Krankengeldzuschusses ganz oder teilweise ausgleichen, können und müssen sie das im Tarifvertrag zum Ausdruck bringen. Das gilt auch nach Einführung der Beitragspflicht zur Pflegeversicherung mit Wirkung ab 1. Januar 1995.
2. Der Sinn einer tariflichen Zuschußregelung besteht nicht ohne weiteres darin, dem Arbeitnehmer im Ergebnis den Bezug eines bestimmten Prozentsatzes seines Nettoeinkommens zu garantieren.
Normenkette
Allgemeinverbindlicher Manteltarifvertrag für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen vom 20. September 1996 § 20; SGB V § 47; SGB XI § 57 Abs. 2, § 59 Abs. 2; SGB V § 11 ff., § 44 ff.; Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit – PflegeVG – vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) Art. 68 Abs. 1; Beitragsentlastungsgesetz vom 1. November 1996 (BGBl. I S. 1631) Art. 2
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 26. Juli 2000 – 2 Sa 502/00 – wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe des Krankengeldzuschusses gem. § 20 des allgemeinverbindlichen Manteltarifvertrags für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen vom 20. September 1996 (MTV).
Der Kläger ist seit 1978 bei dem beklagten Einzelhandelsunternehmen als LKW-Fahrer gegen eine durchschnittliche Monatsvergütung von 5.017,00 DM brutto beschäftigt. In der Zeit vom 24. November 1998 bis zum 16. März 1999 war er arbeitsunfähig krank. Die Betriebskrankenkasse gewährte ihm für die Zeit vom 5. Januar 1999 bis zum 16. März 1999 ein kalendertägliches Krankengeld in Höhe von 101,78 DM (sog. Bruttokrankengeld). Davon behielt sie den auf den Kläger entfallenden Anteil des Beitrags zur Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung in Höhe von täglich 14,51 DM ein und zahlte 87,27 DM (sog. Nettokrankengeld) je Kalendertag aus. Mit Schreiben vom 6. Mai 1999 verlangte der Kläger von der Beklagten den Zuschuß zum Krankengeld nach Maßgabe des § 20 MTV.
Diese Bestimmung lautet wie folgt:
„§ 20
Krankengeldzuschuß
(1) Den Arbeitnehmern ist nach zehnjähriger ununterbrochener Betriebs-/Unternehmenszugehörigkeit der Unterschiedsbetrag zwischen dem Krankengeld und 90 % des Nettoeinkommens über die gesetzliche Regelung hinaus für weitere sechs Wochen, bei über 20jähriger Betriebs-/Unternehmenszugehörigkeit darüber hinaus nach freiem Ermessen zu zahlen.
(2) Bei Angestellten, die der gesetzlichen Krankenversicherungspflicht nicht unterliegen, ist im Falle des Abs. 1 der Unterschiedsbetrag zwischen dem Höchstsatz des Krankengeldes für Pflichtversicherte (fiktives Krankengeld) und 90 % des Nettogehaltes zu zahlen.
(3) Die Ansprüche gemäß Absätzen 1 und 2 erlöschen in jedem Fall mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses.”
Die Beklagte zahlte an den Kläger 161,36 DM. Bei diesem Betrag handelt es sich um die Differenz zwischen dem Bruttokrankengeld für die siebte bis zwölfte Woche der Arbeitsunfähigkeit und 90 % des letzten Nettoeinkommens des Klägers. Der Kläger hält die Berechnung für unzutreffend. Er meint, die Beklagte müsse nach Sinn und Zweck der Tarifnorm die Differenz zwischen dem Nettokrankengeld und 90 % des Nettoeinkommens als Krankengeldzuschuß zahlen.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 609,34 DM netto nebst 4 % Zinsen seit dem 3. Januar 2000 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen, und geltend gemacht, nach der Tarifregelung sei das Bruttokrankengeld aufzustocken.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit dieser verfolgt der Kläger seinen Zahlungsantrag unverändert weiter. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung eines restlichen Krankengeldzuschusses nach § 20 Abs. 1 MTV. Die tarifliche Zuschußregelung geht von dem Bruttokrankengeld aus. Eine andere Anspruchsgrundlage kommt nicht in Betracht.
1. Nach dem Tarifwortlaut wird der Unterschiedsbetrag zwischen dem „Krankengeld” und 90 % des Nettoeinkommens geschuldet. Beim Krankengeld handelt es sich um einen sozialversicherungsrechtlichen Begriff mit einer ganz bestimmten Bedeutung in der Rechtsterminologie. Verwenden die Tarifvertragsparteien einen solchen Begriff im Tarifvertrag, ist davon auszugehen, daß er hier ebenfalls diese Bedeutung haben soll, soweit sich nicht aus dem Tarifvertrag selbst etwas anderes ergibt (vgl. nur BAG 19. August 1987 – 4 AZR 128/87 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Fernverkehr Nr. 3).
Die tarifliche Leistung ergänzt das gesetzliche Krankengeld (vgl. nur BAG 24. April 1996 – 5 AZR 798/94 – AP BGB § 616 Nr. 96, zu 1 der Gründe). Das Krankengeld beträgt 70 vom Hundert des erzielten regelmäßigen Arbeitsentgelts und Arbeitseinkommens, soweit es der Beitragsberechnung unterliegt (Regelentgelt). Es darf 90 vom Hundert des Nettoarbeitsentgelts nicht übersteigen (§ 47 Abs. 1 Satz 1, 2 SGB V). Das ist – ebenso wie generell in den §§ 44 ff. SGB V – das volle, nicht um die Arbeitnehmeranteile zur Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung geminderte Krankengeld, also das Bruttokrankengeld. An keiner Stelle bezeichnet das Gesetz nur den dem Arbeitnehmer zufließenden Auszahlungsbetrag als Krankengeld (BAG 24. April 1996 aaO, zu 3 der Gründe; 21. August 1997 – 5 AZR 517/96 – AP BGB § 616 Nr. 98, zu 3 c der Gründe). Die abzuführenden Beiträge zählen nach der Systematik des Gesetzes als Leistungen der Krankenversicherung (§§ 11 ff. SGB V) zum Krankengeld, während die Beitragspflichten bei den einzelnen Versicherungszweigen geregelt sind.
2. Der anspruchsbegründende MTV vom 20. September 1996 ist seit dem 1. November 1996 in Kraft. Die Vorschrift des § 20 fand sich inhaltsgleich bereits im Manteltarifvertrag für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen vom 13. Dezember 1980, gültig ab 1. Januar 1981 (dort als § 16), ebenso in den sich anschließenden Manteltarifverträgen vom 15. Mai 1985, gültig ab 1. Januar 1985 (dort als § 16), vom 6. Juli 1989, gültig ab 1. Januar 1989 (dort als § 18) und vom 23. Juli 1993, gültig ab 1. Januar 1993 (dort als § 19). Die Tarifvertragsparteien haben also ihre Zuschußregelung unverändert gelassen, auch nachdem das Krankengeld mit Wirkung vom 1. Januar 1984 der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung unterworfen wurde (vgl. hierzu BAG 10. Dezember 1986 – 5 AZR 517/85 – BAGE 54, 30, 31, 34 f.; 24. April 1996 aaO, zu 4 der Gründe; 21. August 1997 aaO, zu 3 a der Gründe). Dasselbe gilt hinsichtlich der Einführung der Beitragspflicht zur Pflegeversicherung durch die § 57 Abs. 2, § 59 Abs. 2 SGB XI mit Wirkung ab dem 1. Januar 1995 (Art. 68 Abs. 1 des Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit – PflegeVG – vom 26. Mai 1994, BGBl. I S 1014).
Hätten die Tarifvertragsparteien nach Wirksamwerden der Abführungspflicht von Beiträgen zugunsten der Arbeitnehmer die entstehende Lücke zur Nettovergütung durch eine Erhöhung des Krankengeldzuschusses ganz oder teilweise ausgleichen wollen, hätten sie das im Tarifvertrag zum Ausdruck bringen können und müssen. Der Zweck einer bestimmten Sicherung der Nettovergütung des Arbeitnehmers war nicht ein für allemal verbindlich vorgegeben. Zum einen treffen die neuen gesetzlichen Belastungen gerade die Arbeitnehmer, zum anderen erfolgt die Beitragsabführung zu ihren Gunsten. Der Ausgleich eines solchen Abzugs war und ist im Tarifvertrag nicht vorgesehen (vgl. BAG 10. Dezember 1986 aaO S 35 f.; 6. Mai 1987 – 5 AZR 316/85, 5 AZR 317/85, 5 AZR 347/86, 5 AZR 765/85, 5 AZR 182/86 – alle nv.; 24. April 1996 aaO, zu 2 – 4 der Gründe). Ohne eine ausdrückliche Regelung kann nicht davon ausgegangen werden, daß die Tarifvertragsparteien die wirtschaftliche Belastung des Arbeitgebers um die Differenz von Brutto- und Nettokrankengeld erhöhen und damit die laut Gesetz vom Arbeitnehmer zu tragenden Beitragsanteile zur Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung dem Arbeitgeber auferlegen wollten. Insofern gilt für die verhältnismäßig geringen Beiträge zur zugunsten der Arbeitnehmer neu eingeführten Pflegeversicherung nichts anderes als für die Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Die Tarifvertragsparteien können die neue Beitragspflicht zur Pflegeversicherung auch nicht mehr rückwirkend berücksichtigen, nachdem sie die bisherige Tarifregelung im Jahre 1996 erneuert haben.
3. Der Sinn und Zweck der tariflichen Zuschußregelung besteht demnach in einer Minderung der dem kranken Arbeitnehmer entstehenden wirtschaftlichen Nachteile. Keinesfalls hat die Vorschrift ihren Sinn gänzlich verloren. Im Gegenteil können sich weitere Verbesserungen auf Grund der Tarifregelung für die Arbeitnehmer nach der Absenkung des Krankengeldes auf 70 vom Hundert des Regelentgelts ergeben. Soweit die Änderungen auf Grund von Art. 2 des Beitragsentlastungsgesetzes vom 1. November 1996 (BGBl. I S 1631) – Ersetzung der Zahl „80” durch die Zahl „70” in § 47 Abs. 1 Satz 1 SGB V und der Obergrenze von 100 % des Nettoarbeitsentgelts durch die Obergrenze von 90 % in § 47 Abs. 1 Satz 2 SGB V – seit dem 1. Januar 1997 Auswirkungen auf den tariflichen Anspruch auf Krankengeldzuschuß haben, geht das ausschließlich zu Lasten der Arbeitgeber. Aufgrund der Absenkung des Krankengeldes erhöht sich rechnerisch der Unterschiedsbetrag zum Nettoeinkommen.
Entgegen der Auffassung der Revision soll der Arbeitnehmer nicht stets im Ergebnis in den Genuß einer abzugsfreien Zahlung in Höhe von 90 % seines Nettoeinkommens gelangen. Das kam zu keiner Zeit so im Tarifvertrag zum Ausdruck, weil dieser immer schon an das gesetzlich vorgegebene, Änderungen unterliegende Krankengeld anknüpft und Steuern auf den Krankengeldzuschuß nicht dem Arbeitgeber auferlegt. Zudem war der Zuschuß schon 1980 auf 90 % des Nettoeinkommens begrenzt, obwohl der Zahlbetrag des Krankengeldes diese Grenze damals vielfach überschritt. Wenn die gesetzliche Krankengeldregelung des § 47 SGB V jetzt selbst das nach einem Prozentsatz des Bruttoarbeitsentgelts berechnete Krankengeld mit 90 % des Nettoarbeitsentgelts vergleicht, bestätigt das die Sinngebung des Tarifvertrags. Deshalb ist der Krankengeldzuschuß so zu berechnen wie vor Einführung der Beitragspflicht des Krankengeldes, nämlich als Differenz zwischen dem Krankengeld im Sinne des Krankenversicherungsrechts (§ 47 Abs. 1 SGB V) und 90 % des Nettoentgelts.
4. Der Kläger hat gem. § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Revision zu tragen.
Unterschriften
Müller-Glöge, Mikosch, Linck, Heel, Dittrich
Fundstellen
Haufe-Index 742912 |
BB 2002, 1652 |
BB 2002, 1964 |
DB 2002, 1778 |
ARST 2002, 210 |
FA 2002, 358 |
FA 2002, 361 |
NZA 2003, 49 |
ZTR 2002, 386 |
AP, 0 |
EzA-SD 2002, 14 |
EzA |
PERSONAL 2002, 55 |
AUR 2002, 279 |
RdW 2002, 471 |