Leitsatz (amtlich)
Versagt der Vorsitzende Richter eines Senats des FG einem Beteiligten die Akteneinsicht, so kann die Entscheidung nach § 128 Abs. 1 FGO mit Beschwerde angefochten werden (Weiterentwicklung der Grundsätze des Beschlusses des BFH vom 16. Juli 1974 VII B 31/74, BFHE 113, 94, BStBl II 1974, 716).
Normenkette
FGO §§ 78, 128 Abs. 1
Tatbestand
Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) beantragte durch seine Prozeßbevollmächtigten am 28. Januar 1974, die Akten an das HZA D zu übersenden und dieses zu ermächtigen, den Prozeßbevollmächtigten die Akten für wenige Tage zur Einsichtnahme in ihr Büro in D zu überlassen. Der Vorsitzende des II. Senats des FG ordnete am 21. Februar 1974 zwar die Übersendung der Akten an das HZA D an, lehnte es aber ab, den Prozeßbevollmächtigten die Akten in ihr Büro zu überlassen. Der Kläger legte dagegen am 15. März 1974 Beschwerde ein mit der Begründung, die Akteneinsicht in den Räumen des HZA D sei unzumutbar, weil die Akten sehr umfangreich seien. Seine Prozeßbevollmächtigten seien als Rechtsanwälte selbständige Organe der Rechtspflege und könnten es daher nicht hinnehmen, daß ihnen in der Ausübung ihres Berufes Beschränkungen auferlegt würden, die dem Beklagten nicht auferlegt zu werden pflegten. Derartige Beschränkungen berührten den Grundsatz der Waffengleichheit in allen Finanzgerichtsverfahren. Das vorgeschlagene Verfahren der Akteneinsicht würde bedeuten, daß einer der Prozeßbevollmächtigten sich für mehrere Stunden, und zwar während der Dienstzeit des HZA D, in die Räume desselben begebe und dort ein zeitraubendes umfangreiches Aktenstudium vornehme. Der Prozeßbevollmächtigte müsse auf Grund dieses Aktenstudiums Teile der Akten ablichten lassen. Das sei im eigenen Büro wesentlich billiger zu bewerkstelligen als in den Räumen des HZA D. Im übrigen sei vor der Fertigung des Aktenauszuges ein eingehendes Studium der Akten nicht erforderlich, wenn die Akten dem Prozeßbevollmächtigten in sein Büro geschickt würden, da der Akteninhalt nach Herstellung des Aktenauszuges von den Prozeßbevollmächtigten zu einem Zeitpunkt zur Kenntnis genommen werden könne, der ihren zeitlichen Dispositionen entspräche und von den Dienstzeiten des HZA D unabhängig sei.
Der Kläger hat beantragt, das HZA D anzuweisen, die Akten den Prozeßbevollmächtigten zur Einsichtnahme in ihr Büro zur Verfügung zu stellen.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das HZA B) hält die Beschwerde für unbegründet.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig.
Die Anordnung des Senatsvorsitzenden des FG vom 21. Februar 1974 war eine Entscheidung im Sinne des § 128 Abs. 1 FGO, durch die der Kläger betroffen wurde; deshalb stand diesem die Beschwerde zu. Die Anordnung gehörte nicht etwa zu den nach § 128 Abs. 2 FGO durch Beschwerde nicht anfechtbaren prozeßleitenden Verfügungen (vgl. Beschluß des BFH vom 29. September 1967 III B 31/67, BFHE 90, 312, BStBl II 1968, 82).
Der erkennende Senat hat im Beschluß vom 16. Juli 1974 VII B 31/74 (BFHE 113, 94, BStBl II 1974, 716) über einen Fall entschieden, in dem ein dem betreffenden Senat des FG angehörender, ihm aber nicht vorsitzender Richter dem Kläger mitgeteilt hatte, die beantragte Akteneinsicht könne nicht gewährt werden. Die dagegen erhobene Beschwerde hat der Senat als unzulässig verworfen mit der Begründung, die Ablehnung der Akteneinsicht zähle zwar nicht zu den prozeßleitenden Verfügungen, gegen die eine Beschwerde schon nach § 128 Abs. 2 FGO entfalle; aber mit der Beschwerde könnten nach § 128 Abs. 1 FGO nur Entscheidungen des Gerichts und in bestimmten, hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmefällen Entscheidungen des Vorsitzenden des Gerichts angegriffen werden. In seinen weiteren Ausführungen hat der Senat dargelegt, daß der mit der Mitteilung des Richters nicht einverstandene Kläger eine förmliche Entscheidung des Gerichts über seinen Antrag hätte herbeiführen müssen. Damit hat der Senat nur betont, daß ein dem Senat nicht vorsitzender Richter allein keine Entscheidungen im Sinne des § 128 Abs. 1 FGO treffen kann; er hat nicht die Möglichkeit in Zweifel gezogen, daß über einen Antrag auf Akteneinsicht anstelle des Gerichts der Vorsitzende entscheidet (vgl. Urteil des BGH vom 12. Dezember 1960 III ZR 191/59, NJW 1961, 559, und § 100 Abs. 2 Satz 2 VwGO). Versagt also ein nicht vorsitzendes Senatsmitglied des FG einem Beteiligten die Akteneinsicht, so kann die beschwerdefähige Entscheidung nach § 128 Abs. 1 FGO sowohl vom Senat als auch vom Vorsitzenden getroffen werden.
Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet.
Nach § 78 Abs. 1 FGO können die Beteiligten die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen und sich durch die Geschäftsstelle auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge und Abschriften erteilen lassen. Diese Regelung entspricht den Vorschriften des § 100 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 VwGO, nicht aber auch der Vorschrift des § 100 Abs. 2 Satz 2 VwGO, daß nach dem Ermessen des Vorsitzenden die Akten dem bevollmächtigten Rechtsanwalt zur Mitnahme in seine Wohnung oder in seine Geschäftsräume übergeben werden können. Der Verzicht des Gesetzgebers, auch eine dieser letzteren Vorschrift entsprechende Bestimmung in die FGO aufzunehmen, erklärt sich daraus, daß im Steuerprozeß als Bevollmächtigte neben den Rechtsanwälten insbesondere die Angehörigen der steuerberatenden Berufe auftreten und die Rechtsanwälte diesen gegenüber nicht hätten bevorzugt werden können, ohne den Verfassungsgrundsatz der Gleichbehandlung zu berühren (vgl. die Begründung zu § 75 des Entwurfs 1963 zur Finanzgerichtsordnung, Bundestags-Durcksache IV/1446).
Auch die dem § 78 FGO entsprechenden Vorschfiften des § 299 ZPO sehen nicht vor, daß die Akten dem bevollmächtigten Rechtsanwalt in seine Wohnung oder in seine Geschäftsräume übergeben werden. Der BGH hat im zitierten Urteil III ZR 191/59 zu § 299 Abs. 1 ZPO entschieden, daß die Akteneinsicht grundsätzlich an Gerichtsstelle vorzunehmen sei und der Rechtsanwalt trotz seiner Stellung als Organ der Rechtspflege kein Recht auf Überlassung von Gerichtsakten in seine Wohnung oder in seine Kanzleiräume habe. Für den Bereich des § 78 FGO hat sich der BFH im Beschluß III B 31/67 dieser Auffassung in vollem Umfang angeschlossen. Auch der erkennende Senat teilt sie.
Es kann dahinstehen, ob trotz der Entscheidung des Gesetzgebers, eine dem § 100 Abs. 2 Satz 2 VwGO entsprechende Vorschrift in die FGO nicht aufzunehmen, der Vorsitzende nach seinem Ermessen den vertretungsberechtigten Personen die Akten zur Einsicht überlassen darf. Jedenfalls hat in der gegenwärtigen Sache der Vorsitzende des II. Senats des FG durch die angefochtene Entscheidung vom 21. Februar 1974 sein Ermessen nicht fehlerhaft ausgeübt. Durch die Übersendung der Akten an das HZA D wurde den Prozeßbevollmächtigten des Klägers immerhin eine Reise zur Geschäftsstelle des FG erspart. In der Ablehnung des darüber hinausgehenden Begehrens, die Akten den Prozeßbevollmächtigten zur Einsicht in ihrem Büro zu überlassen, liegt keine Willkür (vgl. BFH-Beschluß III B 31/67). Es ist zumutbar, daß die Prozeßbevollmächtigten des Klägers die Unbequemlichkeit, die Akten nur während der Dienststunden des HZA D einsehen zu können, in Kauf nehmen, weil die Aufbewahrung der Akten durch das HZA sicherer ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
Fundstellen
Haufe-Index 71084 |
BStBl II 1975, 235 |
BFHE 1975, 173 |