Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulassung der Beschwerde gegen einen Beschluß nach § 69 Abs. 3 FGO - Unterbrechung der Verjährung - Hemmung der Verjährung bei Rechtsbehelf gegen unwirksame Steuerfestsetzung
Leitsatz (amtlich)
Gegen einen Beschluß nach § 69 Abs.3 FGO kann das FG die Beschwerde noch nachträglich zulassen.
Orientierungssatz
1. Abweichung von den BFH-Beschlüssen vom 26.3.1985 VII B 8/85 und vom 18.12.1984 II B 21/84).
2. NV: Die Unterbrechung der Verjährung (§ 147 AO) setzt einen wirksamen Steuerbescheid voraus (vgl. BFH-Urteil vom 27.11.1981 II R 18/80).
3. NV: Es ist ernstlich zweifelhaft, ob ein Rechtsbehelf gegen eine unwirksame Steuerfestsetzung den Ablauf der Verjährungsfrist nach § 146a Abs. 1 AO hemmen kann.
Normenkette
BFHEntlG Art. 1 Nr. 3; FGO § 69 Abs. 3, 2; AO §§ 147, 146a Abs. 1
Tatbestand
++/ Die Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) sind die Erben ihrer am ... 1975 bzw. ... 1978 verstorbenen Eltern H.L. und S.L. Aufgrund von H.L. und S.L. unterschriebenen, im Mai 1975 abgegebenen Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre 1969 und 1970, in denen sie die Zusammenveranlagung beantragt hatten, setzte der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) durch Bescheid vom 17.September 1975 die Einkommensteuer 1969 und durch Bescheid vom 29.August 1975 die Einkommensteuer 1970 fest. Die Bescheide waren an "Herrn und Frau L.H., Kaufmann, X, ...straße ..." adressiert. Aufgrund von Einkommensteuererklärungen für 1971 und 1972, die die Antragsteller und S.L. unterschrieben und in denen sie die Zusammenveranlagung von H.L. und S.L. beantragt hatten, erließ das FA am 9.September 1976 die Einkommensteuerbescheide 1971 und 1972, die an den Prozeßbevollmächtigten der Antragsteller "für Herrn und Frau L.H., X, ...weg ..." gerichtet waren. Gegen diese --nach § 100 Abs.2 der Reichsabgabenordnung (AO) vorläufigen-- Bescheide für die Streitjahre legten die Antragsteller und S.L. Einspruch ein.
Mit Bescheiden vom 27.November 1980 änderte das FA die Einkommensteuerbescheide 1970 und 1971 und mit Bescheiden vom 6.Januar 1981 die Einkommensteuerbescheide 1969 und 1972 nach § 164 Abs.2 der Abgabenordnung (AO 1977). Diese Bescheide waren an die Antragsteller adressiert. Sie erhoben gegen diese Bescheide Einspruch.
Mit Bescheiden vom 9.Mai 1988 änderte das FA nochmals die Einkommensteuerbescheide 1969 und 1970. Über die Einsprüche der Antragsteller hat das FA bisher nicht entschieden. Die Untätigkeitsklage, mit der die Antragsteller begehren, die Einkommensteuerbescheide 1969 bis 1972 aufzuheben, ist beim Finanzgericht (FG) anhängig. /++
Den Antrag der Antragsteller auf Aufhebung der Vollziehung der angefochtenen Einkommensteuerbescheide 1969 bis 1972 in Höhe der geleisteten Abschlußzahlungen an Einkommensteuer und Ergänzungsabgabe hat das FG mit Beschluß vom 4.Juli 1990 als unbegründet zurückgewiesen. Nach der diesem Beschluß beigefügten Rechtsmittelbelehrung war der Beschluß unanfechtbar.
Mit Beschluß vom 19.Oktober 1990 hat das FG seinen Beschluß vom 4.Juli 1990 dahingehend abgeändert, daß gegen ihn die Beschwerde nach § 128 Abs.1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zulässig ist.
++/ Mit der Beschwerde verweisen die Antragsteller zur Zulässigkeit auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 28.März 1985 1 BvR 245/85 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 1986, 597, Steuerrechtsprechung in Karteiform --StRK--, Finanzgerichtsordnung. § 69, Rechtsspruch 262). Sie beziehen sich im übrigen in erster Linie auf den Aussetzungsbeschluß des VIII.Senats des BFH vom 2.März 1989 VIII S 9/88, BFH/NV 1989, 625 und tragen ergänzend vor, bei der Anschrift X, ...straße ... habe es sich nicht um die Privatanschrift der Eheleute L, sondern um die Firmenanschrift der L & Co. KG gehandelt, die Privatanschrift sei ...weg ... gewesen. Das FG habe ihr rechtliches Gehör verletzt, weil es ihren substantiierten Vortrag im Schriftsatz vom 8.November 1989 übergangen habe, daß die angefochtenen Einkommensteuerbescheide 1969 und 1970 auch deshalb aufzuheben bzw. zu ändern seien, weil die den Einkommensteuerfestsetzungen zugrunde liegenden Feststellungsbescheide unwirksam seien.
Die Antragsteller beantragen, unter Aufhebung des durch den Beschluß vom 19.Oktober 1990 geänderten Beschlusses vom 4.Juli 1990 die Vollziehung der angefochtenen Einkommensteuerbescheide 1969 bis 1972 der verstorbenen Eheleute H.L. und S.L. in Höhe der von ihnen entrichteten Abschlußzahlungen aufzuheben.
Das FA beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen. /++
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist statthaft.
Nach Art.1 Nr.3 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) steht gegen den Beschluß des FG nach § 69 Abs.3 und 4 FGO den Beteiligten die Beschwerde nur zu, wenn sie in dem Beschluß zugelassen worden ist. Die Vorschrift ist verfassungskonform dahin auszulegen, daß das FG auch nachträglich die Zulassung der Beschwerde beschließen kann. Da das FG nach § 69 Abs.3 Satz 5 FGO seinen Beschluß auf Gegenvorstellungen der Beteiligten jederzeit ändern oder aufheben kann, ist es auch befugt, inhaltlich zwar an seiner vorangegangenen Entscheidung festzuhalten und diese zu wiederholen, die Beschwerde aber nunmehr zuzulassen, weil es abweichend von der zunächst getroffenen Entscheidung einen Zulassungsgrund des § 115 Abs.2 FGO für gegeben hält (Beschluß des BVerfG in HFR 1986, 597, StRK, Finanzgerichtsordnung, § 69, Rechtsspruch 262). Aufgrund der Zulassung der Beschwerde im Beschluß vom 19.Oktober1990 ist der Beschluß des FG über die Aussetzung der Vollziehung anfechtbar geworden.
Der Senat weicht mit dieser Entscheidung von den BFH-Beschlüssen vom 26.März 1985 VII B 8/85 (BFH/NV 1986, 106) und vom 18.Dezember 1984 II B 21/84 (nicht veröffentlicht) ab. Der VII. und der II.Senat haben dieser Abweichung zugestimmt.
++/ Die Beschwerde ist auch begründet, soweit mit ihr die Aufhebung der Vollziehung der auf die Einkommensteuer entrichteten Abschlußzahlungen begehrt wird. Sie ist unbegründet in bezug auf die Ergänzungsabgabe; denn insoweit fehlt für den Aussetzungsantrag das Rechtsschutzbedürfnis (BFH-Beschluß vom 21.Mai 1986 I S 1/86, BFH/NV 1987, 725).
Nach § 69 Abs.3 und 2 FGO soll das Gericht der Hauptsache die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts u.a. dann ganz oder teilweise aussetzen bzw. aufheben, wenn ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn bei der gebotenen summarischen Prüfung neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unsicherheit oder Unentschiedenheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen bewirken (ständige Rechtsprechung seit dem BFH-Beschluß vom 10.Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182). Zu Unrecht hat das FG ernstliche Zweifel an der Verjährung der Einkommensteueransprüche 1969 bis 1972 verneint. Die Einkommensteueransprüche wären gemäß Art.97 § 10 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) i.V.m. § 144 Abs.1, § 145 Abs.2, § 148 AO nur dann nicht vor Erlaß der Einkommensteuerbescheide vom 27.November 1980 und 6.Januar 1981 durch Verjährung erloschen gewesen (Ende der Verjährung für die Einkommensteuer 1969: 31.Dezember 1977, für 1970: 31.Dezember 1978, für 1971: 31.Dezember 1979 und für 1972: 31.Dezember 1980), wenn die Verjährung nach § 147 AO unterbrochen oder der Ablauf der Verjährungsfrist durch die Einsprüche von S.L. und der Antragsteller gegen die 1975 und 1976 erlassenen ursprünglichen Einkommensteuerbescheide 1969 bis 1972 nach § 146a Abs.1 AO gehemmt gewesen wäre.
Die Unterbrechung der Verjährung setzt einen wirksamen Steuerbescheid voraus (vgl. BFH-Urteil vom 27.November 1981 II R 18/80, BFHE 134, 519, BStBl II 1982, 276). Es ist jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, daß die nach dem Tode des H.L. in den Jahren 1975 und 1976 an "Herrn und Frau H." adressierten zusammengefaßten Einkommensteuerbescheide 1969 bis 1972 nicht einmal als Einzelbescheide S.L. gegenüber wirksam ergangen und bekanntgegeben worden sind. Für die Veranlagungszeiträume 1969 und 1970, für die H.L. und S.L. noch gemeinsame Einkommensteuererklärungen abgegeben haben, spricht gegen die Wirksamkeit der Bescheide jedenfalls, daß sie an die Geschäftsadresse des verstorbenen H.L. gerichtet waren. Die Wirksamkeit der Einkommensteuerbescheide 1971 und 1972, welche auf den von den Antragstellern und S.L. abgegebenen Einkommensteuererklärungen beruhten, ist ernstlich zweifelhaft, weil sich ihnen nicht entnehmen läßt, wer von ihnen betroffen sein sollte (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 24.April 1986 IV R 82/84, BFHE 146, 358, BStBl II 1986, 545).
Was die Hemmung der Verjährungsfrist anbelangt, so ist ernstlich zweifelhaft, ob ein Rechtsbehelf gegen eine unwirksame Steuerfestsetzung den Ablauf der Verjährungsfrist nach § 146a Abs.1 AO hemmen kann. Zwar haben der II.Senat im Urteil vom 17.Februar 1982 II R 176/80 (BFHE 135, 234, BStBl II 1982, 524) und auch der IV.Senat des BFH in der nicht veröffentlichten Entscheidung vom 27.Oktober 1988 IV R 59/88 die Auffassung vertreten, daß die Anfechtung eines wegen inhaltlicher Unbestimmtheit aufzuhebenden Steuerbescheids zur Ablaufhemmung nach § 146a Abs.1 AO führt. In diesem Sinn hat sich auch der X.Senat des BFH unter Abgrenzung der Voraussetzungen und Auswirkungen des § 171 Abs.3 AO 1977 und des § 146a Abs.1 AO in seinen Urteilen vom 11.Oktober 1989 X R 31/86 (BFHE 158, 491) und vom 16.Mai 1990 X R 147/87 (BFHE 161, 398, BStBl II 1990, 942) geäußert. Demgegenüber hält jedoch der VIII.Senat des BFH im Anschluß an seinen Aussetzungsbeschluß vom 2.März 1989 VIII S 9/88 (BFH/NV 1989, 625) in der Entscheidung zur Hauptsache vom 31.Oktober 1989 VIII R 80/88 (BFH/NV 1991, 44) im Hinblick auf die in der Literatur und von einzelnen FG zu § 171 Abs.3 AO 1977 vertretene Meinung den Einspruch gegen einen unwirksamen Steuerbescheid nicht für verjährungshemmend nach § 146a Abs. 1 AO. Aufgrund dieser Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung des BFH sind ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Einkommensteuerbescheide gegeben.
Da das FA gegen die Höhe der Beträge, für die die Antragsteller die Aufhebung der Vollziehung beantragen, keine Einwendungen erhoben hat, war die Vollziehung nach § 69 Abs.3 Satz 4 FGO in Höhe der für die Einkommensteuer geleisteten Abschlußzahlungen aufzuheben (vgl. BFH-Urteil vom 22.Juli 1977 III B 34/74, BFHE 123, 112, BStBl II 1977, 838). Es ist nunmehr Sache des FA, die Vollziehung der Festsetzung der Ergänzungsabgabe für die Streitjahre als Folge der vorliegenden Entscheidung aufzuheben. /++
Fundstellen
Haufe-Index 63765 |
BFH/NV 1992, 29 |
BStBl II 1992, 301 |
BFHE 165, 565 |
BFHE 1992, 565 |
BB 1992, 556 (L) |
DB 1992, 666 (T) |
DStR 1992, 821 (KT) |
DStZ 1992, 317 (KT) |
HFR 1992, 226 (LT) |
StE 1992, 183 (K) |