Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung rechtlichen Gehörs bei Verzicht auf mündliche Verhandlung; Vertretungsbefugnis vor dem BFH
Leitsatz (NV)
- Haben die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 90 Abs. 2 FGO verzichtet, so tritt an die Stelle des Endes der mündlichen Verhandlung der Zeitpunkt des Absendens der Urteilsausfertigungen.
- Gehen im Verfahren nach § 90 Abs. 2 FGO vor dem Absenden der Urteilsausfertigungen noch Schriftsätze der Beteiligten beim Gericht ein, so müssen diese jedenfalls dann noch verwertet werden, wenn es sich nicht lediglich um eine Wiederholung oder Zusammenfassung früheren Vorbringens handelt oder um Darlegungen, die aus anderen Gründen offensichtlich unerheblich waren.
- Ein Rechtsanwalt ist auch dann zur Vertretung vor dem BFH befugt, wenn er nach § 29a Abs. 2 BRAO von der Pflicht befreit worden ist, eine Kanzlei zu unterhalten.
Normenkette
BFHEntlG Art. 1 Nr. 1; FGO §§ 62a, 90 Abs. 2, § 119 Nr. 3, § 116 Abs. 6, § 115 Abs. 2 Nrn. 2-3, Abs. 3 S. 3; BRAO § 29a Abs. 2
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist als Rechtsanwalt in Kanada tätig. Zustellungsbevollmächtigt ist sein in Deutschland lebender Sohn. Das Finanzgericht (FG) stellte dem Kläger mit Verfügung vom 26. April 1999 einen Schriftsatz des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt ―FA―) vom 22. April 1999 zur Kenntnisnahme zu; eine Äußerung wurde dem Kläger ohne Angabe einer Frist anheim gestellt.
Das FA hatte sich in dem Schriftsatz u.a. auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 30. Oktober 1997 III R 27/93 (BFH/NV 1998, 942) bezogen. Mit Schreiben vom 19. Mai 1999 bat der Kläger, ihm eine Abschrift des angeführten BFH-Urteils zuzusenden, da es ihm nicht vorläge. Dem entsprach das FG mit Schreiben vom 20. Mai 1999.
Der Kläger kündigte daraufhin mit Schreiben vom 6. Juni 1999 eine abschließende Stellungnahme bis zum Ende des Monats Juni 1999 an. Diese ging am 19. Juni 1999 beim FG ein.
Das FG hatte die Klage mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung bereits mit Urteil vom 1. Juni 1999 abgewiesen. Das Urteil wurde am 1. Juli ausgefertigt und dem Kläger am 3. Juli 1999 zugestellt.
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger geltend, das Urteil verletze ihn in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Dies stelle einen Verfahrensmangel dar. Außerdem weiche das FG vom Urteil des BFH in BFH/NV 1998, 942 ab. Das FG stelle die Nichtbeachtung der Anweisung der Oberfinanzdirektion (OFD) vom 15. April 1993 einem mechanischen Fehler gleich. Nach dem BFH-Urteil müsse es sich bei einer offenbaren Unrichtigkeit aber um eine Unrichtigkeit handeln, die ohne weitere Prüfung erkannt und berichtigt werden kann.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet.
1. Nach Art. 4 des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze (2.FGOÄndG) vom 19. Dezember 2000 (BGBl I 2000, 1757) richtet sich die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs nach den bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Vorschriften.
a) Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit der Kläger die Zulassung der Revision wegen Abweichung der Vorentscheidung von der Entscheidung des BFH in BFH/NV 1998, 942 begehrt (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO― a.F.). Er hat nicht abstrakte Rechtssätze aus dem Urteil des BFH und abstrakte entscheidungserhebliche Rechtssätze aus dem FG-Urteil entsprechend den gesetzlichen Anforderungen (§ 115 Abs. 3 Satz 3 FGO a.F.) so genau bezeichnet, dass eine Abweichung erkennbar wird (BFH-Beschlüsse vom 23. April 1992 VIII B 49/90, BFHE 167, 488, BStBl II 1992, 671, und vom 12. März 1996 VIII B 134/95, BFH/NV 1996, 691).
b) Die Nichtzulassungsbeschwerde ist jedoch zulässig soweit der Kläger Verfahrensfehler geltend macht (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO a.F.). Der Kläger hat in der dafür gesetzlich vorgeschriebenen Form (§ 115 Abs. 3 Satz 3 FGO a.F.) und innerhalb der dafür bestimmten Frist von einem Monat nach Zustellung des Urteils (§ 115 Abs. 3 Satz 1 FGO a.F.) Verfahrensfehler dargelegt, auf denen das Urteil des FG beruhen kann.
Der Kläger war befugt, sich bei Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde vor dem BFH selbst zu vertreten (Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs ―BFHEntlG―, ab 1. Januar 2001 § 62a FGO). Dass er durch Schreiben des Präsidenten des Thüringer Oberlandesgerichts (OLG) vom 23. Juli 1999 von der Pflicht, eine Kanzlei zu unterhalten, nach § 29a Abs. 2 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) befreit worden ist, steht dem nicht entgegen; er hat gleichwohl im Inland jederzeit das Recht zur Beratung und Vertretung in allen Rechtsangelegenheiten (vgl. Feuerich, Braun, Bundesrechtsanwaltsordnung, München, 1999, 4. Aufl., § 29a Anm. 10).
2. Die Beschwerde ist auch begründet. Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO a.F. liegen vor. Das FG hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt, weil es bei seiner Entscheidung den Schriftsatz des Klägers vom 18. Juni 1999 zu Unrecht nicht berücksichtigt hat.
Art. 103 Abs. 1 GG gibt den Beteiligten grundsätzlich das Recht, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern. Diesem Recht entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Beteiligten nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern bei seiner Entscheidung auch in Erwägung zu ziehen (vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 93 Anm. 1, m.w.N.; Stöcker in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 90 FGO Rz. 42, m.w.N.). Haben die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 90 Abs. 2 FGO verzichtet, so tritt an die Stelle des Endes der mündlichen Verhandlung der Zeitpunkt des Absendens der Urteilsausfertigungen. Bis zu diesem Zeitpunkt beim Gericht eingehende Schriftsätze der Beteiligten müssen noch verwertet werden (vgl. BFH-Beschluss vom 11. August 1987 VII B 165/86, BFH/NV 1988, 310). Ggf. ist die Sache neu zu beraten (vgl. Gräber/Koch, a.a.O., § 90 Anm. 19, m.w.N.).
Im Streitfall hat das FG diese Grundsätze verletzt, indem es das bereits am 1. Juni 1999 beschlossene Urteil trotz des zwischenzeitlich eingegangenen Schriftsatzes am 1. Juli 1999 ausgefertigt und anschließend zugestellt hat. Der Schriftsatz vom 18. Juni 1999 kann in dem Urteil keine Berücksichtigung gefunden haben. Es handelte sich bei dem Vorbringen des Klägers auch nicht etwa lediglich um eine Wiederholung oder Zusammenfassung früheren Vorbringens oder um Darlegungen, die aus anderen Gründen offensichtlich unerheblich waren. Der Kläger nimmt hierin, wie er in seiner Beschwerde vorträgt, Stellung zu den vom FA vorgelegten ADV-Dienstanweisungen und führt aus, die maßgebliche Tz. 17.14.9., auf die sich das FA berufe, beziehe sich nur auf den Fall eines Verlustrücktrags aus 1990, nicht aber auf den streitigen Fall eines Verlustvortrags nach 1990. Das FG hat sich hierzu auch nicht geäußert. Das FG hat damit den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt. Nach § 119 Nr. 3 FGO ist das Urteil als auf diesem Fehler beruhend anzusehen.
Es kann dahingestellt bleiben, ob ―wie der Kläger vorträgt― das FG den Anspruch auf rechtliches Gehör auch deshalb verletzte, weil der Kläger zum einen erst nach Erhalt des mit Schreiben vom 20. Mai 1999 übersandten BFH-Urteils in der Sache Stellung nehmen konnte und zum anderen das FG aus dem Schreiben des Klägers vom 19. Mai 1999 ersehen musste, dass er sich zum Schreiben des FA äußern wollte (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 1988, 310).
3. Die Aufhebung des FG-Urteils und die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung beruht auf § 116 Abs. 6 FGO i.d.F. des 2.FGOÄndG, der im Streitfall gemäß Art. 6 2.FGOÄndG anzuwenden ist.
Fundstellen
Haufe-Index 671016 |
BFH/NV 2002, 356 |
HFR 2002, 219 |