Entscheidungsstichwort (Thema)
Antrag auf Aussetzung der Vollziehung wegen höherem Verlustrücktrag aus Veräußerungsverlusten gemäß § 17 EStG und verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Mindestbesteuerung
Leitsatz (NV)
1. Es bestehen ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 2 Abs. 3 EStG insoweit, als in Anwendung dieser Norm eine Einkommensteuer selbst dann festzusetzen ist, wenn die beschränkt ausgleichsfähigen negativen Einkünfte die positiven Einkünfte im Veranlagungszeitraum dergestalt übersteigen, dass dem Steuerpflichtigen von seinem im Veranlagungszeitraum Erworbenen ‐ nach Erfüllung der festgesetzten Einkommensteuerschuld und des Solidaritätszuschlags ‐ nicht einmal das Existenzminimum verbleibt (Rechtsprechung).
2. Das gilt jedoch nur für die jeweiligen positiven und negativen Einkünfte des betreffenden Veranlagungszeitraums. Verluste anderer Veranlagungszeiträume ‐ auch sog .echte ‐sind ebenso wenig einzubeziehen wie etwa Veränderungen auf der Vermögensebene (Rechtsprechung).
3. Der Streit über die Entstehung eines negativen Gesamtbetrags der Einkünfte und die Vornahme eines entsprechenden Verlustrücktrags ist mangels entsprechender Bindungswirkung der Einkommensteuerveranlagung des Verlustentstehungsjahres im Rahmen der Einkommensteuerfestsetzung des Rücktragsjahres zu entscheiden.
4. Zur Aussetzung der Vollziehung bei Geltendmachung höherer gewerblicher Veräußerungsverluste gemäß § 17 EStG aus Bürgschaftsinanspruchnahmen.
Normenkette
FGO § 69 Abs. 2-3; EStG § 2 Abs. 3, § 10d Abs. 1, § 17
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Beteiligten streiten über die Höhe der Berücksichtigung eines Verlustrücktrags des Antragstellers und Beschwerdeführers (Beschwerdeführer) im Streitjahr 2000 aus dem Veranlagungszeitraum 2001.
Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) ermittelte in dem Einkommensteuerbescheid 2001 vom 1. Oktober 2003 Einkünfte des Beschwerdeführers aus Kapitalvermögen (188 923 DM) und Verluste aus Vermietung und Verpachtung (1 527 424 DM). Den nach teilweiser Verlustverrechnung in 2001 verbleibenden Verlust in Höhe von 1 382 962 DM beantragte der Beschwerdeführer auf das Jahr 2000 zurückzutragen. Im Jahr 2000 hatte er u.a. durch die Veräußerung einer wesentlichen Beteiligung an einer Aktiengesellschaft einen Veräußerungsgewinn in Höhe von 3 195 735 DM erzielt; der Gesamtbetrag der Einkünfte betrug 2 537 901 DM.
Im Einspruchsverfahren berücksichtigte das FA für das Streitjahr einen Verlustvortrag aus 1999 in Höhe von 238 733 DM sowie einen Verlustrücktrag aus 2001 in Höhe von 724 169 DM. Nach Abzug von Sonderausgaben (36 444 DM) und einem Verlustvortrag aus Zeiträumen vor 1999 (460 199 DM) verblieb ein zu versteuerndes Einkommen in Höhe von 1 078 356 DM. Die Einkommensteuer wurde mit 446 960 DM festgesetzt. Im Übrigen wies das FA den Einspruch zurück und lehnte die beantragte Aussetzung der Vollziehung (AdV) ab.
Dagegen erhob der Beschwerdeführer Klage und beantragte gleichzeitig, die für 2000 festgesetzte Steuer in voller Höhe gemäß § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) von der Vollziehung auszusetzen. Das Finanzgericht (FG) wies den Antrag auf AdV am 26. Februar 2004 ab. Eine vollständige Aussetzung scheide bereits deshalb aus, weil selbst im Falle eines Rücktrags der Verluste in voller Höhe ein zu versteuerndes Einkommen von 419 563 DM verbleibe. Aber auch eine teilweise Aussetzung sei abzulehnen. Die mit der notwendigen Gewährleistung des Existenzminimums begründeten verfassungsrechtlichen Zweifel gegen die Regelung des § 2 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes --EStG-- (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 6. März 2003 XI B 7/02, BFHE 202, 141, BStBl II 2003, 516, und XI B 76/02, BFHE 202, 147, BStBl II 2003, 523) könnten nicht auf die Regelung in § 10d EStG ausgedehnt werden. Das Existenzminimum solle die Lebensgrundlage des jeweiligen Jahres sicherstellen. Ein später entstandener Verlust könne nicht rückwirkend die ursprünglich vorhandene Lebensgrundlage entziehen.
Mit seiner Beschwerde macht der Beschwerdeführer u.a. geltend, es sei darüber zu entscheiden, für welchen Zeitraum und mit welchen Prämissen der Verlustvor- und -rücktrag für den Begriff des Existenzminimums maßgebend sein solle. Die wirtschaftlichen Vorgänge und deren Auswirkungen seien jahresübergreifend. Soweit das FG auf die Liquidität und damit auf den unmittelbaren Zufluss und Abfluss der Mittel abstelle, führe dies zu wirtschaftlich zufälligen und unzutreffenden Ergebnissen. Das Leistungsfähigkeitsprinzip verlange, dass Verluste zeitnah mit Gewinnen verrechnet werden könnten, da Steuern nur aus den Gewinnen bezahlt werden könnten.
Außerdem habe er in 2001 einen weiteren unbeschränkt rücktragbaren Verlust in Höhe von 466 133 DM erlitten. Das FA habe hierzu vor dem FG unzutreffend vorgetragen und es entgegen seinem Antrag unterlassen, diesen Verlust festzustellen und zurückzutragen. Das FG habe sich damit überhaupt nicht befasst. Der Verlust des Beschwerdeführers habe sich ergeben aus dem Verkauf seiner 100 %-Beteiligung an der am 17. Januar 1997 errichteten B-AG. Dem erzielten Veräußerungserlös von 2 DM seien als Anschaffungskosten gegenüberzustellen das eingezahlte Grundkapital von 100 000 DM, der Verlust eigenkapitalersetzender Darlehen in Höhe von 172 034 DM, die Aufwendungen aus der Inanspruchnahme einer Bürgschaftsverpflichtung in Höhe von 101 270 DM sowie Rechts- und Beratungskosten von 3 987 DM. Zum Ausgleich einer bevorstehenden weiteren Bürgschaftszahlung in Höhe von 203 025 DM habe er von der AG deren 94,9 %-Beteiligung an einer GbR erhalten, die ein Grundstück in C besessen habe; die Bürgschaftsverpflichtung sei er zur Finanzierung des Erwerbs der GbR-Beteiligung durch die AG eingegangen. Außerdem seien Zinsen zur Gewerbesteuer 1993, 1994 und 1996 und Nebenforderungen in Höhe von insgesamt 85 819 DM als nachträgliche Betriebsausgaben angefallen.
Mit Änderungsbescheid vom 23. April 2004 hat das FA gewerbliche Veräußerungsverluste in Höhe von 147 999 DM für 2001 anerkannt und im Wege des Verlustrücktrags gemäß § 10d Abs. 1 EStG i.V.m. § 2 Abs. 3 EStG in 2000 steuermindernd berücksichtigt. Das zu versteuernde Einkommen ermäßigte sich damit auf 1 004 357 DM und die festgesetzte Einkommensteuer auf 409 230 DM. Der Beschwerdeführer erklärte das Streitverfahren daraufhin für erledigt, soweit das FA nunmehr einen gewerblichen Verlust von 147 999 DM in 2001 anerkannt und zurückgetragen habe; außerdem bleibe noch der Verlust aus den Bürgschaften in Höhe von 304 295 DM im Wege des Verlustrücktrags in das Streitjahr zurückzutragen.
Der Beschwerdeführer beantragt sinngemäß, unter Aufhebung des Beschlusses des FG die für 2000 festgesetzte Steuer in voller Höhe gemäß § 69 Abs. 3 FGO von der Vollziehung auszusetzen, hilfsweise die Einkommensteuer in der Höhe auszusetzen, in der sie sich ermäßigen würde, wenn die Verluste aus den Bürgschaften in Höhe von 304 295 DM im Wege des Verlustrücktrags in das Streitjahr zurückgetragen würden.
Das FA beantragt sinngemäß, die Beschwerde zurückzuweisen.
Es ist der Auffassung, die Anknüpfung an den Zeitraum eines Jahres für die Freistellung des Existenzminimums entspreche dem für die Festsetzung der Steuer relevanten Zeitraum und sei daher sachgerecht. Die Frage, ob ein zusätzlicher Verlustrücktrag aus 2001 in Höhe von 466 133 DM in das Jahr 2000 zu berücksichtigen sei, sei im Übrigen für die Entscheidung des FG nicht erheblich gewesen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist begründet; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Das FG hat zwar eine AdV wegen der vom Beschwerdeführer geltend gemachten Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 2 Abs. 3 EStG zu Recht abgelehnt. Es wird aber prüfen müssen, ob an der Rechtmäßigkeit des --in analoger Anwendung des § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens gewordenen-- Einkommensteuerbescheides für 2000 vom 23. Juni 2004 insoweit ernstliche Zweifel bestehen, als das FA die Zahlungen des Beschwerdeführers aufgrund einer für die von der B-AG eingegangenen Bürgschaft nicht als nachträgliche Anschaffungskosten bei seinen Einkünften aus § 17 EStG des Jahres 2001 berücksichtigt und den begehrten Verlustrücktrag in das Streitjahr 2000 abgelehnt hat.
1. Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO soll das Gericht die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel sind anzunehmen, wenn bei summarischer Prüfung des Verwaltungsakts neben Umständen, die für die Rechtmäßigkeit sprechen, gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unsicherheit in der Beurteilung der Tatfragen auslösen. Dies gilt auch für ernstliche Zweifel i.S. des § 69 Abs. 2 und 3 FGO an der verfassungsrechtlichen Gültigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 15. Dezember 2000 IX B 128/99, BFHE 194, 157, BStBl II 2001, 411). An die Zweifel hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts sind, wenn die Verfassungswidrigkeit von Normen geltend gemacht wird, keine strengeren Anforderungen zu stellen, als im Falle der Geltendmachung fehlerhafter Rechtsanwendung (BFH-Beschluss vom 10. Februar 1984 III B 40/83, BFHE 140, 396, BStBl II 1984, 454).
2. Nach Auffassung des Senats bestehen zwar bei summarischer Betrachtung ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 2 Abs. 3 EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung insoweit, als in Anwendung dieser Norm eine Einkommensteuer selbst dann festzusetzen ist, wenn aufgrund des begrenzten Verlustausgleiches die negativen Einkünfte die positiven Einkünfte im Veranlagungszeitraum dergestalt übersteigen, dass dem Steuerpflichtigen von seinem im Veranlagungszeitraum Erworbenen --nach Erfüllung der festgesetzten Einkommensteuerschuld und des Solidaritätszuschlags-- nicht einmal das Existenzminimum verbleibt (vgl. Senats-Beschlüsse in BFHE 202, 141, BStBl II 2003, 516, und in BFHE 202, 147, BStBl II 2003, 523). Das gilt aber bei ebenfalls summarischer Betrachtung nur für die jeweiligen positiven und negativen Einkünfte des betreffenden Veranlagungszeitraums. Verluste anderer Veranlagungszeiträume --auch sog. echte-- sind ebenso wenig einzubeziehen wie etwa Veränderungen auf der Vermögensebene (vgl. BFH-Beschluss vom 25. Juni 2004 XI B 20/03, BFH/NV 2005, 176).
Dem Beschwerdeführer verblieb aus dem von ihm im Streitjahr 2000 Erworbenen in Höhe von netto 2 537 901 DM (3 195 735 DM + 54 264 DM ‐ 712 098 DM) nach Abzug der Sonderausgaben von 9 915 DM sowie der Einkommensteuerschuld und des Solidaritätszuschlages in Höhe von zusammen 431 735 DM (409 230 DM + 22 505 DM) noch ein Betrag von 2 096 251 DM, der weit über dem Existenzminimum liegt.
3. Die Beschwerde ist begründet, soweit der Beschwerdeführer den Rücktrag weiterer gewerblicher Veräußerungsverluste gemäß § 17 EStG begehrt. Das FG hat nicht geprüft, ob sich ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Einkommensteuerbescheides (§ 69 Abs. 2 und 3 FGO) daraus ergeben könnten, dass der Beschwerdeführer vorgeblich 2001 erlittene gewerbliche Veräußerungsverluste i.S. des § 17 EStG in das Streitjahr zurücktragen und sich dadurch seine Einkommensteuerschuld ermäßigen könnte. Der Streit über die Entstehung eines negativen Gesamtbetrags der Einkünfte im Jahr 2001 und die Vornahme eines entsprechenden Verlustrücktrags in das Jahr 2000 ist mangels entsprechender Bindungswirkung der Einkommensteuerveranlagung 2001 im Rahmen der Einkommensteuerfestsetzung 2000 zu entscheiden (BFH-Urteil vom 23. Januar 2003 IV R 64/01, BFH/NV 2003, 904).
Danach bestehen an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Einkommensteuerbescheides dann ernstliche Zweifel, wenn gewichtige Gründe für die Richtigkeit des ergänzenden Vorbringens des Beschwerdeführers im Beschwerdeverfahren sprechen, ihm seien wegen seiner Zahlungen aufgrund der Bürgschaft nachträgliche Anschaffungskosten entstanden, so dass ein höherer als der bislang vom FA berücksichtigte Veräußerungsverlust i.S. des § 17 EStG im Jahr 2001 zu berücksichtigen sei.
Die Zahlungen des Beschwerdeführers auf die Bürgschaft haben nur dann zu nachträglichen Anschaffungskosten führen können, wenn die Bürgschaft eigenkapitalersetzenden Charakter hatte (vgl. dazu z.B. BFH-Urteile vom 6. Juli 1999 VIII R 9/98, BFHE 189, 383, BStBl II 1999, 817, m.w.N.; vom 12. Dezember 2000 VIII R 34/94, BFH/NV 2001, 757; vom 26. Januar 1999 VIII R 50/98, BFHE 188, 295, BStBl II 1999, 559). Das Bestellen von Sicherheiten durch einen Gesellschafter rechtfertigt für sich gesehen noch nicht die Annahme einer kapitalersetzenden Leistung, so dass es zur Begründung des eigenkapitalersetzenden Charakters weiterer Anhaltspunkte bedarf (vgl. z.B. Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Kommentar, 4. Aufl., § 32a Rn. 42 und 43).
Da das FG zu der Frage, ob und ggf. in welcher Höhe dem Beschwerdeführer wegen seiner Zahlungen aufgrund der Bürgschaft nachträgliche Anschaffungskosten i.S. des § 17 Abs. 2 EStG entstanden sind, keine tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, hält der Senat es für zweckmäßig, die Sache an das FG zurückzuverweisen (vgl. zur Zulässigkeit der Zurückverweisung im Aussetzungsverfahren z.B. BFH-Beschlüsse vom 26. März 1991 VIII B 83/90, BFHE 163, 510, BStBl II 1991, 463, m.w.N.; vom 25. Oktober 1994 VII B 155/94, BFHE 175, 525, BStBl II 1995, 131).
Das FG wird summarisch zu prüfen haben, ob die Bürgschaft eigenkapitalersetzenden Charakter hatte, und ggf. der Frage nachzugehen haben, ob und ggf. in welchem Umfang die Rückgriffsforderung (§ 774 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) des Beschwerdeführers gegen die B-AG bzw. deren Rechtsnachfolgerin werthaltig war.
Fundstellen
Haufe-Index 1463861 |
BFH/NV 2006, 286 |