Entscheidungsstichwort (Thema)
Fristwahrung durch Absendung des Steuerbescheids
Leitsatz (NV)
1. Es erscheint nicht unbedenklich, die Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977 als gewahrt anzusehen, wenn der Steuerbescheid den Bereich der für die Steuerfestsetzung zuständigen Finanzbehörde verlassen hat und die Finanzbehörde alle Voraussetzungen eingehalten hat, die für den Erlaß eines wirksamen Steuerbescheids vorgeschrieben sind.
2. Zum Beginn der Festsetzungsfrist bei der Grunderwerbsteuer vor Inkrafttreten des GrEStG 1983.
Normenkette
AO 1977 § 169 Abs. 1 S. 3 Nr. 1; GrEStG 1983 § 23 Abs. 2 S. 1; GrEStG NW § 16a
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) erwarben mit Vertrag vom 21. Oktober 1982 je zur Hälfte einen Grundstücksanteil; als Kaufpreis waren dafür insgesamt . . . DM vereinbart. In der Kaufurkunde beantragten die Kläger Grunderwerbsteuerbefreiung gemäß den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen; die Urkunde ist dem Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt - FA -) am 29. Oktober 1982 zugegangen. Auf dem vom FA zugesandten Vordruck beantragten die Kläger am 29. November 1982, beim FA eingegangen am 13. Dezember 1982, den Erwerb von der Grunderwerbsteuer nach dem nordrhein-westfälischen Gesetz über die Grunderwerbsteuerbefreiung für den Wohnungsbau (GrEStWoBauG) vom 20. Juli 1970 (GV NW 1970, 620) auszunehmen, weil das Grundstück zur Errichtung oder Fertigstellung eines Gebäudes (§ 1 Nr. 1, 3, 4 GrEStWoBauG) erworben worden sei. Das FA hat weder einen Freistellungsbescheid erlassen noch intern die Steuerfestsetzung ausgesetzt.
Nachdem das FA zu dem Ergebnis gekommen war, daß die Kläger nicht Miteigentumsanteile an einem unbebauten Grundstück, sondern im Rahmen einer Bauherrengemeinschaft eine noch zu errichtende Eigentumswohnung erworben hatten, erließ es gegen jeden der Kläger nach § 165 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) vorläufige Grunderwerbsteuerbescheide; als Bemessungsgrundlage setzte es - jeweils zu ‹ - den Gesamtaufwand für den Erwerb der Wohnung an. Die Steuerbescheide wurden gestützt auf die §§ 1, 11, 13 des Grunderwerbsteuergesetzes Nordrhein-Westfalen vom 12. Juli 1970 (GrEStG NW). Die Bescheide wurden am 11. August 1986 zur Post gegeben; der Steuerbescheid gegen die Klägerin Z lautete auf ihren früheren Familiennamen A.
Im Jahr 1987 erfuhr, so die Feststellung des Finanzgerichts (FG), das FA, daß die Kläger geschieden waren und diese Bescheide nicht erhalten hatten. Am 11. Mai 1987 und am 5. August 1987 erließ das FA gegen die Kläger unter deren neuen Adressen erneut gemäß § 165 Abs. 1 AO 1977 vorläufige Grunderwerbsteuerbescheide, durch die es, wie in den Bescheiden vom 11. August 1986, gestützt auf §§ 1, 11, 13 GrEStG NW die Grunderwerbsteuer auf jeweils . . . DM festsetzte. Die Einsprüche blieben erfolglos.
Nach Klageerhebung setzte das FA durch endgültige Bescheide vom 30. März 1990 die Steuer auf jeweils . . . DM herab. Auf Antrag der Kläger wurden diese Bescheide Gegenstand des finanzgerichtlichen Verfahrens.
Das FG wies die Klage, mit der die Kläger Verjährung geltend gemacht hatten, als unbegründet ab. Da die Kläger nicht Miteigentumsanteile an einem unbebauten Grundstück, sondern eine Eigentumswohnung erworben hätten, so führt das FG aus, sei der Erwerb nicht gemäß § 1 Nr. 1 GrEStWoBauG NW befreit gewesen. Der Steueranspruch sei auch nicht verjährt. Zwar sei die Festsetzungsfrist entgegen der Auffassung des FA bereits durch den Eingang der Kaufvertragsurkunde mit Ablauf des Jahres 1982 in Lauf gesetzt worden und habe mit Ablauf des Jahres 1986 geendet. Nach § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977 sei die Festsetzungsfrist jedoch entsprechend den Ausführungen des Bundesfinanzhofs (BFH) im Urteil vom 31. Oktober 1989 VIII R 60/88 (BFHE 160, 7, BStBl II 1990, 518) durch die Steuerbescheide vom 11. August 1986 gewahrt worden. Dem stehe nicht entgegen, daß die Steuerbescheide an die Kläger unter einer nicht mehr zutreffenden Anschrift gerichtet worden seien, denn der Steuerschuldner sei im Rahmen des § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977 richtig gekennzeichnet, wenn der Steuerbescheid den nach Aktenlage zutreffenden Namen und die dort erkennbare Adresse aufweise, auch wenn sich Name und Anschrift geändert haben sollten. Mit der Absendung dieser Bescheide sei gemäß § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977 die Festsetzungsfrist unterbrochen worden, so daß die im Jahr 1987 ergangenen Bescheide rechtmäßig gewesen seien.
Darüber hinaus habe Festsetzungsverjährung auch deswegen nicht eintreten können, weil die Kläger die Befreiung des Grunderwerbs nach § 1 Nr. 1 GrEStWoBauG NW beantragt hätten und die Steuer mit Bezugsfertigkeit des Gebäudes (im November 1983) gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 2 GrEStWoBauG NW verfahrensmäßig neu entstanden sei, so daß die Festsetzungsverjährung frühestens mit dem 31. Dezember 1987 abgelaufen sei. Ein Grunderwerb sei nach dem GrEStWoBauG NW nämlich immer dann zunächst materiell-rechtlich vorläufig von der Steuer ausgenommen, wenn die Verwendungsfrist noch nicht abgelaufen sei. Notwendig, aber auch ausreichend sei hierzu der Antrag des Steuerpflichtigen und die Abgabe der Erklärung nach § 2 Abs. 1 GrEStWoBauG NW. Einer ausdrücklichen Entscheidung des FA über diesen Antrag in Form eines vorläufigen Freistellungsbescheids oder einer amtsinternen Freistellung bedürfe es dagegen nicht.
Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision tragen die Kläger vor, daß die Ausführungen der Vorentscheidung eine Klarstellung der durch das Urteil in BFHE 160, 7, BStBl II 1990, 518 getroffenen Aussage erforderlich machten, denn diese Entscheidung gehe nicht so weit, auch die richtige Adresse zu ersetzen, wenn nur der Steuerbescheid nicht rechtzeitig - auch aufgrund unzutreffenden Akteninhalts - noch vor Ablauf der Festsetzungsfrist den Bereich der zuständigen Finanzbehörde verlasse. Zur zweiten Begründungsalternative führen die Kläger aus, daß ein Nacherhebungstatbestand nicht habe verwirklicht werden können, weil von vornherein erkennbar gewesen sei, daß der Befreiungstatbestand nicht gegeben sei, denn die Kläger hätten kein unbebautes Grundstück, sondern eine Eigentumswohnung erworben.
Entscheidungsgründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet, weil eine Klärung der von den Klägern als klärungsbedürftig bezeichneten Rechtsfrage in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht zu erwarten ist. Das gilt auch für die Auffassung des FG, daß mit der Absendung der Grunderwerbsteuerbescheide vom 11. August 1986 die Festsetzungsfrist für die Grunderwerbsteuer unterbrochen worden sei. Der erkennende Senat hält diese Auffassung nicht für unbedenklich, da § 169 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 eine derartige Rechtsfolge nicht zu entnehmen ist. Der Wortlaut dieser Vorschrift weist vielmehr darauf hin, daß dem vor Ablauf der Festsetzungsfrist vom FA abgesandten - ordnungsgemäß adressierten - Bescheid lediglich eine auf diesen beschränkte fristwahrende Wirkung zukommt. Hierfür spricht auch, daß die AO 1977 eine ausdrückliche Regelung über die Verjährungsunterbrechung nur in § 231 für die Zahlungsverjährung enthält. Auch der für die Dauer der Festsetzungsverjährung maßgebenden Vorschrift des § 171 AO 1977 über die Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist ist für den Fall des § 169 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 keine Regelung zu entnehmen.
Voraussetzungen und Wirkungen des § 169 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 sind im Streitfall deshalb nicht klärungsfähig, weil es für die Bestätigung der Vorentscheidung auf die Anwendung dieser Vorschrift nicht ankommt, denn im Zeitpunkt der Festsetzung der Grunderwerbsteuer gegen die Kläger durch die Bescheide vom 11. Mai bzw. 5. August 1987 war die Festsetzungsfrist noch nicht abgelaufen. Die vierjährige Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977) hat, entgegen der Auffassung des FG, jedenfalls nicht bereits mit Ablauf des Kalenderjahres 1982 begonnen und somit nicht mit Ablauf des Kalenderjahres 1986 geendet.
Nach § 16 a GrEStG NW, der gemäß § 23 Abs. 2 Satz 1 GrEStG 1983 i. V. m. Art. 97 § 3 Satz 1, 2. Halbsatz des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) im Zeitpunkt des für die Entstehung der Grunderwerbsteuer maßgebenden Abschlusses des Kaufvertrages über das Grundstück am 21. Oktober 1982 (§ 38 AO 1977, § 1 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG NW; BFH-Urteil vom 20. Dezember 1989 II R 31/88, BFHE 159, 260, BStBl II 1990, 234) noch galt, begann die Festsetzungsfrist in den Fällen wie dem vorliegenden, in denen ein Rechtsvorgang zu einer Eintragung im Grundbuch führen kann, mit Ablauf des Jahres, in dem der Erwerber als Eigentümer in das Grundbuch eingetragen worden ist; die Eintragung der Kläger in das Grundbuch ist jedenfalls nicht im Jahr 1982 erfolgt. Auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Senats, wonach die Festsetzungsfrist bereits dann zu laufen beginnt, wenn dem zuständigen Finanzamt der Erwerbsvorgang in einer Weise bekanntgegeben worden ist, daß es - gegebenenfalls nach weiteren Ermittlungen - prüfen kann, ob ein grunderwerbsteuerbarer Vorgang vorliegt (vgl. BFH-Urteil vom 21. Juli 1982 II R 75/81, BFHE 136, 509, BStBl II 1983, 82), ergibt sich nichts anderes. Die Kläger haben dem FA im Kalenderjahr 1982 lediglich den Kaufvertrag vom 21. Oktober 1982 vorgelegt und in dem beim FA am 13. Dezember 1982 eingegangenen Antrag auf Grunderwerbsteuerbefreiung erklärt, daß keine noch fertigzustellenden Neubauten erworben worden seien. Damit waren die genannten Voraussetzungen für eine den Klägern zugute kommende Vorverlegung des Beginns der Festsetzungsfrist nicht erfüllt, denn die für die zutreffende Beurteilung des konkreten Erwerbsvorganges maßgeblichen Vertragsunterlagen (Treuhandvertrag, Generalunternehmervertrag, Gesellschaftsvertrag, Verträge über die technische und wirtschaftliche Baubetreuung) sind nach den Feststellungen des FG beim FA frühestens im Jahr 1983 eingegangen (BFH-Urteil vom 4. Juni 1986 II R 13/84, BFH/NV 1987, 670).
Der weiteren von den Klägern möglicherweise unter dem Gesichtspunkt der Divergenz aufgeworfenen Rechtsfrage, wann nach der Regelung des GrEStWoBauG NW die Festsetzungsfrist für den Fall der Nachversteuerung gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 2 GrEStWoBauG NW zu laufen begonnen hat, braucht der Senat nicht nachzugehen, weil ihr für die Entscheidung des Rechtsstreits aus demselben Grund keine Bedeutung zukommen kann. Denn durch die von den Klägern angefochtenen bzw. zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Grunderwerbsteuerbescheide ist nicht die Nachsteuer nach dem GrEStWoBauG NW, sondern die (ursprüngliche) Steuer nach dem GrEStG NW festgesetzt worden.
Fundstellen
Haufe-Index 417843 |
BFH/NV 1992, 556 |