Entscheidungsstichwort (Thema)
Hemmung der Verjährungsfrist
Leitsatz (NV)
Es ist ernstlich zweifelhaft, ob der Ablauf der Verjährungsfrist gemäß § 146 a Abs. 1 AO auch durch den Einspruch gegen einen unwirksamen Steuerbescheid gehemmt werden kann.
Normenkette
AO § 146a Abs. 1; AO 1977 § 171 Abs. 3; FGO § 69
Tatbestand
Die Antragstellerin erwarb 1971 einen Bauplatz in der Gemarkung Me. Der vereinbarte Kaufpreis betrug 1 Mio DM. Der Kauf wurde durch die Bank finanziert.
Nachdem sie als Eigentümerin im Grundbuch eingetragen war, brachte die Antragstellerin dieses Grundstück im Mai 1972 als stille Gesellschafterin in die Verwaltungsgesellschaft mbH & Co. KG (KG) mit Sitz in M ein. Die KG übernahm die in Abteilung III eingetragene Grundschuld von 1,5 Mio DM. Der Wert des Grundstücks wurde in dieser Urkunde mit 1 250 000 DM angegeben. Die Antragstellerin sollte den Differenzbetrag zwischen der übernommenen Belastung - die niedriger valutierte als die eingetragene Grundschuld - und dem Wert der Einlage nach dem Kurswert des Schweizer Franken vom Mai 1972 vergütet erhalten.
Nach Abschnitt VII der Vertragsurkunde von 1972 sollte die Antragstellerin monatlich 4 000 DM bis 96 000 DM als zinsloses Darlehen erhalten. Das Darlehen sollte mit einem Gewinnanteil der Antragstellerin bei der späteren Verwertung des Grundstücks durch die KG verrechnet werden.
In einer späteren Vereinbarung zwischen der KG und der Antragstellerin vom April 1973 wurde der Vertrag vom Mai 1972 geändert. Danach sollte das Grundstück in Me. nunmehr auch unbebaut veräußert werden können. In Ziffer II des Vertrags wurde vereinbart, daß die Antragstellerin aus dem Verwertungserlös des gesamten Grundstücks einen Barbetrag von 200 000 DM erhalten sollte. Eine Zahlung von 20 000 DM und die monatliche Zahlung von 4 000 DM sollten als Vorauszahlungen auf den Gewinnanspruch von 200 000 DM angerechnet werden.
Am 11. September 1973 erhielt die Antragstellerin einen Scheck über 195 000 DM. In diesem Zusammenhang vereinbarten die Parteien, daß sie keine Ansprüche mehr gegeneinander hätten.
Das FA rechnete der Antragstellerin für das Streitjahr 1973 Einkünfte aus Kapitalvermögen in Höhe von X DM zu und setzte die Einkommensteuer auf Y DM fest.
In der Einspruchsentscheidung ging das FA von Einnahmen der Antragstellerin aus Kapitalvermögen in Höhe von X DM aus und setzte die Einkommensteuer auf Y DM, die Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer auf . . . DM und den Stabilitätszuschlag auf . . . DM fest.
Nach Erhebung der Klage beauftragte das FG den Buchsachverständigen beim FG, die der Antragstellerin im Jahre 1973 tatsächlich zugeflossenen Beträge aus dem Grundstücksgeschäft und aus der im Mai 1972 mit der KG abgeschlossenen stillen Gesellschaft festzustellen. In seinem nem Gutachten errechnete der Gutachter Einnahmen der Antragstellerin für das Streitjahr 1973 aus der stillen Gesellschaft in Höhe von X DM.
Das FG wies die Klage der Antragstellerin und ihres Ehemanns hinsichtlich der Einkommensteuer 1973 als unbegründet zurück.
Nachdem die Antragstellerin und ihr Ehemann gegen die Nichtzulassung der Revision durch das FG Beschwerde eingelegt hatten, stellte die Antragstellerin den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheids 1973 beim FG. Das FG erklärte sich für unzuständig und verwies die Sache an den BFH.
Das FA hat den zuvor bei ihm gestellten Aussetzungsantrag zurückgewiesen.
Ihren Antrag begründet die Antragstellerin unter anderem wie folgt:
Der streitige Einkommensteuerbescheid 1973 sei ihr nicht wirksam bekanntgemacht worden. Eine Steuerhinterziehung durch die Antragstellerin komme nicht in Betracht, da die Zuflüsse der Finanzbehörde bereits im Jahre 1975 bekannt gewesen seien.
Die Antragstellerin beantragt, die Vollziehung des Einkommensteuerbescheids 1973 in der Form der Einspruchsentscheidung vom 18. Mai 1982 in Höhe von . . . DM Einkommensteuer, . . . DM Ergänzungsabgabe, . . . DM Stabilitätszuschlag sowie Säumniszuschläge in Höhe von . . . DM auszusetzen.
Das FA beantragt, den Antrag abzuweisen.
Es verweist zur Begründung auf die Stellungnahme zur Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision.
Entscheidungsgründe
Der Antrag ist zulässig und begründet.
Er ist zwar an das FG gestellt, obwohl dieses nach Einlegung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision nicht mehr Gericht der Hauptsache (§ 69 Abs. 3 Satz 1 FGO) war (BFH-Beschluß vom 30. Mai 1967 VI S 3/67, BFHE 89, 114, BStBl III 1967, 530). Dieser Mangel ist aber durch die Verweisung des Rechtsstreits an den BFH geheilt (§ 70 Abs. 2 Satz 3 FGO; Gräber / Koch, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 70 Rdnr. 27).
Die Vollziehung des streitigen Einkommensteuerbescheids 1973 war auszusetzen, weil ernstliche Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit bestehen (§ 69 Abs. 2 Satz 2 FGO). Nach dem Vorbringen der Antragstellerin ist es möglich, daß der Einkommensteueranspruch verjährt war, als er in der Einspruchsentscheidung 1982 erstmalig festgesetzt wurde.
Für die Verjährung gelten nach Art. 97 § 10 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) die Vorschriften der AO. Danach begann die Verjährungsfrist für den Einkommensteueranspruch 1973 mit Ablauf des Jahres 1976 (§ 145 Abs. 2 Nr. 1 AO), denn die Antragstellerin hat keine Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1973 abgegeben, und eine vom Ehemann der Antragstellerin allein unterzeichnete Einkommensteuererklärung - ohne Angabe über Einkünfte aus Kapitalvermögen - wurde erst 1979 abgegeben.
Der Einkommensteueranspruch war möglicherweise mit Ablauf des Jahres 1981, d. h. fünf Jahre nach dem Beginn der Verjährungsfrist 1976 (§ 144 AO) erloschen (§ 148 AO).
Die Verjährung ist nicht durch den Einkommensteuerbescheid 1973 vom 26. Oktober 1978, in dem die Besteuerungsgrundlagen für die Einkommensteuer 1973 geschätzt worden waren, unterbrochen worden, weil er der Antragstellerin nicht wirksam bekanntgemacht worden ist. Er ist nur in einer Ausfertigung beiden Eheleuten zugeschickt worden (BFH-Urteil vom 26. März 1985 VIII R 225/83, BFHE 143, 491, BStBl II 1985, 603; BFH-Beschluß vom 22. Oktober 1975 I B 38 /75, BFHE 117, 205, BStBl II 1976, 136). § 155 Abs. 5 AO 1977 ist erst durch das Steuerbereinigungsgesetz (StBereinG) 1986 (BGBl I 1985, 2436) eingefügt worden und galt 1978 noch nicht (Förster in Koch, Abgabenordnung - AO 1977 -, 3. Aufl., § 155 Rdnr. 47).
Es ist fraglich, ob die Verjährung durch den Einspruch der Klägerin und ihres Ehemannes vom 14. November 1978 gegen den Einkommensteuerbescheid 1973 vom 26. Oktober 1978 gemäß § 146 a I AO gehemmt wurde. Der Einspruch richtet sich seitens der Antragstellerin gegen einen Bescheid, der ihr gegenüber nicht wirksam geworden ist. Der BFH hat zwar in einem ähnlichen Fall die Hemmung der Verjährung bejaht (Urteil vom 17. Februar 1982 II R 176/80, BFHE 135, 234, BStBl II 1982, 524, Bescheid war wegen inhaltlicher Unbestimmtheit aufgehoben worden). Das FG Düsseldorf (Urteil vom 9. August 1985 XV 431/85 E, EFG 1986, 57) sowie Tipke / Kruse (Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 171 AO 1977 Rdnr. 10) und Hübschmann / Hepp / Spitaler (Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 169 AO 1977 Rdnr. 19) gehen aber mit beachtlichen Gründen für § 171 Abs. 3 AO 1977 davon aus, daß der angefochtene Bescheid wirksam sein muß, wenn seine Anfechtung den Ablauf der Festsetzungsfrist hemmen soll. Gegen das Urteil des FG Düsseldorf ist Revision eingelegt (Az. IX R 201/85), über die noch nicht entschieden ist.
Insofern besteht Unsicherheit in der Beurteilung einer Rechtsfrage. Darüber hinaus besteht Unklarheit in der Beurteilung einer Tatfrage (zu diesen Voraussetzungen BFH-Beschluß vom 10. Februar 1987 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182).
Die Verjährungsfrist beträgt im Streitfall möglicherweise nicht 10 Jahre, weil Steuerbeträge hinterzogen worden sind (§ 144 Abs. 1 AO).
Der Senat berücksichtigt dabei die Erfolgsaussichten des fortgesetzten Klageverfahrens nach Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das FG (BFH-Beschluß vom 21. November 1973 I S 8/73, BFHE 110, 498, BStBl II 1974, 114). Das Urteil des FG ist bei der für dieses Verfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage aufzuheben, weil das FG einem Beteiligten das rechtliche Gehör versagt hat (Art. 103 Abs. 1 GG, § 119 Nr. 3 FGO).
Es hat der Antragstellerin keine Gelegenheit gegeben, sich zu den Tatsachen, aufgrund deren das FG eine Steuerhinterziehung bejaht hat, zu äußern. Gleiches gilt im Bezug auf den rechtlichen Gesichtspunkt, daß der Tatbestand des § 392 Abs. 1 AO und des § 144 Abs. 1 AO erfüllt sei. Im Verwaltungsverfahren, insbesondere in dem Einkommensteuerbescheid vom 26. Oktober 1978 und in der Einspruchsentscheidung vom 18. Mai 1982, ist von einer Steuerhinterziehung nicht die Rede. Nach dem Inhalt der finanzgerichtlichen Akten ist die Frage der Verjährung und Steuerhinterziehung auch im finanzgerichtlichen Verfahren nicht - insbesondere auch nicht in der mündlichen Verhandlung - zur Sprache gekommen. Das FG hat der Antragstellerin das rechtliche Gehör nicht gewährt, weil sie sich ohne Hinweis des FG zu diesem Punkt nicht äußern konnte. Die Frage der Verjährung stellt sich auch nicht so offensichtlich, daß sich ein Hinweis des FG erübrigt hätte.
Die Zurückverweisung an das FG ist geboten, weil es sich bei der Versagung des rechtlichen Gehörs um einen absoluten Revisionsgrund handelt und die Feststellungen des FG zudem die Entscheidung tragen (vgl. Gräber / Ruban, a.a.O., § 119 Rdnr. 14).
Nach Zurückverweisung der Sache ist bei summarischer Prüfung ernstlich mit der Aufhebung des angefochtenen Einkommensteuerbescheids zu rechnen. Der Tatbestand der Steuerhinterziehung (§ 392 Abs. 1 AO) ist nämlich nur verwirklicht, wenn das FA sich im Irrtum oder in Unkenntnis des steuerlich relevanten Sachverhalts befindet (Franzen / Gast / Samson, Steuerstrafverfahren, 3. Aufl., § 370 Rdnr. 163; Hübschmann / Hepp / Spitaler, a.a.O., § 392 Rdnr. 11). Das ist nicht der Fall, wenn das FA über den Sachverhalt vor Vollendung der strafbaren Handlung bereits informiert ist. Die Antragstellerin hat vorgetragen, daß das FA 1975 über die streitigen Geldzahlungen informiert gewesen sei. Das könnte noch vor Abschluß der Veranlagungsarbeiten der Fall gewesen sein, denn das FG hat insofern nur festgestellt, daß die Veranlagungsarbeiten 1975 abgeschlossen waren. Erst mit Abschluß der Veranlagungsarbeiten war aber der Tatbestand der Hinterziehung der Einkommensteuer durch Unterlassen vollendet (vgl. Zöller in Koch, a.a.O., § 370 Rdnr. 48). Das FA hat zu der Behauptung der Antragstellerin nicht Stellung genommen. Die Behauptung ist durchaus glaubhaft, weil das FA von den Zahlungen im Zusammenhang mit Prüfungen bei der zahlenden KG erfahren haben kann.
Es bestehen insoweit Zweifel in tatsächlicher Hinsicht, die zu beheben dem Hauptverfahren vorbehalten bleibt. In diesem summarischen Verfahren kann sich das Gericht auf die vorgelegten Unterlagen beschränken.
Soweit Säumniszuschläge (§ 240 AO 1977) auf den Einkommensteuerbescheid 1973 in der Form der Einspruchsentscheidung vom 18. Mai 1982 von der Antragstellerin verwirkt worden sind, ist die Verwirkung aufzuheben (vgl. BFH-Beschluß vom 10. Dezember 1986 I B 121/86, BFHE 140, 2, BStBl II 1987, 389).
Fundstellen
Haufe-Index 416317 |
BFH/NV 1989, 625 |